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BGH - Entscheidung vom 11.07.2019

V ZB 74/18

Normen:
FamFG § 426 Abs. 1 S. 1

BGH, Beschluss vom 11.07.2019 - Aktenzeichen V ZB 74/18

DRsp Nr. 2019/14186

Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Haftanordnung zur Sicherung der Abschiebung; Erforderlichkeit der Prognose über die Möglichkeit der Abschiebung des Betroffenen noch innerhalb des im Entscheidungszeitpunkt verbleibenden Zeitraums

Ein die Freiheitsentziehung anordnender Beschluss ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen darauf zu untersuchen, ob der Grund für die Freiheitsentziehung entfallen ist. Daher reicht es für die Aufrechterhaltung einer angeordneten Sicherungshaft nicht aus, wenn "völlig offen" ist, ob die Abschiebung noch innerhalb des Haftzeitraums erfolgen kann. Es muss nach dem bisherigen Verlauf des Abschiebungsverfahrens davon auszugehen sein, dass die Abschiebung innerhalb des verbleibenden Haftzeitraums erfolgen kann, anderenfalls ist die Haftanordnung aufzuheben.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 9. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund vom 4. Mai 2018 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Normenkette:

FamFG § 426 Abs. 1 S. 1;

Gründe

I.

Der Betroffene, ein vermutlich algerischer Staatsangehöriger, dessen Identität jedoch noch nicht geklärt ist, reiste im Jahr 2013 in das Bundesgebiet ein und stellte 2015 einen Asylantrag, der 2016 abgelehnt wurde. Unter Verwendung zahlreicher Aliasnamen tauchte er mehrmals unter. Am 14. Dezember 2017 wurde er von der Polizei aufgegriffen und festgenommen.

Das Amtsgericht hat auf Antrag der beteiligten Behörde am 15. Dezember 2017 Haft zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen bis zum 14. Juni 2018 angeordnet. Die gegen die Haftanordnung gerichtete Beschwerde hat das Landgericht mit Beschluss vom 4. Mai 2018 zurückgewiesen.

Der Senat hat die Vollziehung der Sicherungshaft durch Beschluss vom 5. Juni 2018 einstweilen ausgesetzt. Mit der Rechtsbeschwerde will der Betroffene die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung feststellen lassen. Die beteiligte Behörde beantragt die Zurückweisung des Rechtsmittels.

II.

Nach Auffassung des Beschwerdegerichts liegen die Voraussetzungen für eine Haftanordnung vor, insbesondere sei der Haftantrag zulässig. Die Sicherungshaft habe nach § 62 Abs. 3 Satz 3, Abs. 4 Satz 1 AufenthG für sechs Monate angeordnet werden können, weil der Betroffene zahlreiche Aliasnamen benutzt und bei der Passersatzpapierbeschaffung nicht mitgewirkt habe. Auch im Rahmen der Vorführung bei dem algerischen Generalkonsulat am 22. Februar 2018 habe er sich geweigert, Angaben zu seiner Person zu machen. Er habe es daher zu vertreten, dass die Abschiebung nicht innerhalb von drei Monaten durchgeführt werden könne.

Zwar sei zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung völlig offen, ob der Betroffene noch bis zum 14. Juni 2018 abgeschoben werden könne. Dies führe aber nicht zur Aufhebung der Haftanordnung, denn es bestehe weiterhin die Möglichkeit, dass die Identität des Betroffenen innerhalb der nächsten Wochen geklärt werde und er nach Erteilung von Passersatzpapieren abgeschoben werden könne.

III.

Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

1. Das Beschwerdegericht hat es versäumt, die erforderliche Prognose zu treffen, ob die Abschiebung des Betroffenen noch innerhalb des im Entscheidungszeitpunkt verbleibenden Zeitraums von sechs Wochen möglich war.

a) Ein die Freiheitsentziehung anordnender Beschluss ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen darauf zu untersuchen, ob der Grund für die Freiheitsentziehung entfallen ist (vgl. § 426 Abs. 1 Satz 1 FamFG ). Vor der Zurückweisung einer Beschwerde, die sich gegen eine Sicherungshaftanordnung richtet, hat das Beschwerdegericht daher unter Berücksichtigung des im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung erkennbaren Verlaufs des Abschiebungsverfahrens zu prüfen, ob die Abschiebung innerhalb des verbleibenden Haftzeitraums möglich ist; ist dies nicht der Fall, darf die Haft nicht aufrechterhalten werden (st. Rspr., vgl. etwa Senat, Beschluss vom 10. Juni 2010 - V ZB 205/09, juris Rn. 13; Beschluss vom 12. Mai 2011 - V ZB 309/10, juris Rn. 21; Beschluss vom 10. Mai 2012 - V ZB 246/11, FGPrax 2012, 225 Rn. 12; Beschluss vom 10. September 2018 - V ZB 182/17, InfAuslR 2019, 73 Rn. 4; Beschluss vom 24. Januar 2019 - V ZB 72/18, juris Rn. 10). Die Prognose ist auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Umstände zu erstrecken, die der Abschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können (vgl. Senat, Beschluss vom 14. April 2011 - V ZB 76/11, juris Rn. 8). Sie ist im Rechtsbeschwerdeverfahren zwar nur darauf zu überprüfen, ob das Beschwerdegericht die der Prognose zu Grunde liegenden Wertungsmaßstäbe zutreffend erkannt und alle für die Beurteilung wesentlichen Umstände berücksichtigt und vollständig gewürdigt hat (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Mai 2012 - V ZB 246/11, FGPrax 2012, 225 Rn. 12 mwN). Auch nach diesem Maßstab ist die Prognoseentscheidung des Beschwerdegerichts aber zu beanstanden.

