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BGH - Entscheidung vom 15.12.2020

XIII ZB 28/20

Normen:
AufenthG § 15 Abs. 1
AufenthG § 15 Abs. 5 S. 1

BGH, Beschluss vom 15.12.2020 - Aktenzeichen XIII ZB 28/20

DRsp Nr. 2021/2834

Verlängerung der Anordnung der Haft zur Sicherung der Zurückweisung des Betroffenen nach Italien; Annahme einer erheblichen Fluchtgefahr durch das Verhalten des Betroffenen (hier: Vereitelung des Überstellungsversuchs)

Eine Haft kann auch zur Sicherung einer Zurückweisung an einer Binnengrenze der Europäischen Union angeordnet werden, wenn bei einer geplanten Überstellung in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union der Haftgrund der erheblichen Fluchtgefahr vorliegt. Ein konkreter Anhaltspunkt für das Vorliegen von Fluchtgefahr kann auch ein Verhalten des Betroffenen sein, das den Ausschluss von der Beförderung in den Zielstaat der Rückführung durch den verantwortlichen Luftfahrzeugführer zur Folge hat.

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Ingolstadt - 2. Zivilkammer - vom 3. März 2020 wird auf Kosten der Betroffenen zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Normenkette:

AufenthG § 15 Abs. 1 ; AufenthG § 15 Abs. 5 S. 1;

Gründe

I. Die Betroffene, eine nigerianische Staatsangehörige, reiste am 13. März 2019 mit einem Fernreisezug von Österreich nach Deutschland. In Höhe von Kiefersfelden wurde sie durch Beamte der Bundespolizei im Zug kontrolliert und konnte keine gültigen Einreisedokumente vorweisen. Die beteiligte Behörde erteilte ihr daraufhin mit Bescheid vom 14. März 2019 eine Zurückweisung nach § 15 Abs. 1 AufenthG .

Auf Antrag der beteiligten Behörde ordnete das Amtsgericht zunächst Haft zur Sicherung der Zurückweisung der Betroffenen nach Italien bis zum 10. Mai 2019 an. Nachdem eine für den 7. Mai 2019 geplante Überstellung nach Italien gescheitert war, verlängerte das Amtsgericht die angeordnete Haft bis zum 23. Mai 2019.

Mit Beschluss vom 17. Mai 2019 hat das Amtsgericht die Haft nach persönlicher Anhörung der Betroffenen bis zum 10. Juni 2019 verlängert. Der Verfahrensbevollmächtigte der Betroffenen hatte zuvor mitgeteilt, an dem Anhörungstermin verhindert zu sein. Die Beschwerde der Betroffenen, mit der sie nach erfolgter Überstellung nach Italien am 7. Juni 2019 die Feststellung ihrer Rechtsverletzung begehrt, hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt die Betroffene ihren Feststellungsantrag weiter.

II. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.

1. Das Beschwerdegericht hält die Verlängerung der nach § 15 Abs. 5 AufenthG angeordneten Haft für rechtmäßig. Gegen die Betroffene sei eine Zurückweisungsentscheidung ergangen. Die Haftanordnung sei auch verhältnismäßig gewesen, da nicht davon habe ausgegangen werden können, die Betroffene werde freiwillig nach Italien zurückkehren. Das Vorliegen eines Haftgrundes sei nicht erforderlich gewesen, insbesondere sei Art. 28 Abs. 2 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-VO) nicht anwendbar. Schließlich sei die Haftanordnung nicht wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens rechtswidrig gewesen. Der Mitteilung des Verfahrensbevollmächtigten der Betroffenen habe nicht entnommen werden können, dass dieser eine Aufhebung oder Verlegung des Anhörungstermins habe beantragen wollen.

2. Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Überprüfung im Ergebnis stand.

a) Wie der Senat mit Beschluss vom heutigen Tag (vgl. XIII ZB 133/19, z. Veröff. best.) entschieden hat, kann Haft nach § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG auch zur Sicherung einer Zurückweisung an einer Binnengrenze der Europäischen Union angeordnet werden, wenn bei einer - wie hier - geplanten Überstellung in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union zusätzlich zu den in § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG genannten Voraussetzungen der Haftgrund der (erheblichen) Fluchtgefahr nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO i.V.m. § 2 Abs. 14 , § 62 Abs. 3a und 3b AufenthG (bzw. in Altfällen wie hier i.V.m. § 2 Abs. 15 Satz 1 und 2 , § 2 Abs. 14 AufenthG in der bis zum 20. August 2019 gültigen Fassung, fortan: aF) vorliegt.

b) Danach erweist sich die Haftanordnung als rechtmäßig.

aa) Die materiell-rechtliche Grundlage für die nach § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG anzuordnende Sicherungshaft besteht in der der Betroffenen mit Bescheid vom 14. März 2019 erteilten Zurückweisung nach § 15 Abs. 1 bis 4 AufenthG . Von der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung haben die Haftgerichte auszugehen.

