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BGH - Entscheidung vom 24.01.2019

V ZB 72/18

Normen:
AufenthG § 72 Abs. 4

BGH, Beschluss vom 24.01.2019 - Aktenzeichen V ZB 72/18

DRsp Nr. 2019/8037

Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung eines Ausländers; Erforderlichkeit der Zustimmung der Staatsanwaltschaft zur Abschiebung

Ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, darf nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft abgeschoben werden. Fehlt das Einvernehmen, scheidet die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung eines Ausländers aus.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 23. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld vom 10. April 2018 aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass dieser Beschluss den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat, soweit die mit Beschluss des Amtsgerichts Bielefeld vom 25. Januar 2018 angeordnete Sicherungshaft für den Zeitraum vom 10. bis zum 24. April 2018 aufrechterhalten worden ist.

Im Übrigen wird die Sache zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Normenkette:

AufenthG § 72 Abs. 4 ;

Gründe

I.

Der Betroffene, ein algerischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 28. August 2014 unerlaubt in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend BAMF) vom 30. April 2016 wurde dieser abgelehnt und die Abschiebung des Betroffenen nach Algerien angeordnet. Der Betroffene reiste zunächst nach Österreich, von wo aus er im März 2017 nach Deutschland rücküberstellt wurde. Seit Juli 2017 hielt er sich nicht mehr an der ihm zugewiesenen Unterkunft auf und vermied jeden Behördenkontakt. Am 24. Januar 2018 wurde er am Bahnhof B. durch die Bundespolizei festgenommen. Dieser gegenüber gab er an, zuletzt in Frankreich gelebt und für seine Schleusung 5.000 € gezahlt zu haben.

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 25. Januar 2018 Haft zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen bis zum 24. April 2018 angeordnet. Seine dagegen gerichtete Beschwerde hat das Landgericht mit Beschluss vom 10. April 2018 zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt der Betroffene, der am 24. April 2018 aus der Haft entlassen worden ist, die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft. Die beteiligte Behörde beantragt, die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.

II.

Nach Auffassung des Beschwerdegerichts ist die Haftanordnung rechtmäßig. Es lägen die Haftgründe gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 5 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 3 und 4 AufenthG vor. Des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft habe es nicht bedurft, da „das Strafverfahren“ eingestellt worden sei. Die Dauer der Haft sei angemessen. Der Betroffene sei inzwischen seinem Konsulat vorgeführt worden, und es sei nunmehr Sache seiner Heimatbehörden, die Identifizierung des Betroffenen durchzuführen. Etwaige Verzögerungen habe er sich selbst zuzuschreiben, da er durch die mangelnde Mitwirkung bei der konsularischen Vorführung möglicherweise seine Rückführung verzögert habe.

III.

Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

1. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass § 72 Abs. 4 AufenthG der Abschiebung des Betroffenen entgegengestanden haben könnte.

a) Ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, darf nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG - von den Ausnahmen gemäß § 72 Abs. 4 Satz 3 bis 5 AufenthG abgesehen - nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft abgeschoben werden. Fehlt das Einvernehmen, scheidet die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung eines Ausländers aus (Senat, Beschluss vom 19. Juli 2018 - V ZB 179/15, FGPrax 2018, 285 Rn. 7 mwN; Beschluss vom 27. September 2017 - V ZB 26/17, juris Rn. 4; Beschluss vom 13. September 2018 - V ZB 231/17, InfAuslR 2018, 418 Rn. 4).

b) Ob § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG einer Abschiebung des Betroffenen entgegenstand, haben der Haftrichter und das Beschwerdegericht nur unzureichend geprüft.

aa) In dem Haftantrag wird lediglich ein Verfahren gegen den Betroffenen wegen Verstoßes gegen § 95 AufenthG erwähnt, das die Zustimmung der Staatsanwaltschaft zur Abschiebung nicht erforderlich mache. In der Haftanordnung des Amtsgerichts heißt es, das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft sei nicht einzuholen, weil in beiden Verfahren, in denen der Betroffene rechtskräftig verurteilt worden sei, die Vollstreckung erledigt sei (hiermit dürften die Verfahren der Staatsanwaltschaft Kleve 202 Js 1070/15 - 200 Js 35/16 und der Staatsanwaltschaft Wuppertal 622 Js 5398/16 gemeint sein). Hinsichtlich des noch anhängigen Verfahrens wegen des unerlaubten Aufenthalts sei das Einvernehmen entbehrlich. Das Beschwerdegericht teilt ergänzend mit, dass ein seitens der Staatsanwaltschaft nach § 154f StPO eingestelltes Verfahren (gemeint ist wohl das Verfahren der Staatsanwaltschaft Köln 192 Js 1317/14) der Durchführbarkeit der Abschiebung nicht entgegenstehe.

