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BGH - Entscheidung vom 15.12.2020

XIII ZB 70/19

Normen:
FamFG § 417 Abs. 2 S. 2 Nr. 3-5
AufenthG § 62 Abs. 3 S. 3
AufenthG a.F. § 72 Abs. 4 S. 3-5

BGH, Beschluss vom 15.12.2020 - Aktenzeichen XIII ZB 70/19

DRsp Nr. 2021/2945

Anordnung der Haft zur Sicherung der Überstellung des Betroffenen nach Italien; Entbehrlichkeit des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft durch Bestehen eines geringen Strafverfolgungsinteresses (hier: Diebstahl als Straftat mit geringem Unrechtsgehalt)

Ein Haftantrag ist nur zulässig, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungs- oder Überstellungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung oder Überstellung und zur notwendigen Haftdauer.

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 10. Zivilkammer des Landgerichts Bremen vom 7. Februar 2019 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Normenkette:

FamFG § 417 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 -5; AufenthG § 62 Abs. 3 S. 3; AufenthG a.F. § 72 Abs. 4 S. 3-5;

Gründe

I. Der Betroffene, ein gambischer Staatsangehöriger, reiste zunächst nach Italien, wo er einen Asylantrag stellte. Am 15. Juni 2017 reiste er in das Bundesgebiet ein. Seinen Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit bestandskräftigem Bescheid vom 5. März 2018 als unzulässig ab und ordnete seine Überstellung nach Italien an. Seit dem 19. Juli 2018 war der Betroffene unbekannten Aufenthalts und wurde in der Folge zur Fahndung ausgeschrieben.

Nach seiner Festnahme am 1. Januar 2019 hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 2. Januar 2019 auf Antrag der beteiligten Behörde Haft zur Sicherung der Überstellung des Betroffenen nach Italien bis zum 13. Februar 2019 angeordnet. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt der Betroffene die Feststellung, durch die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Beschwerdegerichts in seinen Rechten verletzt worden zu sein.

II. Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.

1. Das Beschwerdegericht hält den Haftantrag für zulässig. Er enthalte ausreichende Darlegungen zu den Voraussetzungen und zur Durchführbarkeit der Überstellung. Das erforderliche staatsanwaltschaftliche Einvernehmen liege vor. Die Staatsanwaltschaft Bremen habe ihr Einvernehmen zu der Überstellung erteilt. Eines Einvernehmens der Staatsanwaltschaft Osnabrück bedürfe es nach § 72 Abs. 4 Satz 3 bis 5 AufenthG in der bis zum 20. August 2019 geltenden Fassung (im Folgenden: aF) nicht, da es sich bei dem dem Betroffenen vorgeworfenen Diebstahl am 3. März 2018 in deren Bezirk um eine begleitende Straftat mit geringem Unrechtsgehalt handle.

2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung im Ergebnis stand.

a) Zu Recht geht das Beschwerdegericht von einem zulässigen Haftantrag aus.

aa) Ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungs- oder Überstellungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung oder Überstellung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG ). Ergibt sich aus dem Haftantrag oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne Weiteres ein laufendes und nicht offensichtlich zustimmungsfreies Ermittlungsverfahren, ist der Haftantrag im Hinblick auf die von § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG geforderten Darlegungen zu den Voraussetzungen und zur Durchführbarkeit der Abschiebung oder Überstellung nur zulässig, wenn die Behörde dieses mögliche Abschiebungs- oder Überstellungshindernis ausräumt. Dafür genügt es in der Regel, wenn die Behörde darlegt, das Einvernehmen liege vor, sei entbehrlich oder werde bis zum vorgesehenen Abschiebungs- oder Überstellungstermin voraussichtlich vorliegen oder entbehrlich geworden sein (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. Februar 2020 - XIII ZB 15/19, InfAuslR 2020, 242 Rn. 19, und vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 48/19, juris Rn. 7).

