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BGH - Entscheidung vom 14.07.2011

V ZB 275/10

Normen:
WÜK Art. 36 Abs. 1 Buchst. b
WÜK Art. 36 Abs. 1 Buchst. b
AufenthG § 15 Abs. 6

Fundstellen:
FGPrax 2011, 257

BGH, Beschluss vom 14.07.2011 - Aktenzeichen V ZB 275/10

DRsp Nr. 2011/14845

Vorliegen einer Verpflichtungen der Behörde aus Art. 36 Abs. 1 Buchst. b WÜK auslösenden Freiheitsentziehung bei Anordnung eines Aufenthalts über 30 Tage hinaus

Eine die Verpflichtungen der Behörde aus Art. 36 Abs. 1 Buchst. b WÜK auslösende Freiheitsentziehung liegt bei der Anordnung des Aufenthalts nach § 15 Abs. 6 AufenthG jedenfalls dann vor, wenn die Anordnung über den in Satz 2 der Regelung genannten Zeitraum von 30 Tagen hinausreicht.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 15. September 2010 und der Beschluss der 28. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 28. September 2010 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen aller Instanzen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Normenkette:

WÜK Art. 36 Abs. 1 Buchst. b; AufenthG § 15 Abs. 6 ;

Gründe

I.

Der Betroffene, ein iranischer Staatsbürger, kam am 25. August 2010 mit dem Flugzeug aus Teheran auf dem Flughafen Frankfurt am Main an. Bei der grenzpolizeilichen Einreisekontrolle beantragte er unter Vorlage eines gültigen Passes und eines schwedischen Schengenvisums Asyl. Ihm wurde die Einreise mit der Begründung verweigert, nach Art. 9 Abs. 2 der Dublin II Verordnung sei Schweden für die Prüfung des Asylgesuchs zuständig. Er wurde in der sogenannten Asylbewerberunterkunft auf dem Flughafengelände untergebracht.

Auf Antrag der Beteiligten zu 2 vom 15. September 2010 hat das Amtsgericht nach persönlicher Anhörung des Betroffenen mit Beschluss vom selben Tag den Aufenthalt in der Asylbewerberunterkunft zur Sicherung der Abreise bis einschließlich 15. November 2010 angeordnet. Vor der Entscheidung hatte das Amtsgericht die Akten der Beteiligten zu 2 beigezogen und "zum Gegenstand der Anhörung" gemacht. Aus diesen Akten ergibt sich, dass der Betroffene nach Art. 36 WÜK belehrt worden ist. Seine Reaktion hierauf ist jedoch nur insoweit dokumentiert, als in dem Protokoll über die Vernehmung des Betroffenen das Feld "Der Strafvorwurf ist nicht mitzuteilen" angekreuzt wurde. Bei den übrigen Feldern (Einverständnis mit der Unterrichtung; Versagung des Einverständnisses; Verständigung der konsularischen Vertretung gegen den Willen des Betroffenen) findet sich kein Kreuz.

Die gegen die Haftanordnung gerichtete Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt der Betroffene die Feststellung, dass er durch die genannten Entscheidungen in seinen Rechten verletzt worden ist.

II.

Das Beschwerdegericht ist der Auffassung, die Anordnung des Aufenthalts in der Asylbewerberunterkunft zur Sicherung der Abreise sei zu Recht ergangen. Zu Art. 36 Abs. 1 Buchst. b Satz 1 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen verhält sich die Beschwerdeentscheidung nicht.

III.

1.

Die nach § 71 FamFG form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde ist ungeachtet der nach Erlass der Beschwerdeentscheidung eingetretenen Erledigung der angegriffenen Anordnung ohne Zulassung statthaft (§ 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 i.V.m § 62 Abs. 1 FamFG). Das dafür erforderliche berechtigte Interesse des Betroffenen an der Feststellung, er sei in seinen Rechten verletzt worden, liegt vor. Der Senat hat bereits entschieden, dass der richterlich angeordnete Aufenthalt eines Ausländers nach § 15 Abs. 6 Satz 1 AufenthG einer Freiheitsentziehung im Sinne von § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG gleichsteht, wenn die richterliche Anordnung - wie hier - über den in § 15 Abs. 6 Satz 2 AufenthG genannten Zeitraum von 30 Tagen hinausreicht (Senat, Beschluss vom 30. Juni 2010 - V ZB 274/10, zur Veröffentlichung vorgesehen). Ebenso wie bei richterlichen Haftanordnungen (dazu etwa Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, NVwZ 2010, 726, 727 Rn. 9) ist daher auch in Fällen der vorliegenden Art ein berechtigtes Interesse des Betroffenen nach § 62 FamFG an der Klärung der Frage anzuerkennen, ob er durch die richterliche Anordnung in seinen Rechten verletzt worden ist (Senat, Beschluss vom 30. Juni 2010, aaO).

