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BSG - Entscheidung vom 09.02.2017

B 9 SB 83/16 B

Normen:
SGG § 128 Abs. 2
SGG § 62
GG Art. 103 Abs. 1

BSG, Beschluss vom 09.02.2017 - Aktenzeichen B 9 SB 83/16 B

DRsp Nr. 2017/10002

Beibehaltung eines Grades der Behinderung Heilungsbewährung Verfahrensrüge Verletzung rechtlichen Gehörs Überraschungsentscheidung

1. § 62 SGG konkretisiert den verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG ); die Vorschrift soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht zur Kenntnis genommen und in seine Erwägungen mit einbezogen wird. 2. Das Gericht muss jedoch nicht ausdrücklich jedes Vorbringen der Beteiligten bescheiden; ein Verstoß gegen die Pflicht zur Berücksichtigung von Vorbringen ist nur dann anzunehmen, wenn sich dieses aus den besonderen Umständen des Falles ergibt, z.B. wenn ein Gericht das Gegenteil des Vorgebrachten - ohne entsprechende Beweisaufnahme - annimmt, oder den Vortrag eines Beteiligten als nicht existent behandelt, oder wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingeht, sofern der Tatsachenvortrag nach der Rechtsauffassung des Gerichts nicht unerheblich ist. 3. Art. 103 Abs. 1 GG schützt indes nicht davor, dass ein Gericht die Rechtansicht eines Beteiligten nicht teilt. 4. Fehler der Rechtsanwendung sind für sich allein kein Revisionszulassungsgrund.

Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 29. September 2016 wird als unzulässig verworfen.

Der Beklagte hat der Klägerin die für das Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Normenkette:

SGG § 128 Abs. 2 ; SGG § 62 ; GG Art. 103 Abs. 1 ;

Gründe:

I

Mit Urteil vom 29.9.2016 hat das LSG Berlin-Brandenburg einen Anspruch der Klägerin auf Beibehaltung des bei ihr festgestellten Grades der Behinderung (GdB) von 50 wegen der Funktionsbeeinträchtigung "Eierstockkarzinom in Heilungsbewährung, Verlust der Gebärmutter und beider Eierstöcke" (Bescheid vom 11.10.2004) bejaht, weil der Aufhebungsbescheid des Beklagten vom 4.11.2009 entgegen § 48 Abs 1 S 1 SGB X den früheren Festsetzungsbescheid bereits für die Vergangenheit und nicht für die Zukunft aufgehoben habe. Denn nach dem Verfügungsteil des Bescheides vom 4.11.2009 sei die Aufhebungswirkung am selben Tage eingetreten, während nach § 39 Abs 1 S 1 SGB X ein Verwaltungsakt erst zu dem Zeitpunkt wirksam werde, in dem er bekanntgegeben werde, mithin zu einem späteren Zeitpunkt. Ein Bescheid, mit dem eine begünstigende Feststellung im Schwerbehindertenverfahren ganz oder teilweise aufgehoben werde, sei nicht derart in zeitlicher Hinsicht teilbar, dass einer rechtswidrig früh einsetzenden Wirkung durch Aufhebung des Bescheides nur für einen Teilzeitraum Rechnung getragen und der Bescheid im Übrigen aufrechterhalten werden könne (Hinweis im Urteil: aA 11. Senat des LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.7.2015 - L 11 SB 157/11).

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Beklagte beim BSG Beschwerde eingelegt und diese mit dem Bestehen eines Verfahrensfehlers (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG ) in Form der Verletzung des rechtlichen Gehörs begründet.

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten ist unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Keiner der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe ist ordnungsgemäß dargetan worden (§ 160a Abs 2 S 3 SGG ).

Der Beklagte bezeichnet den von ihm vorgebrachten Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG ) nicht hinreichend. Wer sich bei einer Nichtzulassungsbeschwerde auf den Zulassungsgrund des Verfahrensfehlers stützt, muss zu seiner Bezeichnung (§ 160a Abs 2 S 3 SGG ) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (stRspr, vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24 , 36; BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 13 RdNr 4 mwN). Geltend gemacht werden kann nur ein Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemacht Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

