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BGH - Entscheidung vom 10.11.2020

XIII ZB 25/20

Normen:
AufenthG § 62a
AufenthG § 62b Abs. 2
AufenthG § 62b Abs. 3
FamFG § 417 Abs. 1

BGH, Beschluss vom 10.11.2020 - Aktenzeichen XIII ZB 25/20

DRsp Nr. 2021/733

Geeignetheit von Abschiebungshaftanstalten für den Vollzug von Ausreisegewahrsam eines Betroffenen

1. Liegt das nach § 72 Abs. 4 S. 1 AufenthG erforderliche Einvernehmen einer Staatsanwaltschaft nicht vor, führt dies nicht zur Rechtswidrigkeit einer Haftanordnung, wenn sich das laufende Ermittlungsverfahren nicht aus dem Haftantrag oder den ihm beigefügten Unterlagen ergibt und das Gericht auch im Verlauf des Verfahrens keine Kenntnis hiervon erhalten hat.2. Die Vorgaben des § 62b Abs. 2 AufenthG über den Ausreisegewahrsam sind gewahrt, wenn die übliche Fahrzeit von der Unterkunft bis zum Flughafen oder der Grenzübergangsstelle etwa eine Stunde beträgt.

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Heidelberg - 3. Zivilkammer - vom 3. März 2020 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Normenkette:

AufenthG § 62a; AufenthG § 62b Abs. 2 ; AufenthG § 62b Abs. 3 ; FamFG § 417 Abs. 1 ;

Gründe

I. Der Betroffene, ein tunesischer Staatsangehöriger, reiste am 29. Januar 2018 in das Bundesgebiet ein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) lehnte seinen Asylantrag mit Bescheid vom 17. April 2018 zunächst als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung des Betroffenen nach Italien an. Die für den 3. September 2018 geplante Überstellung scheiterte, da der Betroffene in seiner Unterkunft nicht angetroffen werden konnte. Nach Ablauf der Überstellungsfrist hob das Bundesamt mit am 30. Oktober 2018 zugestelltem Bescheid vom 23. Oktober 2018 den Bescheid vom 17. April 2018 auf, lehnte den Asylantrag des Betroffenen als offensichtlich unbegründet ab und drohte die Abschiebung nach Tunesien an; der Betroffene wurde aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen.

Mit Verfügung vom 28. März 2019 forderte die beteiligte Behörde den Betroffenen auf, bis zum 25. April 2019 gültige Reisedokumente oder Unterlagen vorzulegen, die Rückschlüsse auf seine Identität oder Nationalität zulassen können. Da der Betroffene dieser Aufforderung nicht nachkam, wurden seine Fingerabdrücke beim Konsulat der Tunesischen Republik eingereicht, das den Betroffenen identifizierte und ein Passersatzpapier zusagte.

Der Betroffene ist mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten, u.a. wegen Diebstahls. Mit Urteil des Amtsgerichts Mannheim vom 20. März 2019 wurde er zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 23. Oktober 2019 Ausreisegewahrsam gegen den Betroffenen bis zum 31. Oktober 2019 angeordnet, der in der Abschiebungshafteinrichtung Pforzheim vollzogen wurde. Die für den 31. Oktober 2019 geplante Abschiebung scheiterte am Widerstand des Betroffenen. Die Abschiebung ist sodann am 11. November 2019 erfolgt.

Die Beschwerde des Betroffenen, die auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Anordnung des Ausreisegewahrsams gerichtet ist, hat das Landgericht zurückgewiesen. Dagegen wendet sich die Rechtsbeschwerde.

II. Das zulässige Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

1. Nach Ansicht des Beschwerdegerichts haben die Voraussetzungen für die Anordnung von Ausreisegewahrsam gemäß § 62b AufenthG vorgelegen. Der Antrag der Behörde sei zulässig und die Ausreisefrist abgelaufen gewesen. Es habe mit ausreichender Sicherheit festgestanden, dass die Abschiebung innerhalb der beantragten Frist durchgeführt werden könne. Zudem habe der Betroffene ein Verhalten gezeigt, das habe erwarten lassen, er werde die Abschiebung erschweren oder vereiteln. Die Abschiebungshafteinrichtung Pforzheim sei eine geeignete Einrichtung zur Vollziehung des Ausreisegewahrsams, die eine freiwillige Ausreise ohne Zurücklegung einer größeren Entfernung ermögliche. Die Einrichtung befinde sich in geringer Entfernung zu den Flughäfen Stuttgart und Karlsruhe/Baden-Baden als Grenzübergangsstellen. Die Staatsanwaltschaft habe ihr Einvernehmen mit der Abschiebung des Betroffenen erklärt.