bb) Diesen Anforderungen genügt der Haftantrag der beteiligten Behörde. Dort wird dargelegt, es seien keine laufenden Ermittlungsverfahren anhängig, die der Überstellung entgegenstehen. Auch aus den dem Haftantrag beigefügten Unterlagen ergeben sich keine solchen Ermittlungsverfahren. Dass die beteiligte Behörde dem Amtsgericht im Anschluss an die Antragstellung per E-Mail mitgeteilt hat, bei der Staatsanwaltschaft Bremen werde ein Ermittlungsverfahren gegen den Betroffenen geführt, führt nicht zur Unzulässigkeit des Haftantrags. Dieser Umstand war aber bei der vom Haftrichter anzustellenden Prognose, ob die Überstellung innerhalb der angeordneten Haftzeit gelingen werde, zu berücksichtigen.

b) Amtsgericht und Beschwerdegericht haben rechtsfehlerfrei angenommen, dass die Überstellung innerhalb der angeordneten Haftzeit bis zum 13. Februar 2019 gelingen werde.

aa) Anders als die Rechtsbeschwerde meint, ergibt sich aus den von ihr in Bezug genommenen, nach der Haftantragstellung dem Amtsgericht erteilten Auskünften nicht, dass außer dem Ermittlungsverfahren, zu dem die Staatsanwaltschaft Bremen ihr Einvernehmen erteilt hatte, weitere Ermittlungsverfahren bei der Staatsanwaltschaft Bremen offen waren.

Die Polizei übermittelte danach der beteiligten Behörde eine Vorgangsliste mit dem Hinweis, bei einem Teil der vermerkten Taten sei der Betroffene lediglich Zeuge und bei den aufgeführten ausländerrechtlichen Straftaten seien keine Strafanzeigen gefertigt worden. Zu den von der Rechtsbeschwerde angesprochenen Straftaten nach § 113 und § 265a StGB , zu denen jeweils ein Aktenzeichen der Staatsanwaltschaft Bremen angegeben war, teilte die Polizei nichts mit. Die beteiligte Behörde fragte bei der Staatsanwaltschaft Bremen nach und erhielt die Auskunft, dort gebe es nur ein offenes Ermittlungsverfahren gegen den Betroffenen; im Hinblick darauf erteile die Staatsanwaltschaft Bremen ihr Einvernehmen. Das Amtsgericht hatte danach keinen Anlass anzunehmen, die beteiligte Behörde könne sich wegen eines fehlenden Einvernehmens der Staatsanwaltschaft Bremen an der Überstellung des Betroffenen gehindert sehen.

bb) Ebenfalls ohne Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde, in der Beschwerdebegründung sei auf das aus der Ausländerakte ersichtliche weitere Ermittlungsverfahren bei der Staatsanwaltschaft Osnabrück gegen den Betroffenen hingewiesen worden, für das ein Einvernehmen weder erteilt noch entbehrlich gewesen sei.

(1) Entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts stellt der Diebstahl, dessen Begehung dem Betroffenen vorgeworfen wurde, allerdings kein zustimmungsfreies Verfahren nach § 72 Abs. 4 Satz 3 bis 5 AufenthG aF dar.

Nach § 72 Abs. 4 Satz 3 AufenthG ist ein Einvernehmen der Staatsanwaltschaft entbehrlich, wenn nur ein geringes Strafverfolgungsinteresse besteht. Nach § 72 Abs. 4 Satz 4 AufenthG aF ist dies der Fall, wenn die Erhebung der öffentlichen Klage oder die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen einer Straftat nach § 95 AufenthG oder nach § 9 FreizügG/EU und begleitender Straftaten nach dem Strafgesetzbuch mit geringem Unrechtsgehalt erfolgt ist. Nach § 72 Abs. 4 Satz 5 AufenthG aF ist eine begleitende Straftat mit geringem Unrechtsgehalt auch ein Diebstahl, es sei denn, § 242 StGB wird durch verschiedene Handlungen mehrmals verletzt oder es wird ein Strafantrag gestellt. Eine begleitende Straftat nach dem Strafgesetzbuch mit geringem Unrechtsgehalt liegt aber nur vor, wenn zwischen dieser und einer Straftat nach § 95 AufenthG oder § 9 FreizügG/EU ein inhaltlicher Zusammenhang besteht (BGH, Beschluss vom 19. Juli 2018 - V ZB 179/15, InfAuslR 2018, 415 Rn. 10). Daran fehlt es hier.

