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BGH - Entscheidung vom 11.07.2013

V ZB 40/11

Normen:
Richtlinie 2008/115/EG Art. 16 Abs. 1
AufenthG § 62a Abs. 1 Satz 1 und 2
RL 2008/115/EG Art. 16 Abs. 1
AEUV Art. 267
AufenthG § 62a Abs. 1 S. 2
EUV Art. 4 Abs. 2 S. 1

BGH, Beschluss vom 11.07.2013 - Aktenzeichen V ZB 40/11

DRsp Nr. 2013/19563

Prüfen der Vollziehung einer Abschiebungshaft in speziellen Hafteinrichtungen als Verpflichtung eines Mitgliedstaates zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger gem. Art. 16 Abs. 1 RL 2008/115/EG als Vorlage zur Vorabentscheidung

Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ergibt sich aus Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008 Nr. L 348/98) auch dann die Verpflichtung eines Mitgliedstaates, Abschiebungshaft grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen zu vollziehen, wenn solche Einrichtungen nur in einem Teil der föderalen Untergliederungen dieses Mitgliedstaats vorhanden sind, in anderen aber nicht?

Tenor

I.

Das Verfahren wird ausgesetzt.

II.

Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ergibt sich aus Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008 Nr. L 348/98) auch dann die Verpflichtung eines Mitgliedstaates, Abschiebungshaft grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen zu vollziehen, wenn solche Einrichtungen nur in einem Teil der föderalen Untergliederungen dieses Mitgliedstaats vorhanden sind, in anderen aber nicht?

Normenkette:

RL 2008/115/EG Art. 16 Abs. 1; AEUV Art. 267 ; AufenthG § 62a Abs. 1 S. 2; EUV Art. 4 Abs. 2 S. 1;

Gründe

I.

Die Betroffene, die mutmaßlich syrische Staatsangehörige ist, hatte in Deutschland erfolglos Asyl beantragt und war vollziehbar ausreisepflichtig. Auf Antrag der Ausländerbehörde hat das Amtsgericht am 6. Januar 2011 Haft zur Sicherung der Abschiebung der Betroffenen bis zum 17. Februar 2011 angeordnet. Die dagegen gerichtete Beschwerde ist von dem Landgericht zurückgewiesen worden.

Nach der föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland ist es Aufgabe der Bundesländer, die Abschiebungshaft zu vollziehen. Das hier zuständige Bundesland Hessen hat die Haft der Betroffenen in einer gewöhnlichen Justizvollzugsanstalt (JVA Frankfurt) durchgeführt. In Hessen gibt es - anders als in anderen Bundesländern - keine speziellen Einrichtungen für Abschiebungshäftlinge (vgl. BT-Drucks. 17/10597 S. 9); eine früher vorhandene Einrichtung in Offenbach am Main nahm nur Männer auf.

Am 2. Februar 2011 ist die Betroffene infolge einer Eingabe an die Härtefallkommission des Landes Hessen aus der Haft entlassen worden. Mit der Rechtsbeschwerde will sie die Feststellung erreichen, dass die Anordnung der Haft durch das Amtsgericht und die Zurückweisung der Beschwerde durch das Landgericht sie in ihren Rechten verletzt haben.

II.

Das Beschwerdegericht (Vorinstanz) meint, die Rüge der Betroffenen, sie sei unzulässigerweise in einer gewöhnlichen Haftanstalt untergebracht gewesen, stehe der Rechtmäßigkeit der Haftanordnung nicht entgegen. Im Rahmen der Beschwerde gegen die Haftanordnung werde nur geprüft, ob Haft anzuordnen sei, nicht hingegen, wo die Haft vollzogen werde. Im Übrigen ergebe sich aus Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG, dass eine Unterbringung in einer Haftanstalt mit Strafgefangenen ausnahmsweise zulässig sein könne.

III.