2. Die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde ist gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 , Satz 2 FamFG mit dem Feststellungsantrag nach § 62 FamFG ohne Zulassung durch das Beschwerdegericht statthaft. Hierfür bedarf es keiner Entscheidung, ob der Ausreisegewahrsam im Hinblick insbesondere auf § 62b Abs. 2 AufenthG eine Freiheitsentziehung i.S.d. Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG darstellt. Jedenfalls ist ein berechtigtes Interesse des Betroffenen an einer Feststellung nach § 62 Abs. 1 FamFG anzuerkennen, durch die richterlich angeordnete Maßnahme in seinen Rechten verletzt worden zu sein (vgl. BGH, Beschluss vom 22. August 2019 - V ZB 209/17, juris Rn. 4). Insoweit gelten die Grundsätze zur Statthaftigkeit einer Rechtsbeschwerde im Zusammenhang mit der richterlichen Anordnung des Aufenthalts eines Ausländers im Transitbereich eines Flughafens über einen Zeitraum von 30 Tagen hinaus (§ 15 Abs. 6 Satz 2 AufenthG ) entsprechend (vgl. hierzu BGH, Beschlüsse vom 14. Juli 2011 - V ZB 275/10, FGPrax 2011, 257 Rn. 5, und vom 16. Dezember 2019 - XIII ZB 136/19, InfAuslR 2020, 167 Rn. 5).

3. Die Rechtsbeschwerde ist jedoch unbegründet.

a) Der Anordnung des Ausreisegewahrsams lag ein zulässiger Antrag gemäß § 417 Abs. 1 FamFG zugrunde.

aa) Ein zulässiger Antrag auf Freiheitsentziehung ist - auch in Verfahren, die Ausreisegewahrsam gemäß § 62b AufenthG zum Gegenstand haben - eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Oktober 2018 - V ZB 38/18, juris Rn. 13 mwN). Zulässig ist der Antrag der beteiligten Behörde nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zur Durchführbarkeit der Abschiebung sowie zur Erforderlichkeit und der notwendigen Dauer der Freiheitsentziehung (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG ).

bb) Diesen Anforderungen wird der Antrag der beteiligten Behörde gerecht, auch wenn er keine Ausführungen zum staatsanwaltschaftlichen Einvernehmen mit der Abschiebung enthielt. Solche Ausführungen sind nur dann geboten, wenn sich aus dem Antrag oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne Weiteres ein laufendes und nicht offensichtlich zustimmungsfreies Ermittlungsverfahren ergibt (ständige Rechtsprechung seit BGH, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, FGPrax 2011, 144 Rn. 9). Dies ist hier entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde nicht der Fall. Der Antrag führt vielmehr aus, dass keine anhängigen Strafverfahren bekannt seien, die ein Einvernehmen der Staatsanwaltschaft erforderten. Unerheblich ist insoweit, ob sich Hinweise auf mögliche offene Ermittlungsverfahren aus der Ausländerakte ergeben. Diese ist weder Bestandteil noch Anlage des Antrags.

b) Die in der Akte enthaltenen Hinweise auf im Anordnungszeitpunkt möglicherweise offene Ermittlungsverfahren führen auch in der Sache zu keiner Rechtswidrigkeit der Anordnung des Ausreisegewahrsams.

aa) Wie der Senat mit Beschluss vom 12. Februar 2020 ( XIII ZB 15/19, InfAuslR 2020, 242 Rn. 14 ff.) unter Aufgabe der früheren Rechtsprechung entschieden hat, handelt es sich bei dem Beteiligungserfordernis nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht um eine freiheitsschützende Verfahrensvorschrift im Sinne des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG . Liegt das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderliche Einvernehmen einer Staatsanwaltschaft nicht vor, führt dies daher nicht zur Rechtswidrigkeit einer Haftanordnung, wenn sich das laufende Ermittlungsverfahren nicht aus dem Haftantrag oder den ihm beigefügten Unterlagen ergibt und das Gericht auch im Verlauf des Verfahrens keine Kenntnis hiervon erhalten hat (vgl. BGH, Beschluss vom 7. April 2020 - XIII ZB 37/19, juris Rn. 9).

bb) Der Betroffene hat sich erstmals mit anwaltlichem Schriftsatz vom 17. Dezember 2019 auf ein fehlendes Einvernehmen der Staatsanwaltschaft berufen, das sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr auf die Durchführbarkeit der am 11. November 2019 erfolgten Abschiebung auswirken konnte.

c) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde folgt die Rechtswidrigkeit der Anordnung des Ausreisegewahrsams auch nicht aus § 62b Abs. 2 AufenthG , wonach der Ausreisegewahrsam im Transitbereich eines Flughafens oder in einer Unterkunft vollzogen wird, von der aus die Ausreise des Ausländers ohne Zurücklegen einer größeren Entfernung zu einer Grenzübergangsstelle möglich ist.

aa) Die insoweit gebotene Prüfung ist auf bereits im Zeitpunkt der Anordnung absehbare strukturelle Defizite beschränkt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. Juli 2013 - V ZB 40/11, NVwZ 2013, 166 ; vom 12. November 2014 - V ZB 40/11, juris Rn. 5). Den danach bestehenden Anforderungen wird die Unterkunft, in der der Betroffene untergebracht wurde, gerecht.