(1) Zwar bestand im Zeitpunkt und am Ort der Kontrolle der Betroffenen keine nach Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. c Schengener Grenzkodex und § 13 AufenthG i.V.m. § 61 Abs. 1 BPolG zugelassene Grenzübergangsstelle, weswegen die Betroffene mit Überschreiten der Grenze nach Art. 22 Schengener Grenzkodex, § 13 Abs. 2 Satz 3 AufenthG eingereist war (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Februar 2020 - XIII ZB 65/19, InfAuslR 2020, 385 Rn. 12). Dem steht nicht entgegen, dass bei Kontrollen in einem fahrenden Zug nach Nr. 13.2.7 Satz 1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz (vom 26. Oktober 2009, GMBl. S. 878) eine Einreise erst dann erfolgt, wenn sich der Zug auf deutschem Hoheitsgebiet befindet, die grenzpolizeiliche Kontrolle im Zug beendet wurde und die Kontrollbeamten den Zug verlassen haben. Denn diese Vorschrift hat keine Rechtsnormqualität. Sie stellt lediglich eine verwaltungsinterne Richtlinie zur Anwendung des § 13 Abs. 2 AufenthG dar (vgl. BVerwG, NVwZ 2015, 827 Rn. 24). Soweit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Juni 2017 - V ZB 127/16, InfAuslR 2017, 345 Rn. 11) etwas anderes zu entnehmen sein sollte, hält der nunmehr zuständige XIII. Zivilsenat daran nicht fest.

(2) Allerdings ist es nach der Aufgabenverteilung zwischen der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der ordentlichen Gerichtsbarkeit, von Fällen offensichtlicher Unrichtigkeit abgesehen, allein Aufgabe der Verwaltungsgerichte, die Rechtmäßigkeit einer Zurückweisung nach § 15 Abs. 1 bis 4 AufenthG oder einer Einreiseverweigerung nach § 18 Abs. 2 AsylG zu überprüfen. Die Haftgerichte haben deshalb vorbehaltlich abweichender - hier nicht gegebener - verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen von der Rechtmäßigkeit der Zurückweisung oder Einreiseverweigerung auszugehen (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 81/19, juris Rn. 12 und 14 mwN).

bb) Die in den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen rechtfertigen auch die Annahme einer erheblichen Fluchtgefahr im Sinne von Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO i.V.m. § 2 Abs. 15 Satz 1, § 2 Abs. 14 Nr. 6 AufenthG aF.

(a) Ein sonstiger konkreter Anhaltspunkt für das Vorliegen von Fluchtgefahr gemäß § 2 Abs. 14 Nr. 6 AufenthG aF kann auch ein Verhalten des Betroffenen sein, das den Ausschluss von der Beförderung in den Zielstaat der Rückführung durch den verantwortlichen Luftfahrzeugführer zur Folge hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 15. September 2016 - V ZB 69/16, FGPrax 2016, 279 Rn. 6, und vom 24. Juni 2020 - XIII ZB 6/19, juris Rn. 16). So liegt der Fall hier.

(b) Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts hat die Betroffene einen für den 7. Mai 2019 geplanten Überstellungsversuch nach Italien vereitelt, indem sie am Flughafen lautstark schrie und sich weigerte weiterzugehen, woraufhin der verantwortliche Luftfahrzeugführer ihre Beförderung ablehnte. Durch dieses Verhalten habe sie gezeigt, dass sie sich einer Überstellung nicht freiwillig stellen werde, und daher die erhebliche Gefahr bestehe, dass sie sich einer erneuten Überstellung durch Flucht oder Untertauchen entziehen werde. Diese tatrichterliche Würdigung unterliegt einer Rechtskontrolle nur dahin, ob die verfahrensfehlerfrei festgestellten Tatsachen die aus ihnen gezogenen Schlüsse als möglich erscheinen lassen (vgl. BGH, Beschluss vom 16. März 2017 - V ZB 61/16, juris Rn. 2 mwN), und ist insoweit nicht zu beanstanden.

c) Die Verfahrensweise des Amtsgerichts hat entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde auch nicht das Recht der Betroffenen auf ein faires Verfahren verletzt.

aa) Der Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert jedem Betroffenen das Recht, sich in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und diesen zu der Anhörung hinzuzuziehen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Juli 2014 - V ZB 32/14, InfAuslR 2014, 442 Rn. 8, und vom 12. November 2019 - XIII ZB 34/19, juris Rn. 7). Erfährt oder weiß das Gericht, dass der Betroffene einen Rechtsanwalt hat, muss es dafür Sorge tragen, dass dieser von dem Termin in Kenntnis gesetzt und ihm die Teilnahme an der Anhörung ermöglicht wird; gegebenenfalls ist unter einstweiliger Anordnung einer nur kurzen Haft nach § 427 FamFG ein neuer Termin zu bestimmen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. Oktober 2018 - V ZB 69/18, InfAuslR 2019, 152 Rn. 5, und vom 7. April 2020 - XIII ZB 84/19, juris Rn. 9 f.). Vereitelt das Gericht durch seine Verfahrensgestaltung eine Teilnahme des Bevollmächtigten an der Anhörung, führt dies ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haft; es kommt in diesem Fall nicht darauf an, ob die Anordnung der Haft auf diesem Fehler beruht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. April 2017 - V ZB 59/16, InfAuslR 2017, 292 Rn. 7, und vom 12. November 2019 - XIII ZB 34/19, juris Rn. 7).

