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BSG - Entscheidung vom 04.02.2020

B 3 P 9/19 B

Normen:
SGB XI a.F. § 45b
SGG § 160 Abs. 2 Nr.

BSG, Beschluss vom 04.02.2020 - Aktenzeichen B 3 P 9/19 B

DRsp Nr. 2020/4185

Gewährung von zusätzlichen Betreuungs- und Entlastungsleistungen Divergenzrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Mai 2019 wird als unzulässig verworfen.

Der Antrag der Klägerin, ihr für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im vorbezeichneten Urteil Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt T. L., B., zu gewähren, wird abgelehnt.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Normenkette:

SGB XI a.F. § 45b ; SGG § 160 Abs. 2 Nr. ;

Gründe

I

Die bei der beklagten Pflegekasse pflegeversicherte Klägerin ist mit ihrem Begehren der Gewährung von zusätzlichen Betreuungs- und Entlastungsleistungen nach § 45b SGB XI (in der vom 1.1.2015 bis 31.12.2016 geltenden Fassung des Ersten Pflegestärkungsgesetzes vom 17.12.2014, BGBl I S 2222) ohne Erfolg geblieben (zuletzt Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 9.5.2019). Die hierfür erforderliche erhebliche Einschränkung der Alltagskompetenz auf Dauer sei bei der Klägerin - so das LSG - nach dem Gutachten des im Berufungsverfahren bestellten Sachverständigen PD Dr. B. nicht anzunehmen. Maßgeblich seien bei dem Betroffenen stets die funktionalen Einschränkungen und nicht das Vorliegen einer Erkrankung an sich. Allein eine Borreliose-Erkrankung, welche vor dem eingeholten Gutachten keinesfalls gesichert gewesen sei, führe nicht stets zur Annahme einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz.

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin unter Geltendmachung einer Divergenz und von Verfahrensmängeln Beschwerde eingelegt und dafür die Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung ihres anwaltlichen Bevollmächtigten begehrt.

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil weder der geltend gemachte Zulassungsgrund der Divergenz 160 Abs 2 Nr 2 SGG ) noch der eines Verfahrensmangels 160 Abs 2 Nr 3 SGG ) den gesetzlichen Anforderungen entsprechend dargetan ist 160a Abs 2 Satz 3 SGG ). Die Verwerfung der unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

1. Wer sich zur Begründung seiner Nichtzulassungsbeschwerde auf eine Divergenz beruft, muss darlegen, dass die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Eine Divergenz ist mithin nur dann gegeben, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG , des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat. Eine Abweichung liegt folglich nicht schon dann vor, wenn die Entscheidung des LSG nicht den Kriterien entspricht, die das BSG aufgestellt hat, sondern erst dann, wenn das LSG diesen Kriterien widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Abweichung. Darüber hinaus verlangt der Zulassungsgrund der Divergenz, dass das angefochtene Urteil auf der Abweichung "beruht" 160 Abs 2 Nr 2 SGG ). Bezogen auf die Darlegungspflicht des Beschwerdeführers bedeutet dies: Die Beschwerdebegründung muss erkennen lassen, welcher abstrakte Rechtssatz in der in Bezug genommenen Entscheidung enthalten ist und welcher in der Entscheidung des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht. Ferner muss aufgezeigt werden, dass auch das BSG die oberstgerichtliche Rechtsprechung im Revisionsverfahren seiner Entscheidung zugrunde zu legen haben wird (stRspr, vgl zum Ganzen: BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 17; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 10 RdNr 4). Diesen Anforderungen entspricht das Vorbringen im Beschwerdeverfahren nicht.

Der Vortrag, es liege eine Divergenz zum Urteil des BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - vor, wonach der Prüfungsmaßstab für medizinische Gutachten der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand sein müsse und das LSG davon abgewichen sei, weil es mit seiner Entscheidung einem Sachverständigen gefolgt sei, der den aus Sicht der Klägerin aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand nicht berücksichtigt habe, genügt den aufgezeigten Darlegungserfordernissen nicht.