Die Rechtsbeschwerde ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 , Satz 2 FamFG statthaft und auch im Übrigen zulässig (§ 71 FamFG ). Sie ist nicht dadurch unzulässig geworden, dass sich die Hauptsache mit der Entlassung der Betroffenen aus der Haft erledigt hat. Angesichts des Eingriffs in ein besonders bedeutsames Grundrecht bleiben Rechtsmittel gegen eine Freiheitsentziehung auch nach deren Ende zulässig, weil der Betroffene entsprechend § 62 Abs. 1 , Abs. 2 Nr. 1 FamFG ein schutzwürdiges Interesse an der nachträglichen Feststellung hat, dass die freiheitsentziehende Maßnahme rechtswidrig war (Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, NVwZ 2010, 726, 727). § 62 des deutschen Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit ( FamFG ), der das Beschwerdeverfahren betrifft, aber auch auf das Rechtsbeschwerdeverfahren Anwendung findet, lautet auszugsweise:

"§ 62 Statthaftigkeit der Beschwerde nach Erledigung der Hauptsache

(1) Hat sich die angefochtene Entscheidung in der Hauptsache erledigt, spricht das Beschwerdegericht auf Antrag aus, dass die Entscheidung des Gerichts des ersten Rechtszugs den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt hat, wenn der Beschwerdeführer ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat.

(2) Ein berechtigtes Interesse liegt in der Regel vor, wenn

1. schwerwiegende Grundrechtseingriffe vorliegen

... "

IV.

Der Erfolg der Rechtsbeschwerde hängt davon ab, wie Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG auszulegen ist. Vor einer Entscheidung über die Rechtsbeschwerde ist deshalb das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu der im Tenor dieses Beschlusses gestellten Frage einzuholen.

1. Die Betroffene kann sich unmittelbar auf Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie berufen.

Die Vorschrift des § 62a des deutschen Aufenthaltsgesetzes , die der Umsetzung der Richtlinie in das nationale Recht dient und die eine Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten zulässt, wenn in dem jeweiligen Bundesland keine speziellen Einrichtungen vorhanden sind, ist hier nicht anwendbar. Sie ist erst zum 26. November 2011 in Kraft getreten, also nach der Haftentlassung der Betroffenen. Bei Anordnung der Haft war die in Art. 20 Abs. 1 auf den 24. Dezember 2010 festgelegte Umsetzungsfrist der Richtlinie 2008/115/EG allerdings abgelaufen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann sich, wenn ein Mitgliedstaat eine Richtlinie nicht fristgemäß oder unzulänglich umgesetzt hat, ein Einzelner gegenüber diesem Staat auf inhaltlich unbedingte und hinreichend genaue Bestimmungen der Richtlinie berufen (EuGH, Urteil vom 19. November 1991 in der Rechtssache C-6/90, Francovich u.a., Slg. 1991, I-5357 = NJW 1992, 165 , Rn. 11). Bei Art. 16 der Richtlinie 2008/115/EG handelt es sich um eine solche Bestimmung (Urteil vom 28. April 2011 in der Rechtssache C-61/11 PPU, El Dridi, Slg. 2011, I-3015 Rn. 47 = InfAuslR 2011, 320 Rn. 47).

2. Bei der Anwendung von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG stellt sich die Frage, ob das Gebiet des Mitgliedstaats insgesamt maßgeblich ist oder ob bei einer föderalen Struktur eines Mitgliedstaates auf die für die Durchführung der Haft zuständige föderale Untergliederung (in Deutschland: auf die einzelnen Bundesländer) abgestellt werden kann.

a) Wenn Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG so auszulegen ist, dass bereits dann eine unbedingte Verpflichtung besteht, Abschiebungshaft in speziellen Hafteinrichtungen zu vollziehen, wenn im Mitgliedstaat zumindest eine spezielle (nicht vollständig belegte) Einrichtung für Abschiebungshäftlinge vorhanden ist, hätte die Haft hier nicht in einer Justizvollzugsanstalt vollzogen werden dürfen. Denn es gibt in Deutschland in einigen Bundesländern spezielle Einrichtungen (auch) für (weibliche) Abschiebungshäftlinge. Hingegen wäre die Unterbringung der Betroffenen in einer Justizvollzugsanstalt nicht zu beanstanden, wenn Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG so auszulegen ist, dass auf die für den Vollzug der Haft zuständige föderale Untergliederung abgestellt werden kann; denn in dem hier zuständigen Bundesland Hessen gab es zum Zeitpunkt der Inhaftierung der Betroffenen keine spezielle Hafteinrichtung (auch) für Frauen.