b) Entgegen der Annahme des Beschwerdegerichts reicht es für die Aufrechterhaltung einer angeordneten Sicherungshaft nicht aus, wenn "völlig offen" ist, ob die Abschiebung noch innerhalb des Haftzeitraums erfolgen kann. Vielmehr muss nach dem bisherigen Verlauf des Abschiebungsverfahrens davon auszugehen sein, dass die Abschiebung innerhalb des verbleibenden Haftzeitraums erfolgen kann, anderenfalls ist die Haftanordnung aufzuheben.

Da die Identität des Betroffenen zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung weiterhin ungeklärt war und es nach Darstellung des Beschwerdegerichts selbst bei bekannter Identität drei Monate dauert, Passersatzpapiere für einen algerischen Staatsangehörigen zu beschaffen und die weiteren erforderlichen Vorbereitungsmaßnahmen zu treffen, konnte das Beschwerdegericht ohne nähere Sachaufklärung (§ 26 FamFG ) nicht annehmen, dass die Abschiebung des Betroffenen innerhalb der verbleibenden Zeit von sechs Wochen möglich sein würde.

Von der somit erforderlichen weiteren Sachaufklärung durfte das Beschwerdegericht nicht deshalb absehen, weil die Haft möglicherweise über sechs Monate hinaus hätte verlängert werden können, denn es fehlt bereits an Feststellungen dazu, dass die Behörde einen Verlängerungsantrag angekündigt hat (vgl. Senat, Beschluss vom 24. Januar 2019 - V ZB 72/18, juris Rn. 10; Beschluss vom 19. Juli 2018 - V ZB 179/15, InfAuslR 2018, 415 Rn. 21 ff. sowie den Beschluss des Senats über den Aussetzungsantrag des Betroffenen vom 5. Juni 2018 - V ZB 74/18, juris Rn. 1).

2. Verfahrensfehlerhaft ist die angegriffene Entscheidung ferner, weil das Beschwerdegericht nicht hinreichend geprüft hat, ob die Sicherungshaft unverhältnismäßig war, weil das Abschiebungsverfahren möglicherweise nicht mit der gebotenen Beschleunigung betrieben worden ist (§ 26 FamFG ).

a) Das aus Art. 2 Abs. 2 GG abzuleitende Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen ist verletzt, wenn die Ausländerbehörde nicht alle notwendigen Anstrengungen unternommen hat, um Ersatzpapiere zu beschaffen, damit der Vollzug der Abschiebungshaft auf eine möglichst kurze Zeit beschränkt werden kann (Senat, Beschluss vom 12. Mai 2011 - V ZB 309/10, juris Rn. 22 mwN).

b) Ob die Ausländerbehörde alle notwendigen Anstrengungen unternommen hat, um Ersatzpapiere zu beschaffen, hat das Beschwerdegericht unzureichend geprüft.

aa) Das Beschwerdegericht führt hierzu aus, die Behörde habe seit dem 16. Juni 2017 alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um die Identität des nicht zur Mitwirkung bereiten Betroffenen zu klären und Passersatzpapiere zu beschaffen. Eine für den Zeitraum 17. bis 19. Oktober 2017 geplante Vorführung bei dem algerischen Generalkonsulat habe nur deswegen nicht erfolgen können, weil dieser trotz einer entsprechenden Auflage nicht wieder beim Ausländeramt vorgesprochen habe. Anschließend habe die Zentrale Ausländerbehörde zum nächstmöglichen Termin am 22. Februar 2018 die Vorführung des Betroffenen veranlasst. Nachdem der Betroffene sich auch bei diesem Termin geweigert habe, Angaben zu seiner Person zu machen, sei ein Personenfeststellungsverfahren eingeleitet worden, bei dem anhand der von der Polizei genommenen Fingerabdrücke die Identität des Betroffenen geklärt werden solle.

bb) Die Beschwerde rügt zu Recht, dass sich diese Feststellungen mit dem Inhalt der Ausländerakte nicht in Einklang bringen lassen.

(1) Nach dem Akteninhalt war für den 17. Oktober 2017 eine Vorführung des Betroffenen bei dem algerischen Generalkonsulat festgelegt. Am 2. Oktober 2017 sprach der Betroffene von sich aus bei der beteiligten Behörde vor und teilte seine derzeitige Wohnanschrift mit. Ausweislich eines Aktenvermerks der beteiligten Behörde vom 5. Oktober 2017 und ihres Schreibens an die Zentrale Ausländerbehörde in K. vom selben Tage musste die festgelegte Vorführung wegen Personalknappheit storniert werden. Die nicht näher begründete Feststellung des Beschwerdegerichts, die Vorführung habe nicht erfolgen können, weil der Betroffene trotz einer entsprechenden Auflage nicht wieder beim Ausländeramt vorgesprochen habe, lässt sich mit diesem Akteninhalt nicht vereinbaren.