(2) Das Beschwerdegericht hat jedoch nicht festgestellt, dass das Ermittlungsverfahren zum Zeitpunkt seiner Entscheidung noch anhängig war. In der von der Rechtsbeschwerde in Bezug genommenen Beschwerdebegründung wird dies auch nicht geltend gemacht, und nach den - im Rechtsbeschwerdeverfahren allerdings nicht berücksichtigungsfähigen - Ausführungen in der Rechtsbeschwerdeerwiderung war dies tatsächlich auch nicht der Fall.

(3) Es ist auch nicht zu beanstanden, dass das Beschwerdegericht nicht von Amts wegen der Frage nachgegangen ist, ob sich aus dem 2018 eingeleiteten und möglicherweise noch nicht abgeschlossenen Ermittlungsverfahren ein Abschiebungshindernis ergeben werde.

Ein laufendes Ermittlungsverfahren stellt ein im Rahmen der Prognose nach § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG zu berücksichtigendes mögliches Hindernis für die Abschiebung nur dar, wenn zu erwarten ist, dass die Abschiebung an dem fehlenden Einvernehmen der Staatsanwaltschaft scheitern wird (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Februar 2020 - XIII ZB 15/19, InfAuslR 2020, 242 Rn. 20). Dies wird regelmäßig nur bei Straftaten von gewissem Gewicht in Betracht kommen. Wird das Haftgericht auf ein solches Ermittlungsverfahren hingewiesen, muss es im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht nach § 26 FamFG der Frage nachgehen, ob die Staatsanwaltschaft ihr Einvernehmen erteilt hat oder voraussichtlich bis zur Abschiebung erteilen wird.

Im Streitfall scheidet eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht schon deshalb aus, weil das Beschwerdegericht - wenn auch rechtsirrig - ein Einvernehmen der Staatsanwaltschaft für nicht erforderlich gehalten hat.

Im Übrigen handelte es sich nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts um ein Ermittlungsverfahren, das eine Straftat mit geringem Unrechtsgehalt zum Gegenstand hatte. Die Rechtsbeschwerde zeigt nicht auf, dass das Beschwerdegericht Anhaltspunkte dafür hatte, dass die beteiligte Behörde im Hinblick auf dieses Verfahren und ein möglicherweise fehlendes Einvernehmen der Staatsanwaltschaft von der Überstellung des Betroffenen absehen werde oder die Staatsanwaltschaft Osnabrück ihrerseits der Überstellung unter Hinweis auf ein von ihr geführtes Ermittlungsverfahren entgegentreten würde.

c) Die weitere Rüge der Rechtsbeschwerde, der Betroffene sei zu den dem Amtsgericht ergänzend erteilten Auskünften zu strafrechtlichen Ermittlungsverfahren nicht persönlich angehört worden, führt ebenfalls nicht zum Erfolg.

aa) Im Haftantrag hatte die beteiligte Behörde angegeben, dass keine laufenden Ermittlungsverfahren gegen den Betroffenen anhängig seien, die seiner Überstellung entgegenstehen. Der Haftantrag wurde dem Betroffenen laut Protokoll des Amtsgerichts vor seiner Anhörung übergeben und übersetzt. Der Betroffene hatte somit Gelegenheit, sich zur Frage laufender Ermittlungsverfahren, die seiner Abschiebung entgegenstehen, zu äußern.

bb) Zwar müssen dem Betroffenen auch Nachträge des Haftantrags wie ergänzende Auskünfte der beteiligten Behörde ausgehändigt werden und er muss hierzu angehört werden. Eine unterbliebene Anhörung zu ergänzenden Auskünften zur Frage des Einvernehmens führt jedoch nur dann zur Rechtswidrigkeit der Haftanordnung, wenn das Verfahren ohne diesen Fehler zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (vgl. BGH, Beschluss vom 7. März 2019 - V ZB 16/18, juris Rn. 6). Dass dies hier der Fall gewesen wäre, legt die Rechtsbeschwerde weder dar noch ist dies ersichtlich.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2 , § 83 Abs. 2 FamFG . Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG .

Meier-Beck Schmidt-Räntsch Kirchhoff

Vorinstanz: AG Bremen, vom 02.01.2019 - Vorinstanzaktenzeichen XIV 1/19
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