b) Welche inhaltlichen Anforderungen Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG an den Rückgriff auf gewöhnliche Haftanstalten stellt, ist umstritten.

aa) Nach teilweise vertretener Auffassung erlaubt die Richtlinie den Rückgriff auf gewöhnliche Haftanstalten schon dann, wenn in der föderalen Untergliederung, in der die Abschiebungshaft vollzogen wird (hier: im Bundesland Hessen), keine speziellen Haftplätze vorhanden sind. Zur Begründung wird auf Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV verwiesen; danach habe die Europäische Union die föderale Struktur der Mitgliedstaaten zu respektieren (Basse/Burbaum/Richard, ZAR 2011, 361, 366; Huber, NVwZ 2012, 385, 388; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Januar 2012, § 62a AufenthG Rn. 10; im Ergebnis ebenso House of Lords, European Union Committee, 32nd Report of Session 2005-06, Illegal Migrants: Proposals for a common EU returns policy, S. 29, zu Nordirland). Dem hat sich - zeitlich nach der streitgegenständlichen Haft - auch der deutsche Gesetzgeber angeschlossen, indem er in § 62a Abs. 1 Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes ausdrücklich auf das Gebiet des jeweiligen Bundeslandes abgestellt, eine auf das gesamte Bundesgebiet bezogene Fassung hingegen abgelehnt hat (vgl. Beschlussempfehlung zum Umsetzungsgesetz in: BT-Drucks. 17/6497, S. 10 ff.).

bb) Die Gegenauffassung stützt sich vor allem auf den Wortlaut des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie, der sich auf den Mitgliedstaat als ganzen beziehe (Habbe, ZAR 2011, 286, 289; AK- StVollzG -Feest/Graebsch, 6. Aufl., Anh § 175 Rn. 64; Pelzer in Zwaan, The Returns Directive, S. 112; auch: Schreiben der Europäischen Kommission vom 11. Mai 2011, Anhang zu Bundestags-Innenausschuss, Ausschuss-Drucks. 17(4)282 E, S. 14).

cc) Der vorlegende Senat neigt mit Blick auf den Wortlaut der Richtlinie dazu, dass auf die Mitgliedstaaten und nicht auf föderale Untergliederungen abzustellen ist. Dafür spricht, dass die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten grundsätzlich unabhängig von der innerstaatlichen Zuständigkeitsverteilung bestehen (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 12. Juni 1990 in der Rechtssache C-8/88, Deutschland gegen Kommission, Slg. 1990, I-2321, Rn. 13).

dd) Die Auslegung der Richtlinie wird allerdings zusätzlich durch abweichende Sprachfassungen erschwert: Die deutsche Fassung lässt einen Rückgriff auf gewöhnliche Haftanstalten erst dann zu, wenn im Mitgliedstaat keine speziellen Einrichtungen "vorhanden" sind. Demgegenüber setzen die anderen Sprachfassungen nur allgemein voraus, dass eine Unterbringung nicht in einer speziellen Einrichtung erfolgen "kann", ohne dieses "Nicht-Können" näher zu definieren (englisch: "Where a member state cannot provide accommodation in a specialised detention facility and is obliged to resort to prison accommodation, ... "; französisch: "Lorsqu'un Etat membre ne peut les placer dans un centre de rétention spécialisé et doit les placer dans un établissement pénitentiaire, ... "; spanisch: "En los casos en que un Estado miembro no pueda proporcionar alojamiento en un centro de internamiento espacializado y tenga recurrir a un centro penitenciario, ... "; italienisch: "Qualora uno Stato membro non possa ... e debba ... "; niederländisch: "Indien een lidstaat ... niet kan onderbrengen in een gespecialiseerde inrichtung ... en gebruik dient te maken van een gevangenis, ... "; vgl. auch Schieffer in Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, Ch. V Art. 16 Rn. 3). Diese allgemeinere Formulierung könnte dafür sprechen, dass die erstgenannte Auffassung richtig ist. Denn es lässt sich argumentieren, dass ein Mitgliedstaat die Haft nicht in einer speziellen Einrichtung vollziehen "kann", wenn es in der föderalen Untergliederung, die nach dem Recht des Mitgliedsstaates für den Vollzug der Haft verantwortlich ist, keine solche Einrichtung gibt.