(2) Nicht nachvollziehbar ist auch die Annahme, nach der Vorführung am 22. Februar 2018 sei ein Verfahren zur Feststellung der Identität des Betroffenen anhand der Fingerabdrücke eingeleitet worden. Der Akteninhalt spricht gegen die Annahme, es sei ein (weiteres) Identitätsfeststellungsverfahren eingeleitet worden. Die Rechtsbeschwerde weist zutreffend darauf hin, dass die Fingerabdrücke des Betroffenen der beteiligten Behörde seit Juni 2013 vorgelegen haben sowie seit 31. Mai 2017 auch die Handflächenabdrücke und die weitere erkennungsdienstliche Erfassung des Betroffenen. Mit diesen Unterlagen wurde am 30. Juni 2017 ein Überprüfungsverfahren bei dem algerischen Generalkonsulat eingeleitet, das am 22. Dezember 2017 negativ abgeschlossen wurde. In dem Protokoll der Vorführung des Betroffenen vom 22. (dort: 21.) Februar 2018 ist festgehalten, dass eine weitere Identitätsüberprüfung nicht erfolge.

Angesichts dieses Akteninhalts wäre das Beschwerdegericht zur Prüfung der Einhaltung des Beschleunigungsgebots nach § 26 FamFG gehalten gewesen, nachzufragen, welche konkreten Maßnahmen die beteiligte Behörde in den gut 14 Wochen ergriffen hatte, die seit der Vorführung des Betroffenen am 22. Februar 2018 bis zu der Beschwerdeentscheidung vergangen waren.

3. Die weiteren von der Rechtsbeschwerde gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Beschwerdegerichts erhobenen Rügen bleiben ohne Erfolg; dies gilt insbesondere für die Rüge, die Haftanordnung sei auf der Grundlage eines unzulässigen Haftantrages erfolgt. Insoweit wird von einer Begründung abgesehen (§ 74 Abs. 7 FamFG ).

IV.

Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben (§ 74 Abs. 5 FamFG ). Die Sache ist an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen, weil weitere Sachverhaltsermittlungen erforderlich sind (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG ). Das Beschwerdegericht hat die für die Prognose der Durchführbarkeit der Abschiebung innerhalb der zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung verbleibenden Haftdauer sowie die für die Beurteilung der Beachtung des Beschleunigungsgebotes fehlenden Feststellungen zu treffen und danach über den Feststellungsantrag des Betroffenen zu entscheiden.

1. Für die Nachholung der Prognoseentscheidung weist der Senat darauf hin, dass im Hinblick auf die Regelung in § 62 Abs. 4a AufenthG von einer Aufhebung des noch nicht abgelaufenen Teils der angeordneten Sicherungshaft nach dem Scheitern des Versuchs der Rücküberstellung abzusehen ist, wenn zu erwarten ist, dass die Haft aufgrund eines entsprechenden bereits gestellten oder vorbereiteten Haftantrags verlängert wird (vgl. Senat, Beschluss vom 19. Juli 2018 - V ZB 179/15, InfAuslR 2018, 415 Rn. 21 ff.), was gegebenenfalls auch noch nachträglich festgestellt werden könnte.

2. Hinsichtlich der Einhaltung des Beschleunigungsgebotes gibt die Zurückverweisung dem Beschwerdegericht Gelegenheit, sich mit der von dem Betroffenen bereits im Beschwerdeverfahren erhobenen Rüge auseinanderzusetzen, dass nach Art. 2 Abs. 1 des Protokolls zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen Volksrepublik Algerien über die Identifizierung und Rückübernahme (BGBl. II 2004, 16 ) keine Sammelvorführung vorgesehen ist, sondern die algerischen Konsularbehörden unverzüglich eine Anhörung der betreffenden Person in der Justizvollzugs- oder Abschiebehaftanstalt durchführen, so dass zweifelhaft erscheint, ob der Haftzeitraum bis zur Sammelvorführung am 22. Februar 2018 erforderlich war. Soweit die Behörde im Beschwerdeverfahren geltend gemacht hat, die Möglichkeit einer Einzelbefragung in der Haftanstalt bestehe "in der Praxis" nicht, reicht diese Angabe nicht aus. Das Beschleunigungsgebot wäre vielmehr nur eingehalten, wenn die algerischen Konsularbehörden um eine solche Einzelbefragung ersucht worden sein und diese abgelehnt haben sollten oder wenn eine generelle Mitteilung der algerischen Behörden vorläge, dass derartige Einzelbefragungen nicht stattfinden.

Vorinstanz: AG Dortmund, vom 15.12.2017 - Vorinstanzaktenzeichen 810 XIV (B) 87/17
Vorinstanz: LG Dortmund, vom 04.05.2018 - Vorinstanzaktenzeichen 9 T 31/18