2.

Begründet ist das Rechtsmittel schon deshalb, weil die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt, dass die Rechte des Betroffenen nach Art. 36 Abs. 1 Buchst. b des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen (WÜK), dem der Iran beigetreten ist (BGBl. II 1975, S. 1121), nicht gewahrt worden sind.

a)

Das genannten Übereinkommen ist hier anwendbar. Nach Art. 36 Abs. 1 Buchst. b WÜK ist die konsularische Vertretung des Heimatstaates eines Betroffenen auf Verlangen unverzüglich von dessen Inhaftierung zu unterrichten, wenn er festgenommen, inhaftiert, in Untersuchungshaft genommen oder ihm anderweitig die Freiheit entzogen worden ist. Bei der Anordnung der Unterbringung zur Sicherung der Abreise handelt es sich um eine Freiheitsentziehung im Sinne der genannten - bewusst weit gefassten - Regelung, die jede nachhaltige Einschränkung der Bewegungsfreiheit umfasst (Wagner/Raasch/ Pröpstl, WÜK, Art. 36, S. 257). Eine solche liegt hier im Übrigen auch deshalb vor, weil die Anordnung einer über den in § 15 Abs. 6 Satz 2 AufenthG genannten Zeitraum von 30 Tagen hinausreichenden Freiheitsbeschränkung jedenfalls wie eine Freiheitsentziehung zu behandeln ist (oben 1.).

b)

Die Beachtung der Rechte, die einem Ausländer nach Art. 36 Abs. 1 Buchst. b WÜK zustehen, muss für das Rechtsbeschwerdegericht nachvollziehbar sein. Vor diesem Hintergrund hat der Senat bereits entschieden, dass die Belehrung des Ausländers über diese Rechte, seine Reaktion hierauf und ggf. auch die unverzügliche Unterrichtung der konsularischen Vertretung von der Inhaftierung aktenkundig zu machen sind (Senat, Beschluss vom 18. November 2010 - V ZB 165/10, FGPrax 2011, 99 Rn. 5). Ob diese Dokumentation in dem die Freiheitsbeschränkung anordnenden Verfahren vorzunehmen ist oder ob es genügt, dass sie sich aus beigezogenen Verfahrensakten ergibt, die der Richter zum Gegenstand der Anhörung gemacht hat, braucht hier nicht entschieden zu werden. Denn selbst wenn Letzteres genügen sollte, läge eine ausreichende Dokumentation nicht vor. Zwar ist der Betroffene ausweislich des Protokolls über seine polizeiliche Vernehmung als Beschuldigter über sein Recht belehrt worden, die Unterrichtung seiner konsularischen Vertretung zu verlangen. Ob er von diesem Recht Gebrauch gemacht hat, ist jedoch nicht aktenkundig gemacht worden. Es kommt daher nicht mehr darauf an, dass sich jedenfalls aus dem genannten Protokoll nicht ergibt, ob die konsularische Vertretung verständigt worden ist oder nicht.

c)

Die Sache ist zur Endentscheidung reif (§ 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG). Die Nichtbeachtung der Rechte aus Art. 36 Abs. 1 Buchst. b Satz 1 WÜK stellt einen grundlegenden Verfahrensmangel dar, der die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung zur Folge hat (vgl. Senat, Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 223/09, FGPrax 2010, 212 Rn. 17 f.; Beschluss vom 18. November 2010 - V ZB 165/10, [...] Rn. 4; BVerfG, NJW 2007, 499 , 500 f.).

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 , § 430 FamFG und § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO .

Vorinstanz: AG Frankfurt am Main, vom 15.09.2010 - Vorinstanzaktenzeichen 934 XIV 1436/10
Vorinstanz: LG Frankfurt am Main, vom 28.09.2010 - Vorinstanzaktenzeichen 28 T 164/10
Fundstellen
FGPrax 2011, 257