Von diesem weiten Verständnis war offenbar auch das Anhörungsverfahren vor Erlass der Richtlinie geprägt: So führt der Bericht des britischen House of Lords zum damaligen (insoweit unverändert gebliebenen) Richtlinienentwurf das Fehlen spezieller Einrichtungen in Nordirland als Beispielsfall dafür an, dass eine Unterbringung nicht in speziellen Einrichtungen erfolgen kann (House of Lords, European Union Committee, 32nd Report of Session 2005-06, Illegal Migrants: Proposals for a common EU returns policy, S. 29). Dasselbe Verständnis lag offenbar einem (später nicht in die Richtlinie übernommenen) Vorschlag des Entwicklungsausschusses des Europäischen Parlaments zugrunde, die zweite Satzhälfte um die Formulierung zu ergänzen, der Rückgriff auf gewöhnliche Haftanstalten erfolge "in Ermangelung freier Plätze in speziell für die vorläufige Gewahrsamnahme vorgesehenen Einrichtungen" (Europäisches Parlament, Bericht A6-0339/2007 vom 20. September 2007, S. 69). Dieser Ergänzungsvorschlag setzt voraus, dass die Inhaftierung in einem gewöhnlichen Gefängnis unter Umständen zulässig sein kann, obwohl eine spezielle Hafteinrichtung vorhanden ist - nämlich insbesondere in dem Fall, dass diese spezielle Hafteinrichtung vollständig belegt ist. Dementsprechend ist der Ergänzungsvorschlag in der deutschen Sprachfassung unverständlich ("Wenn in einem Mitgliedstaat keine solchen Gewahrsamseinrichtungen vorhanden sind und er sich gezwungen sieht, in Ermangelung freier Plätze in speziell für die vorläufige Gewahrsamnahme vorgesehenen Einrichtungen eine Einweisung in eine Haftanstalt vorzunehmen, ... ").

Welchem Verständnis der Vorzug zu geben ist, bedarf angesichts der abweichenden, in gleichem Maße verbindlichen Sprachfassungen der Richtlinie einer Klärung durch den Gerichtshof.

V.

Die Vorlagefrage ist entscheidungserheblich.

1. Wenn die Unterbringung der Betroffenen in einer Justizvollzugsanstalt nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG unzulässig war, ist die Rechtsbeschwerde begründet. Im Hinblick auf das Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Rechts der Union (effet utile) muss der Haftrichter die Anordnung von Sicherungshaft nämlich ablehnen, wenn absehbar ist, dass der Betroffene rechtswidrig untergebracht werden wird. Im zu entscheidenden Fall war dies absehbar, weil es in Hessen keinen speziellen Einrichtungen für (weibliche) Abschiebungshäftlinge gab und gibt.

2. Andernfalls ist die Rechtsbeschwerde unbegründet.

a) Die übrigen im Beschwerdeverfahren erhobenen Rügen gegen die Haftanordnung sind unbegründet (insoweit Senat, Beschluss vom 30. Juni 2011 über den Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe - V ZB 40/11, [...]) und werden von der Rechtsbeschwerde auch nicht weiter verfolgt.

b) Dass die Betroffene innerhalb der Justizvollzugsanstalt nicht hinreichend von Strafgefangenen getrennt worden wäre (was unabhängig von der ersten Vorlagefrage einen hinreichend klaren Verstoß gegen Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG darstellen würde), macht sie nicht geltend.

Vorinstanz: AG Frankfurt am Main, vom 06.01.2011 - Vorinstanzaktenzeichen 934 XIV 6/11
Vorinstanz: LG Frankfurt am Main, vom 26.01.2011 - Vorinstanzaktenzeichen 28 T 3/11