Soweit der Beklagte eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG , §§ 62 , 128 Abs 2 SGG ) durch das LSG darin sieht, dass sich das LSG in seiner angefochtenen Entscheidung gegen die zeitliche Teilbarkeit eines Bescheides, mit dem eine begünstigende Feststellung im Schwerbehindertenrecht ganz oder teilweise aufgehoben werde, ausgesprochen habe, genügt sein Vorbringen nicht den Darlegungserfordernissen. § 62 SGG konkretisiert den verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG ). Die Vorschrift soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (s § 128 Abs 2 SGG ; vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12; BVerfGE 84, 188 , 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht zur Kenntnis genommen und in seine Erwägungen mit einbezogen wird (BVerfGE 22, 267 , 274; 96, 205, 216 f). Das Gericht muss jedoch nicht ausdrücklich jedes Vorbringen der Beteiligten bescheiden. Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Berücksichtigung von Vorbringen ist nur dann anzunehmen, wenn sich dieses aus den besonderen Umständen des Falles ergibt (BVerfGE aaO), zB wenn ein Gericht das Gegenteil des Vorgebrachten - ohne entsprechende Beweisaufnahme - annimmt, oder den Vortrag eines Beteiligten als nicht existent behandelt (vgl BVerfGE 22, 267 , 274), oder wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingeht, sofern der Tatsachenvortrag nach der Rechtsauffassung des Gerichts nicht unerheblich ist (BVerfGE 86, 133 , 146). Art 103 Abs 1 GG schützt indes nicht davor, dass ein Gericht die Rechtansicht eines Beteiligten nicht teilt (BVerfGE 64, 1 , 12; 76, 93, 98).

Der Beklagte bezieht sich in seiner Beschwerdebegründung im Wesentlichen auf seinen Vortrag im Schriftsatz vom 16.9.2016, mit dem er ausdrücklich auf den Inhalt der Rechtsprechung des 11. Senats des LSG Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 23.7.2015 ( L 11 SB 157/11) hingewiesen habe. Zwar erwähne der 13. Senat in seiner angefochtenen Entscheidung dieses Urteil, sodass davon ausgegangen werden müsse, dass jedenfalls die Rechtsprechung des 11. Senats zur Kenntnis genommen worden sei. Es fehle aber jeder Anhaltspunkt dafür, dass der 13. Senat des LSG in seiner angefochtenen Entscheidung mangels inhaltlicher Auseinandersetzung die gegenteilige Rechtsauffassung des Beklagten im Schriftsatz vom 16.9.2016 entsprechend der Rechtsprechung des 11. Senats des LSG berücksichtigt habe, wonach auch nach Aufhebung des entziehenden Verwaltungsaktes nur in dem für den Zeitraum vor Bekanntgabe wirkenden Teil eine Unwirksamkeit bestehe. Mit diesen Ausführungen hat es der Beklagte allerdings versäumt darzulegen, welcher sachgerechte Vortrag zum Prozessstoff keine Beachtung gefunden haben soll. Der Beklagte kritisiert nicht das Übergehen eines Tatsachenvortrags oder einer Rechtsauffassung durch das LSG in seiner angefochtenen Entscheidung, sondern lediglich dessen - aus seiner Sicht unzutreffende - Rechtsanwendung. Die behaupteten Fehler der Rechtsanwendung sind für sich allein jedoch kein Zulassungsgrund (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7). Wie oben bereits ausgeführt schützt Art 103 Abs 1 GG nicht vor einer anderen Rechtsansicht des Gerichts. Darüber hinaus führt der Beklagte aber auch selber aus, dass das LSG die gegenteilige Rechtsauffassung, welche sich insbesondere in der Rechtsprechung des 11. Senats des LSG Berlin-Brandenburg manifestiere, ausweislich des in der angefochtenen Entscheidung enthaltenen Zitats dieser Fundstelle zur Kenntnis genommen zu habe. Sofern der Beklagte sinngemäß auch eine Überraschungsentscheidung rügen wollte, gilt nichts Anderes. Auch insoweit bedarf es der Darlegung, welches entscheidungserhebliche Vorbringen dadurch verhindert worden sei und inwieweit die angefochtene Entscheidung hierauf beruhen kann (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 36). Diese Voraussetzungen hat der Beklagte - wie ausgeführt - nicht erfüllt. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das Prozessgericht grundsätzlich nicht, die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte vorher mit den Beteiligten zu erörtern (vgl BSG SozR 3-1500 § 112 Nr 2 S 3 mwN). Einen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte zuvor mit den Beteiligten zu erörtern, gibt es nicht ( BSG SozR 3-1500 § 112 Nr 2 S 3 = NJW 2000, 3590 , 3591; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1 S 3). Abgesehen davon trägt der Beklagte vor, er sei vorab darauf hingewiesen worden, dass der Senat mit Urteil vom 12.5.2016 ( L 13 SB 229/14) auf die vom Beklagten erteilte Entscheidung des 11. Senats bereits eingegangen sei.

Von einer weitergehenden Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG ).

Die Verwerfung der Beschwerde erfolgt ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 SGG ).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG .

Vorinstanz: LSG Berlin-Brandenburg, vom 29.09.2016 - Vorinstanzaktenzeichen L 13 SB 202/14
Vorinstanz: SG Potsdam, - Vorinstanzaktenzeichen S 9 SB 178/11