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BSG - Entscheidung vom 10.09.2019

B 1 KR 65/18 B

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1

BSG, Beschluss vom 10.09.2019 - Aktenzeichen B 1 KR 65/18 B

DRsp Nr. 2019/14150

Grundsatzrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren Eigenanteilsfreie Versorgung mit einem nur oberhalb des Festbetrags erhältlichen Festbetragsarzneimittel Zusätzliche behandlungsbedürftige Krankheit Behandlungsbedürftige Verschlimmerung einer bereits vorliegenden Krankheit

Eine eigenanteilsfreie Versorgung mit einem nur oberhalb des Festbetrags erhältlichen Festbetragsarzneimittel setzt voraus, dass bei dem Versicherten zumindest objektiv nachweisbar eine zusätzliche behandlungsbedürftige Krankheit oder eine behandlungsbedürftige Verschlimmerung einer bereits vorliegenden Krankheit nach indikationsgerechter Nutzung aller anwendbaren, preislich den Festbetrag unterschreitenden Arzneimittel eintritt.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Juli 2018 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1 ;

Gründe:

I

Die bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Klägerin erhielt aufgrund ärztlicher Verordnung zulasten der Beklagten zunächst fortlaufend das Antidepressivum Cipralex 20mg (Wirkstoff Escitalopram). Dessen Wirkstoff war zusammen mit Citalopram ab 1.12.2014 in die Festbetragsgruppe für Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wirksam einbezogen (damaliger Festbetragspreis: 47,91 Euro; damaliger Preis für Cipralex 20 mg: 248,40 Euro). Die Beklagte versorgte daraufhin die Klägerin mit einem Festbetragsarzneimittel (Escitalopram 20 mg von Hexal). Nach einigen Monaten machte die Klägerin Nebenwirkungen geltend (Herzrasen, Übelkeit, Verstopfung, Hautausschlag) und beantragte erfolglos bei der Beklagten die Versorgung mit Cipralex und Kostenerstattung für den über dem Festbetrag liegenden Eigenanteil für bereits selbst beschafftes Cipralex. Erstinstanzlich hat sie ihr Begehren auf die Erstattung eines Teils ihrer für das Arzneimittel aufgewendeten Kosten und eine die zukünftige Versorgung mit Cipralex betreffende Feststellung beschränkt. Das SG hat die Klage abgewiesen, das LSG die Berufung zurückgewiesen: Die vom BSG (BSGE 111, 146 = SozR 4-2500 § 35 Nr 6) aufgestellten Voraussetzungen eines atypischen Falls, der die KKn verpflichte, Versicherte mit Arzneimitteln oberhalb der Festbetragsgrenze zu versorgen, erfülle die Klägerin nicht (Urteil vom 17.7.2018).

Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.

II

Die Beschwerde der Klägerin ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 S 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der abschließend geregelten Revisionszulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG ), der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG ) und des Verfahrensfehlers (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG ).

1. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG ) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Die Klägerin richtet ihr Vorbringen hieran nicht aus.

Die Klägerin formuliert die Frage,

"ob es dem betroffenen Patienten zuzumuten ist sämtliche innerhalb der Festbetragsregelung liegenden alternativen Präparate zuvor tatsächlich auszuprobieren, wenn bereits absehbar ist, dass sämtliche dieser Präparate zu krankhaften Nebenwirkungen führen werden".

Der erkennende Senat lässt offen, ob die Klägerin mit der Frage nicht lediglich auf die rechtliche Prüfung ihres individuellen Falls abzielt und eine durch § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ausgeschlossene Rüge der Verletzung des § 128 Abs 1 S 1 SGG als Rechtsfrage formuliert hat, also sich im Kern gegen die Richtigkeit der LSG-Entscheidung wendet (zu deren Irrelevanz für die Zulassung der Revision vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10; BSG Beschluss vom 22.5.2017 - B 1 KR 9/17 B - Juris RdNr 9 mwN). Die Klägerin zeigt jedenfalls die Klärungsbedürftigkeit der Frage nicht auf. Sie geht nicht darauf ein, dass der erkennende Senat bereits ausgeführt hat (BSGE 111, 146 = SozR 4-2500 § 35 Nr 6, RdNr 18): "Der Anspruch eines Versicherten auf eigenanteilsfreie Versorgung mit einem nur oberhalb des Festbetrags erhältlichen Festbetragsarzneimittel hängt ... davon ab, dass bei ihm zumindest objektiv nachweisbar eine zusätzliche behandlungsbedürftige Krankheit oder eine behandlungsbedürftige Verschlimmerung einer bereits vorliegenden Krankheit nach indikationsgerechter Nutzung aller anwendbaren, preislich den Festbetrag unterschreitenden Arzneimittel eintritt ...". Die Klägerin legt auch nicht die Entscheidungserheblichkeit dar. Sie geht nicht auf die von ihr mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ein, dass die von ihr angegebenen Nebenwirkungen weder iS des Vollbeweises nach den Regeln der ärztlichen Kunst gesichert seien noch bei allen anwendbaren zum Festbetrag erhältlichen Arzneimitteln eingetreten seien.