bb) Diese Feststellungen sind nicht ausreichend. Der Haftrichter und das Beschwerdegericht hätten anhand der über den Betroffenen geführten Ausländerakte prüfen müssen, ob gegen diesen (weitere) strafrechtliche Ermittlungsverfahren geführt werden, für die das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft nach § 72 Abs. 4 AufenthG erforderlich ist, und, bejahendenfalls, ob sämtliche erforderlichen Einvernehmenserklärungen vorliegen (vgl. Senat, Beschluss vom 12. Oktober 2016 - V ZB 8/15, juris Rn. 15; Beschluss vom 13. September 2018 - V ZB 231/17, InfAuslR 2018, 418 Rn. 5). Die Prüfung hätte ergeben, dass sich - worauf die Rechtsbeschwerde zu Recht hinweist - in der Ausländerakte Hinweise auf mindestens vier weitere gegen den Betroffenen geführte staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren finden (Staatsanwaltschaft Dortmund 305 Js 1360/14, Staatsanwaltschaft Arnsberg 362 Js 903/14, Staatsanwaltschaft Kleve 200 Js 459/15 und Staatsanwaltschaft Wuppertal 326 Js 4946/15) sowie zwei polizeiliche Vermerke über den Verdacht weiterer Straftaten des Betroffenen (Vermerk der Bundespolizeiinspektion Stuttgart vom 15. Februar 2015 über ein Ermittlungsverfahren wegen des Erschleichens von Leistungen und Protokoll der Polizeiwache Döppersberg über eine Durchsuchung/Sicherstellung vom 18. Januar 2017 wegen versuchten Diebstahls). Auch hinsichtlich dieser Verfahren wäre jeweils festzustellen gewesen, dass das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft mit der Abschiebung vorlag oder dass und aus welchen Gründen es jeweils entbehrlich war. Dies gilt auch für das Strafverfahren, das nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts gemäß § 154f StPO eingestellt wurde. Auch ein nach dieser Vorschrift eingestelltes Verfahren ist von dem Zustimmungserfordernis nach § 72 Abs. 4 AufenthG erfasst (vgl. Senat, Beschluss vom 13. September 2018 - V ZB 231/17, InfAuslR 2018, 418 Rn. 5).

2. Zudem hat es das Beschwerdegericht versäumt, die nach § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG erforderliche Prognose zu treffen, ob die Abschiebung noch innerhalb des in seinem Entscheidungszeitpunkt verbleibenden Zeitraums von vierzehn Tagen möglich war (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Mai 2012 - V ZB 246/11, FGPrax 2012, 225 Rn. 12; Beschluss vom 10. September 2018 - V ZB 182/17, InfAuslR 2019, 73 Rn. 4). Hierzu hätte das Beschwerdegericht zumindest in Erfahrung bringen müssen, ob das Passersatzverfahren inzwischen abgeschlossen war, da allein schon die im Anschluss daran erfolgende Flugbuchung nach den Darstellungen der beteiligten Behörde im Haftantrag einen Zeitraum von zwei Wochen in Anspruch nehmen sollte. Davon durfte das Beschwerdegericht nicht deshalb absehen, weil die Haft möglicherweise über drei Monate hinaus hätte verlängert werden können, denn es fehlt bereits an Feststellungen dazu, dass die Behörde einen Verlängerungsantrag angekündigt hat (vgl. Senat, Beschluss vom 5. Juni 2018 - V ZB 74/18, juris Rn. 1).

3. Die weiteren von der Rechtsbeschwerde gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Beschwerdegerichts erhobenen Rügen bleiben ohne Erfolg. Insoweit wird von einer Begründung abgesehen (§ 74 Abs. 7 FamFG ).

IV.

1. Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben (§ 74 Abs. 5 FamFG ).

2. Soweit die Haftanordnung des Amtsgerichts durch das Beschwerdegericht für den Zeitraum vom 10. April bis zum 24. April 2018 aufrechterhalten wurde, kann der Senat die Rechtswidrigkeit der Haft selbst feststellen, da weitere Sachverhaltsermittlungen nicht erforderlich sind. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die versäumte Prognose nachgeholt werden könnte, da angesichts des tatsächlichen Verlaufs davon auszugehen ist, dass sie ergeben hätte, dass die Abschiebung nicht mehr innerhalb des verbleibenden Haftzeitraums möglich war.

3. Soweit die Rechtswidrigkeit der Haft im Zeitraum vom 25. Januar bis zum 9. April 2018 geltend gemacht wird, ist die Sache an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen, weil weitere Sachverhaltsermittlungen erforderlich sind (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG ). Dieses wird aufzuklären haben, ob das Einvernehmen der Staatsanwaltschaften mit der Abschiebung des Betroffenen in den aus der Ausländerakte ersichtlichen Verfahren vorlag oder ob es jeweils ausnahmsweise gemäß § 72 Abs. 4 Satz 3 bis 5 AufenthG entbehrlich war. Dabei ist zu beachten, dass eine „begleitende“ Straftat im Sinne von § 72 Abs. 4 Sätze 4 und 5 AufenthG nur vorliegt, wenn zwischen der Straftat mit geringem Unrechtsgehalt und einer Straftat nach § 95 AufenthG oder § 9 FreizügigG/EU ein inhaltlicher Zusammenhang besteht (vgl. hierzu Senat, Beschluss vom 19. Juli 2018 - V ZB 179/15, FGPrax 2018, 285 [Ls. 1]; Beschluss vom 13. September 2018 - V ZB 231/17, InfAuslR 2018, 418 Rn. 6). Die gebotene Gewährung des rechtlichen Gehörs zu den von dem Beschwerdegericht zu treffenden Feststellungen kann gegebenenfalls dadurch erfolgen, dass der Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt wird (vgl. Senat Beschluss vom 27. September 2017 - V ZB 26/17, juris Rn. 9; Beschluss vom 13. September 2018 - V ZB 231/17, InfAuslR 2018, 418 Rn. 6).

Vorinstanz: AG Bielefeld, vom 25.01.2018 - Vorinstanzaktenzeichen 90 XIV(B) 117/18
Vorinstanz: LG Bielefeld, vom 10.04.2018 - Vorinstanzaktenzeichen 23 T 86/18