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BSG - Entscheidung vom 16.05.2018

B 6 KA 4/18 B

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3

BSG, Beschluss vom 16.05.2018 - Aktenzeichen B 6 KA 4/18 B

DRsp Nr. 2018/7704

Wegfall eines Honoraranspuchs für erbrachte Dialyseleistungen Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren Keine Verpflichtung des Gerichts zur Übernahme von Rechtsstandpunkten eines Beteiligten Berücksichtigung von Sachvortrag

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben Verfahrensbeteiligte grundsätzlich keinen Anspruch darauf, dass ein Gericht deren jeweilige Rechtsstandpunkte übernimmt. 2. Lediglich Sachvortrag ist vom Gericht zur Kenntnis zu nehmen und bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 18. Oktober 2017 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird auf 497 627 Euro festgesetzt.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 ;

Gründe:

I

Die klagende Berufsausübungsgemeinschaft betreibt an zwei Standorten in B. Dialysepraxen. Darüber hinaus verfügte sie über eine Abrechnungsgenehmigung für Leistungen der zentralisierten Heimdialyse in einer Betriebsstätte in Brandenburg. Nach einem Streit über die Verlängerung dieser Abrechnungsgenehmigung schlossen die Beteiligten am 30.11.2005 einen Vergleich, wonach die Klägerin in der Betriebsstätte in Brandenburg bis zum 30.11.2008 Dialysen für Patienten erbringen durfte, die zum Zeitpunkt des Vergleichsschlusses dort dialysiert wurden. Bei einem Verstoß hiergegen sollte die Vereinbarung erlöschen und als Folge für sämtliche in dieser Betriebsstätte erbrachten Dialyseleistungen kein Vergütungsanspruch mehr bestehen. Gestützt hierauf hob die Beklagte mit Bescheid vom 31.8.2010 und Widerspruchsbescheid vom 18.1.2011 die Honorarbescheide für die Quartale I/2006 bis IV/2007 hinsichtlich der Vergütung für die in der Betriebsstätte in Brandenburg durchgeführten Dialysen auf und forderte 1 210 487,84 Euro zurück. Es seien drei Patienten nach Abschluss des Vergleichs dialysiert worden, die zum Zeitpunkt des Vergleichsschlusses noch nicht in Behandlung gewesen seien. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 24.4.2013 abgewiesen. Das LSG hat das Urteil des SG geändert und den angefochtenen Bescheid hinsichtlich des Jahres 2006 aufgehoben. Es stehe fest, dass ein Versicherter nach dem 4.1.2007 entgegen der Verpflichtung der Klägerin aus dem Vergleich in der Betriebstätte in Brandenburg dialysiert worden sei. Dass bereits 2006 unzulässige Behandlungen erfolgt seien, sei nicht erwiesen. Ein Verstoß gegen die Pflichten aus dem Vergleich bewirke einen Honorarverlust ex nunc.

Gegen die Nichtzulassung der Revision in der Entscheidung des LSG wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde, zu deren Begründung sie eine Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG ) sowie Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG ) geltend macht.

II

Die Beschwerde der Klägerin hat keinen Erfolg.

1. Es kann offenbleiben, ob ein Verfahrensmangel hinreichend gerügt ist. Ein solcher Fehler liegt jedenfalls nicht vor. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 S 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

Ein Verfahrensmangel in Form einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, §§ 62 , 128 Abs 2 SGG , liegt nicht vor. Dass das LSG seine Entscheidung überraschend auf einen Gesichtspunkt gestützt hat, mit dem die Klägerin nicht rechnen konnte, ist nicht ersichtlich. Eine Überraschungsentscheidung ist nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG (vgl BVerfGE 84, 188 , 190; BVerfGE 86, 133 , 144 f; BVerfGE 98, 218 , 263; BVerfG [Kammer] Beschluss vom 7.10.2009 - 1 BvR 178/09 - Juris RdNr 8) wie auch des BSG (SozR 3-4100 § 103 Nr 4 S 23; SozR 4-2500 § 103 Nr 6 RdNr 17) nicht bereits dann anzunehmen, wenn einer der Beteiligten eine andere Entscheidung des Gerichts erwartet hat. Voraussetzung ist vielmehr, dass das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wende gibt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht. Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (BSGE 120, 254 = SozR 4-2500 § 119 Nr 2, RdNr 24 mwN).

Anhaltspunkte für eine solche Überraschungsentscheidung bestehen hier nicht. Dass das LSG einen Wegfall des Honoraranspruchs für die Behandlungen in Brandenburg ab dem Beginn des Quartals I/2007 angenommen hat, begründet keine unzulässige "Überraschung" der Klägerin. Die Frage, auf welchen Zeitpunkt für den Wegfall des Honoraranspruchs nach dem Vergleich abzustellen war, durchzog das gesamte Verfahren. Er war nach dem Vortrag der Klägerin auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung vor dem LSG. Dass sie der Äußerung des Gerichts, dem Verstoß gegen den Vergleich komme nur ex-nunc-Wirkung zu, die Bedeutung beigemessen hat, es komme auf den konkreten Tag des Verstoßes an, belegt keinen Gehörsverstoß. Das Abstellen auf den Beginn des Quartals entspricht der quartalsweisen Abrechnung vertragsärztlichen Honorars. Diese Orientierung an den üblichen Abrechnungszeiträumen ist keine für einen kundigen Prozessbeteiligten überraschende Vorgehensweise.