Es kann dahinstehen, ob damit überhaupt im vorliegenden Rechtsstreit entscheidungserhebliche "divergierende" Rechtssätze aufgezeigt werden. Die Beschwerdebegründung stützt sich schon nicht hinreichend deutlich auf sich widersprechende "abstrakte"Rechtssätze von Entscheidungen des BSG einerseits und dem Urteil des LSG andererseits. Sie lässt unberücksichtigt, dass das LSG in seinen entscheidungstragend herangezogenen Obersätzen der BSG -Rechtsprechung nicht "im Grundsätzlichen" ausdrücklich widersprochen und mit dieser Rechtsprechung nicht zu vereinbarende eigene Rechtssätze aufgestellt hat. Anders als es Sinn und Zweck einer Divergenzrüge erfordern, wird in der Beschwerde nicht das Bedürfnis nach Herbeiführung von Rechtseinheit dargelegt. Die Beschwerdeführerin subsumiert vielmehr ein aus ihrer Sicht fehler- bzw mangelhaftes Gutachten unter die Rechtsprechung des BSG zu den rechtlichen Anforderungen an Sachverständigengutachten. Eine solche Argumentation erfüllt nicht die Darlegungsanforderungen für eine Rechtsprechungsabweichung iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG (stRspr, vgl nur BSG Beschluss vom 17.6.2009 - B 6 KA 6/09 B - juris RdNr 16 mwN). Die Behauptung, das Berufungsurteil sei inhaltlich unrichtig, weil es auf einem nicht dem neusten wissenschaftlichen Standard entsprechenden Gutachten beruhe und damit höchstrichterliche Rechtsprechung missachte, führt nicht zur Zulassung der Revision wegen Divergenz. Selbst unterstellt, dass das Gutachten an Mängeln litte, wollte sich das LSG vielmehr nach seinem eigenen Verständnis im Rahmen der bereits vorliegenden Rechtsprechung des BSG halten. Die Würdigung der Aussagen eines Gutachtens unterfällt dagegen dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung 128 Abs 1 Satz 1 SGG ). Diese entzieht § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG indes der Beurteilung durch das BSG im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde.

2. Ein Verfahrensmangel des LSG 160 Abs 2 Nr 3 SGG ) wird von der Klägerin ebenfalls nicht formgerecht dargelegt. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG ), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels 160a Abs 2 Satz 3 SGG ) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung von § 109 und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen formellen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

a) Die Klägerin trägt insoweit vor, dass Tatsachengerichte den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft bei ihrer Entscheidung zugrunde zu legen hätten und mangels Befolgung dieses Grundsatzes eine prozessordnungskonforme Tatsachenfeststellung unterblieben sei. Das LSG sei verpflichtet gewesen, weitere Aufklärung zu betreiben. Das Unterlassen dieser Verpflichtung führe zu einem Verfahrensfehler.

Wird damit der Sache nach ein Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht 103 SGG ) gerügt, muss die Beschwerdebegründung hierzu folgende Punkte enthalten: (1) Bezeichnung eines für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrags, dem das LSG nicht gefolgt ist, (2) Wiedergabe der Rechtsauffassung des LSG, aufgrund derer bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen und zur weiteren Sachaufklärung drängen müssen, (3) Angabe des voraussichtlichen Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme und (4) Schilderung, dass und warum die Entscheidung des LSG auf einer angeblich fehlerhaft unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann, das LSG mithin bei Kenntnis des behaupteten Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme von seinem Standpunkt aus zu einem anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis hätte gelangen können (stRspr zum Ganzen zB BSG Beschluss vom 12.12.2003 - SozR 4-1500 § Nr 3 RdNr 5 mwN).

Diesen Erfordernissen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Die Klägerin zeigt bereits nicht auf, dass sie einen entsprechenden (prozessordnungsgemäßen) Beweisantrag gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG gestellt und bis zuletzt vor dem Berufungsgericht aufrechterhalten habe. Ein anwaltlich vertretener Beteiligter kann aber nur dann mit der Rüge der unzureichenden Sachaufklärung gehört werden, wenn er diesen bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung durch entsprechenden Hinweis zu Protokoll aufrechterhalten hat oder das Gericht den Beweisantrag in seinem Urteil wiedergibt (stRspr, vgl BSG SozR 4-1500 § 160 Nr RdNr mwN). Nach Sinn und Zweck des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG soll die Sachaufklärungsrüge die Revisionsinstanz nämlich nur dann eröffnen, wenn das Tatsachengericht vor seiner Entscheidung durch einen Beweisantrag ausdrücklich darauf hingewiesen worden ist, dass ein Beteiligter die Sachaufklärungspflicht des Gerichts 103 SGG ) noch nicht als erfüllt ansieht (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9 S 21; Nr 31 S 52). Daran fehlt es vorliegend. Nur das Übergehen eines im Berufungsverfahren bis zuletzt aufrechterhaltenen Beweisantrages könnte einen Verfahrensfehler in Bezug auf eine vermeintlich mangelnde Tatsachenfeststellung mit darauf beruhender fehlender Würdigung medizinischer Grundsätze darstellen. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat insoweit zwar auf eine Passage aus einem Schriftsatz vom 12.11.2018 hingewiesen. Er hat aber weder behauptet, solch einen Beweisantrag bis zur Antragstellung in der mündlichen Verhandlung beim LSG am 9.5.2019 aufrechterhalten zu haben noch ist sonst ersichtlich, dass das LSG einen solchen übergangen hat, weil er weder in der Sitzungsniederschrift des LSG noch im LSG-Urteil erwähnt wird, sondern nur ein Sachantrag.