2. Die Klägerin bezeichnet den Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG ) ebenfalls nicht in einer den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG entsprechenden Weise. Wer eine Rechtsprechungsdivergenz darlegen will, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in der Entscheidung des Berufungsgerichts einerseits und in dem herangezogenen höchstrichterlichen Urteil andererseits gegenüberstellen und dazu ausführen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen (vgl zB BSG Beschluss vom 28.7.2009 - B 1 KR 31/09 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 28.6.2010 - B 1 KR 26/10 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - Juris RdNr 4 mwN). Erforderlich ist, dass das LSG bewusst einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt und nicht etwa lediglich fehlerhaft das Recht angewendet hat (vgl zB BSG Beschluss vom 15.1.2007 - B 1 KR 149/06 B - RdNr 4; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 S 44 f mwN). Auch daran fehlt es.

Die Klägerin stellt bereits keine abstrakten Rechtssätze gegenüber, sondern zitiert lediglich umfangreiche Passagen aus dem Urteil des BSG vom 3.7.2012 (BSGE 111, 146 = SozR 4-2500 § 35 Nr 6, RdNr 15, 16, Teile von RdNr 17 und 27) und dem des LSG (erster und zweiter Abs auf S 10 des Urteilsumdrucks). In diesem Zusammenhang macht die Klägerin sinngemäß geltend, wegen ihrer psychischen Erkrankung sei es ihr nicht zumutbar, "sämtliche Präparate zuvor auszuprobieren". Sollte die Klägerin damit darlegen wollen, das LSG habe den Rechtssatz aufgestellt, der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch hänge davon ab, dass jedes der Festbetragsarzneimittel eine zusätzliche behandlungsbedürftige Krankheit oder eine behandlungsbedürftige Verschlimmerung einer bestehenden Krankheit objektiv nachweisbar bewirke, zeigt sie nicht auf, dass das LSG damit von dem unter II. 1. zitierten Rechtssatz des erkennenden Senat abgewichen ist.

3. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 S 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24 , 36). Ein zur Zulassung der Revision führender Verfahrensmangel liegt - ungeachtet der Frage des Beruhenkönnens - schon dann nicht vor, wenn der Mangel durch Urteilsberichtigung oder -ergänzung zu beheben ist (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 4 RdNr 4, zur Urteilsergänzung nach § 140 SGG ; BSG vom 13.4.2000 - B 7 AL 222/99 B - Juris RdNr 10, zur Unvollständigkeit der Urteilsformel und ihrer Berichtigung nach § 138 SGG ; vgl auch BSG Beschluss vom 6.2.2018 - B 3 KR 40/17 B - Juris RdNr 11).

Die Klägerin legt nicht hinreichend einen Verstoß gegen § 136 Abs 1 Nr 6 SGG (Fehlen von Entscheidungsgründen) mit der Begründung dar, das LSG habe sein Urteil nicht begründet, weil die Ausführungen im Anschluss an den "Tatbestand" mit "Entscheidungsvorschlag" überschrieben seien. Die Klägerin setzt sich schon nicht hinreichend damit auseinander, warum das von den drei Berufsrichtern unterschriebene, ihrem Prozessbevollmächtigten zugestellte Urteil, das die inhaltliche Begründung mit "Entscheidungsvorschlag" überschreibt, nicht die endgültige, von allen Mitgliedern des Spruchkörpers getragene Begründung des Urteilstenors sein soll, sondern nur die vorläufige Begründung des Berichterstatters. Insoweit legt die Klägerin nicht dar, warum es sich nicht um eine offenbare Unrichtigkeit iS des § 138 SGG handele, die jederzeit von Amts wegen durch den Vorsitzenden zu berichtigen ist (§ 138 S 1 und 2 SGG ). Dabei haben die Beteiligten die Möglichkeit, den Vorsitzenden auf die Notwendigkeit der Berichtigung hinzuweisen (vgl Hauck in Zeihe/Hauck, SGG , Stand Oktober 2018, § 138 Anm 6). Die Klägerin behauptet auch nicht, sie habe sich erfolglos mit einer entsprechenden Anregung an das LSG gewandt.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG .

Vorinstanz: LSG Baden-Württemberg, vom 17.07.2018 - Vorinstanzaktenzeichen L 11 KR 1529/18
Vorinstanz: SG Heilbronn, vom 31.01.2018 - Vorinstanzaktenzeichen S 2 KR 3449/16