Das LSG hat auch nicht gegen das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs verstoßen, indem es wesentliches Vorbringen der Klägerin übergangen hat. Art 103 Abs 1 GG verpflichtet ebenso wie § 62 SGG die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Fehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Beteiligten haben könnten. Dieses Gebot verpflichtet die Gerichte allerdings nicht, der Rechtsansicht eines der Beteiligten zu folgen (vgl BVerfG [Kammer] vom 4.9.2008 - 2 BvR 2162/07, 2 BvR 2271/07 - BVerfGK 14, 238, 241 f, unter Hinweis auf BVerfGE 64, 1 , 12 und BVerfGE 87, 1 , 33 = SozR 3-5761 Allg Nr 1 S 4; ebenso BVerfG [Kammer] vom 20.7.2011 - 1 BvR 3269/10 - Juris RdNr 3 am Ende). Die Gerichte sind auch nicht verpflichtet, jedes Vorbringen der Beteiligten ausdrücklich zu bescheiden; sie müssen nur das wesentliche, der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dienende Vorbringen in den Entscheidungsgründen verarbeiten (stRspr des BVerfG, s zB BVerfG [Kammer] vom 20.2.2008 - 1 BvR 2722/06 - BVerfGK 13, 303, 304 = Juris, dort RdNr 9 ff mwN; BVerfGK 7, 485, 488). Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Berücksichtigung von Vorbringen ist dann anzunehmen, wenn sich dies aus den besonderen Umständen des Falles ergibt (vgl BVerfGE 22, 267 , 274; 96, 205, 216 f), zB wenn ein Gericht das Gegenteil des Vorgebrachten annimmt, den Vortrag eines Beteiligten als nicht existent behandelt (vgl BVerfGE 22, 267 , 274) oder wenn es auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingeht, es sei denn, der Tatsachenvortrag ist nach der materiellen Rechtsauffassung des Gerichts unerheblich (BVerfGE 86, 133 , 146).

Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben. Soweit die Klägerin geltend macht, das LSG habe ihre Hinweise nicht berücksichtigt, dass einzelne Patienten, für deren Behandlung Honorar zurückgefordert worden sei, in B. und nicht in Brandenburg dialysiert worden seien, trifft dies nicht zu. Wie sich aus dem von der Klägerin vorgelegten Schreiben des Berichterstatters vom 3.11.2016 an ihren Bevollmächtigten ergibt, hat der Senat sich mit dem Vortrag zu den Patienten S. und G. auseinandergesetzt. Dass es dabei der Rechtsauffassung der Klägerin nicht gefolgt ist, begründet keinen Gehörsverstoß. Auch das Fehlen ausdrücklicher Ausführungen im Urteil hierzu lässt nicht den Schluss zu, das entsprechende Vorbringen der Klägerin sei insgesamt nicht zur Kenntnis genommen worden. Im Kern rügt die Klägerin mit ihrem Vortrag die aus ihrer Sicht sachlich unzutreffende Entscheidung des LSG hinsichtlich der Höhe der Honorarkorrektur. Das vermag die Zulassung der Revision nicht zu begründen.

2. Soweit die Klägerin eine Divergenz zur Rechtsprechung des Senats sieht, sind ihre Darlegungen unzureichend. Es reicht für die Geltendmachung einer Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG grundsätzlich nicht aus, aus dem LSG-Urteil inhaltliche Schlussfolgerungen abzuleiten, die einem höchstrichterlich aufgestellten Rechtssatz widersprechen. Für die Zulassung einer Revision wegen einer Rechtsprechungsabweichung ist Voraussetzung, dass entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze aus dem LSG-Urteil und aus einer Entscheidung des BSG , des GmSOGB oder des BVerfG miteinander unvereinbar sind und das Berufungsurteil auf dieser Divergenz beruht (vgl BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 28 RdNr 4; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 S 44). Eine Abweichung liegt nicht schon dann vor, wenn das LSG einen Rechtssatz nicht beachtet oder unrichtig angewandt hat. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Divergenz (stRspr, vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 21 , 29 und 67). Das LSG-Urteil einerseits und die höchstrichterliche Entscheidung andererseits müssen jeweils abstrakte Rechtssätze enthalten, die einander widersprechen. Das hat die Klägerin hier nicht aufgezeigt. Die von ihr benannte Entscheidung vom 17.9.1997 ( 6 RKa 86/95 - SozR 3-5550 § 35 Nr 1) verhält sich zur Rechtswidrigkeit eines Honorarbescheides aufgrund einer unrichtigen Abrechnungs-Sammelerklärung. Es fehlt nicht nur an der genauen Bezeichnung sich widersprechender Rechtssätze, sondern auch an jeder Darlegung, in welchem Bezug die Entscheidung des LSG, die im Wesentlichen auf der Grundlage des Wortlauts des konkreten Vergleichs zwischen den Beteiligten fußt, zu den Ausführungen des BSG in diesem Urteil steht.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm §§ 154 ff VwGO . Als erfolglose Rechtsmittelführerin hat die Klägerin auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen (§ 154 Abs 2 VwGO ).

4. Die Festsetzung des Streitwerts entspricht der nach der Entscheidung des LSG noch streitbefangenen Honorarrückforderung für das Jahr 2007 (§ 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 52 Abs 3 S 1, § 47 Abs 1 und 3 GKG ).

Vorinstanz: LSG Berlin-Brandenburg, vom 18.10.2017 - Vorinstanzaktenzeichen L 7 KA 50/13
Vorinstanz: SG Berlin, vom 24.04.2013 - Vorinstanzaktenzeichen S 79 KA 87/11