b) Ebenso wenig ist nach dem Vorbringen der Klägerin erkennbar, warum die unterbliebene Anhörung des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung eine Gehörsverletzung der Klägerin darstellt. Unabhängig von der nach § 411 Abs 3 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts stehenden Möglichkeit, das Erscheinen des Sachverständigen zum Termin von Amts wegen anzuordnen, steht den Beteiligten gemäß § 116 Satz 2 SGG , § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 397 , 402 , 411 Abs 4 ZPO das Recht zu, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die sie zur Aufklärung der Sache für dienlich erachten (BVerfG vom 3.2.1998 - 1 BvR 909/94 - NJW 1998, 2273 - juris RdNr 11; vgl auch BSG vom 12.12.2006 - B 13 R 427/06 B - juris RdNr 7). Insbesondere muss ein Beschwerdeführer aufgrund des Charakters einer Gehörsrüge auch alles getan haben, um eine Anhörung des Sachverständigen zu erreichen (vgl allgemein zu dieser Voraussetzung: BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22 S 35; vgl auch BSGE 68, 205 , 210 = SozR 3-2200 § 667 Nr 1 S 6). Dieser Obliegenheit ist die Klägerin erkennbar nicht nachgekommen, denn es fehlt im Berufungsverfahren im oben dargestellten Sinne an einem entsprechenden prozessordnungsgemäßen Beweisantrag unter Angabe eines konkreten Beweisthemas und wiederum des voraussichtlichen Beweisergebnisses. Nachdem das LSG bereits nach einem Ergänzungsgutachten auf Antrag der Klägerin eine erneute Stellungnahme des gerichtlichen Sachverständigen eingeholt hatte, war es bereits dem Alternativ-Antrag der Klägerin auf "erneute Stellungnahme oder Anhörung des Sachverständigen im Termin" (Schriftsatz vom 12.11.2018) gefolgt. Wenn darüber hinaus noch eine weitere Anhörung des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung begehrt wurde, so hätte dies erneut unter Beachtung oben genannter Vorgaben beantragt werden müssen, spätestens in der mündlichen Verhandlung beim LSG. Eine Anhörung des Sachverständigen im Termin, dessen Gutachten die Klägerin in mehrfacher Hinsicht kritisiert, hat sie bereits nach ihrem eigenen Vortrag nicht erneut beantragt. Soweit sie im Übrigen umfangreich zu vermeintlichen Widersprüchen des vom LSG herangezogenen Gutachtens und zu angeblichen Schwächen der Argumentation des LSG vorträgt, wendet sie sich erneut gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts (vgl aber wiederum § 128 Abs 1 Satz 1 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG ).

Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (des Beteiligten) wird folglich nicht durch eine mangelnde Anhörung des Sachverständigen untermauert. Die Gewährung rechtlichen Gehörs bedeutet nicht, dass das Gericht der Entscheidung allein den von einem Beteiligten vorgetragenen Sachverhalt zugrunde legen oder sich seiner rechtlichen Bewertung anschließen müsste (vgl BSG Beschluss vom 17.9.2015 - B 13 R 290/15 B - juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 9.5.2011 - B 13 R 112/11 B - juris RdNr 9, jeweils mwN).

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG ).

3. Nach den Erwägungen unter 1. und 2. kann der Klägerin auch keine PKH unter Beiordnung ihres anwaltlichen Bevollmächtigten gewährt werden.

Nach § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 114 , 121 ZPO erhält ein bedürftiger Beteiligter, der die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Vorliegend kann offenbleiben, ob die Klägerin nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen in der Lage wäre, die Kosten für die Inanspruchnahme eines Rechtsanwalts ganz oder teilweise selbst aufzubringen. PKH kann ihr jedenfalls nicht bewilligt werden, weil ihre konkrete bereits durch einen postulationsfähigen Bevollmächtigten erhobene und im einzelnen begründete Nichtzulassungsbeschwerde, für die PKH begehrt wird, nach den obigen Ausführungen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.

4. Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG .

Vorinstanz: LSG Berlin-Brandenburg, vom 09.05.2019 - Vorinstanzaktenzeichen L 30 P 46/17
Vorinstanz: SG Potsdam, vom 06.07.2017 - Vorinstanzaktenzeichen S 11 P 52/15