(1) Ob dem Betroffenen eine Ausreise ohne Zurücklegen einer größeren Entfernung möglich ist, bestimmt sich nach der Entfernung der Unterkunft zu einer Grenzübergangsstelle, von der aus der Ausländer jederzeit ausreisen kann. Die von der Rechtsbeschwerde zitierte abweichende Auffassung, die auf die Entfernung zwischen der Unterkunft und dem Flughafen abstellt, von dem aus die Abschiebung tatsächlich erfolgen soll (vgl. LG Mosbach, Beschluss vom 5. März 2020 - 3 T 43/19, juris Rn. 18, aufgegeben mit Beschluss vom 8. Juni 2020 - 3 T 43/19, juris Rn. 51), ist mit dem Sinn und Zweck der Norm nicht vereinbar. In die Betrachtung sind vielmehr sämtliche Grenzübergangsstellen einzubeziehen, die sich in der Nähe der Unterkunft befinden. § 62b Abs. 2 AufenthG soll sicherstellen, dass der Ausländer jederzeit freiwillig ausreisen kann. Er soll die Möglichkeit haben, den Ausreisegewahrsam jederzeit dadurch vorzeitig zu beenden, dass er eine konkrete Reisemöglichkeit in einen aufnahmebereiten Staat benennt, die er wahrnehmen möchte (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drucks. 18/4097, S. 56). Der nächstgelegene Abflughafen für die freiwillige Ausreise ist daher nicht notwendigerweise mit dem Ort identisch, von dem aus die Abschiebung erfolgen soll.

(2) Nach der Gesetzesbegründung besteht keine größere Entfernung im Sinne der Norm, wenn die übliche Fahrzeit von der Unterkunft bis zum Flughafen oder der Grenzübergangsstelle etwa eine Stunde beträgt (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Zweites Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, BT-Drucks. 19/10047, S. 45). Dies wurde hier eingehalten. Der Betroffene wurde in der Abschiebungshafteinrichtung Pforzheim untergebracht. Die Rechtsbeschwerde macht nicht geltend, dass die übliche Fahrzeit von dieser Unterkunft zu den Flughäfen Stuttgart und Karlsruhe/Baden-Baden entgegen der Annahme des Beschwerdegerichts mehr als eine Stunde beträgt.

bb) Abschiebungshaftanstalten sind für den Vollzug von Ausreisegewahrsam nicht generell ungeeignet. Für den Vollzug des Ausreisegewahrsams gilt gemäß § 62b Abs. 3 AufenthG die Vorschrift des § 62a AufenthG über den Vollzug der Abschiebungshaft entsprechend. Danach sind Einrichtungen, die den gesetzlichen Anforderungen des § 62a AufenthG genügen, auch für den Vollzug des Ausreisegewahrsams geeignet, sofern keine zu große Entfernung zu einer Grenzübergangsstelle besteht.

cc) Ohne Erfolg macht die Rechtsbeschwerde geltend, der Vollzug des Ausreisegewahrsams in einer Abschiebungshaftanstalt sei unzulässig, weil daraus entgegen der gesetzgeberischen Absicht keine freiwillige Ausreise möglich sei (vgl. in diesem Sinne LG Mosbach, Beschluss vom 5. März 2020 - 3 T 43/19, juris Rn. 19; Stahmann in Marschner/Lesting/Stahmann, Freiheitsentziehung und Unterbringung, 6. Aufl., Kap. E Rn. 119 am Ende; aA aber jetzt LG Mosbach, Beschluss vom 8. Juni 2020 - 3 T 43/19, juris Rn. 51).

Die Ausreise ist nicht nur dann möglich, wenn sich der Ausländer im Bundesgebiet in Freiheit aufhalten kann. Vielmehr hat die Behörde eine begleitete Fahrt zum Flughafen oder zur Grenzübergangsstelle zu organisieren, wenn der Ausländer - etwa durch Vorlage entsprechender Reisedokumente - seine Absicht glaubhaft macht, das Bundesgebiet zu verlassen (vgl. Bergmann/ Dienelt/Winkelmann, Ausländerrecht, 13. Aufl., § 62b AufenthG Rn. 15). Die engeren Voraussetzungen des Transitaufenthalts, der im Transitbereich eines Flughafens oder einer den Anforderungen des § 15 Abs. 6 Satz 1 AufenthG entsprechenden Unterkunft zu erfolgen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Dezember 2019 - XIII ZB 136/19, juris Rn. 11), gelten beim Ausreisegewahrsam nicht. Der Gesetzgeber hat mit dem Zweiten Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 bewusst die Möglichkeiten des Vollzugs des Ausreisegewahrsams gegenüber denjenigen des Transitaufenthalts erweitert (vgl. BT-Drucks. 19/10047, S. 45).

4. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 74 Abs. 7 FamFG ).

Vorinstanz: AG Heidelberg, vom 23.10.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 431 XIV 127/19
Vorinstanz: LG Heidelberg, vom 03.03.2020 - Vorinstanzaktenzeichen 3 T 20/19