bb) Diesen Anforderungen ist das Amtsgericht gerecht geworden. Es hat den Verfahrensbevollmächtigten der Betroffenen unter Übersendung des Haftantrags am 15. Mai 2019 über den Anhörungstermin unterrichtet. Der Verfahrensbevollmächtigte hat zwar mit Schriftsatz vom 16. Mai 2019 mitgeteilt, dass er den Termin auf Grund entgegenstehender, unaufschiebbarer Mandantenbesprechungen nicht wahrnehmen könne. Das Beschwerdegericht hat diese Erklärung jedoch rechtsfehlerfrei nicht als Antrag auf Verlegung des Anhörungstermins ausgelegt, weshalb die Betroffene ohne ihren Verfahrensbevollmächtigten angehört werden durfte.

(1) Ist ein Verfahrensbevollmächtigter an dem geplanten Anhörungstermin verhindert, ist das Haftgericht grundsätzlich nicht von Amts wegen, sondern nur auf Antrag zu einer Verlegung des Termins verpflichtet (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZA 2/10, juris Rn. 10). Die Stellung eines solchen Antrags wäre dem Verfahrensbevollmächtigten hier auch möglich gewesen. Denn dieser hat in seinem Schriftsatz vom 16. Mai 2019 ausdrücklich beantragt, den Haftantrag zurückzuweisen und der Betroffenen Verfahrenskostenhilfe unter seiner Beiordnung zu bewilligen. Demnach kann nicht angenommen werden, dass der Verfahrensbevollmächtigte aus zeitlichen oder sonstigen Gründen gehindert gewesen ist, einen Verlegungsantrag zu stellen. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zu dem Sachverhalt der von der Rechtsbeschwerde zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 10. Juli 2014 - V ZB 32/14, InfAuslR 2014, 442 ). Dort wurde der Verfahrensbevollmächtigte erst etwa 3 1/2 Stunden vor dem Anhörungstermin benachrichtigt, woraufhin dieser anschließend lediglich mitteilte, das Gericht nicht mehr rechtzeitig vor, sondern erst 2 1/4 Stunden nach dem Anhörungstermin erreichen zu können (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Juli 2014 - V ZB 32/14, InfAuslR 2014, 442 Rn. 8).

(2) Dem Auslegungsergebnis des Beschwerdegerichts steht auch nicht der Einwand der Rechtsbeschwerde entgegen, es hätte der Mitteilung über die Verhinderung nicht bedurft, wenn der Verfahrensbevollmächtigte an der Anhörung nicht hätte teilnehmen wollen. Denn der im selben Schriftsatz gestellte Sachantrag und der zur Begründung nachfolgende vollumfängliche Verweis auf einen früheren Schriftsatz rechtfertigten die Annahme, dass eine Teilnahme an der Anhörung nicht erfolgen und eine Entscheidung in der Hauptsache herbeigeführt werden sollte. Dieses Auslegungsergebnis findet Bestätigung darin, dass der Verfahrensbevollmächtigte bereits vor dem ersten Anhörungstermin am 5. April 2019 einen Schriftsatz mit vergleichbarem Inhalt an das Amtsgericht übersandt hatte. Das Amtsgericht hatte anschließend die Betroffene ohne die Anwesenheit des Verfahrensbevollmächtigten angehört und eine Entscheidung in der Hauptsache getroffen, was dieser insoweit nicht beanstandet hat. Hingegen hatte der Verfahrensbevollmächtigte vor der zweiten Anhörung am 9. Mai 2019 ausdrücklich einen Antrag auf Aufhebung des Anhörungstermins gestellt. Diese Vorgehensweise des Verfahrensbevollmächtigten rechtfertigt - wovon im Ergebnis auch das Beschwerdegericht ausgegangen ist - den Schluss, dass der Verfahrensbevollmächtigte einen solchen Antrag auch hier gestellt hätte, wenn er an der Anhörung hätte teilnehmen wollen. Jedenfalls kann nicht angenommen werden, dass das Amtsgericht durch seine Verfahrensgestaltung eine Teilnahme des Verfahrensbevollmächtigten an der Anhörung vereitelt hat.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1, § 83 Abs. 2 FamFG . Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG .

Vorinstanz: AG Ingolstadt, vom 17.05.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 2 XIV 201/19
Vorinstanz: LG Ingolstadt, vom 03.03.2020 - Vorinstanzaktenzeichen 21 T 1715/19