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BSG - Entscheidung vom 15.02.2017

B 3 P 25/16 B

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3

BSG, Beschluss vom 15.02.2017 - Aktenzeichen B 3 P 25/16 B

DRsp Nr. 2017/10006

Aufwendungen für Ersatzpflege Verfahrensrüge Begriff des Verfahrensmangels Prozessuales Vorgehen des Gerichts auf dem Weg zum Urteil

1. Verfahrensmangel i.S. des § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG ist ein Verstoß des Gerichts im Rahmen des prozessualen Vorgehens ("error in procedendo") im unmittelbar vorangehenden Rechtszug. 2. Voraussetzung ist ein Verstoß gegen das rechtsstaatliche Gebot eines fairen, willkürfreien Verfahrens, insbesondere ein Verstoß gegen eine Vorschrift, die das sozialgerichtliche Verfahren regelt. 3. Es geht mithin nicht um den sachlichen Inhalt des Urteils oder die Richtigkeit der Entscheidung, sondern allein um das prozessuale Vorgehen des Gerichts auf dem Weg zum Urteil.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. Oktober 2016 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 ;

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten über die Erstattung von Aufwendungen für Ersatzpflege in den Jahren 2012 und 2013. Das LSG Nordrhein-Westfalen hat die Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende SG -Urteil als unzulässig verworfen, da die Berufung nicht innerhalb der gesetzlichen Frist eingelegt worden sei. Ausweislich der Postzustellungsurkunde (PZU) sei dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin das erstinstanzliche Urteil vom 17.9.2015 am 29.9.2015 zugestellt worden. Es handele sich hierbei um eine Tatsache, die durch die PZU im Wege des Urkundsbeweises als erwiesen anzusehen sei und daher keiner weiteren Ermittlungen bedürfe, auch wenn der Prozessbevollmächtigte der Klägerin behaupte, das Urteil sei ihm erst am 2.10.2015 zugegangen. Nicht relevant sei, ob der handschriftliche Vermerk "Ausf. d. U. v. 17.9.2015" zeitlich vor oder nach dem Eingangsstempel des SG vom 1.10.2015 auf die PZU geschrieben worden sei. Maßgebend sei allein der auf der Rückseite der PZU mit dem 29.9.2015 eindeutig dokumentierte Einwurf des Schriftstücks durch die Zustellungsperson. Die Monatsfrist zur Einlegung der Berufung habe daher am 29.10.2015 geendet, sodass die am 2.11.2015 beim LSG eingegangene Berufung verfristet gewesen sei.

Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG und macht Verfahrensmängel geltend.

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie nicht in der durch § 160 Abs 2 , § 160a Abs 2 SGG normierten Form begründet worden ist. Sie ist deshalb ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1, § 169 SGG ). Die Klägerin legt den Zulassungsgrund eines Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG ) nicht so dar, wie § 160a Abs 2 S 3 SGG dies verlangt.

Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, müssen für die Bezeichnung des Verfahrensmangels die ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist darzulegen, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist ein Verstoß des Gerichts im Rahmen des prozessualen Vorgehens ("error in procedendo") im unmittelbar vorangehenden Rechtszug (vgl zB BSG Beschluss vom 28.1.2009 - B 6 KA 27/07 B - Juris; BSG Beschluss vom 28.12.2005 - B 2 U 52/05 B - Juris sowie Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG , 11. Aufl 2014, § 160 RdNr 16a). Voraussetzung ist ein Verstoß gegen das rechtsstaatliche Gebot eines fairen, willkürfreien Verfahrens, insbesondere ein Verstoß gegen eine Vorschrift, die das sozialgerichtliche Verfahren regelt. Es geht mithin nicht um den sachlichen Inhalt des Urteils oder die Richtigkeit der Entscheidung, sondern allein um das prozessuale Vorgehen des Gerichts auf dem Weg zum Urteil (vgl Leitherer, aaO, § 144 RdNr 32).

In der Beschwerdebegründung wird zwar zunächst ausführlich dargelegt, dass und warum die Entscheidung des Berufungsgerichts aus Sicht der Klägerin falsch ist. Insbesondere wird behauptet, dass dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin das Urteil nicht am 29.9.2015 zugestellt worden sei, sondern er das Schreiben erst am 2.10.2015 erhalten habe. Dies betrifft jedoch lediglich die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung; ein Verstoß im prozessualen Vorgehen des Berufungsgerichts wird damit nicht dargelegt.

Den Ausführungen in der Beschwerdebegründung, das LSG habe zunächst schriftlich bestätigt, dass der Klägerin die angefochtene Entscheidung am 2.10.2015 zugestellt worden sei, sodass sich diese erst zu einem Zeitpunkt an die Zustellfirma zur Aufklärung des Sachverhalts gewandt habe, als dort die Unterlagen bereits vernichtet gewesen seien, kann ebenfalls nicht entnommen werden, worin ein für die Entscheidung bedeutsamer Verfahrensfehler des LSG liegen könnte. Es wird weder eine Verfahrensvorschrift benannt, gegen die verstoßen worden sein könnte, noch wird ein Verstoß gegen das rechtsstaatliche Gebot eines fairen, willkürfreien Verfahrens aufgezeigt, und es wird auch nicht dargelegt, aus welchen Gründen die Entscheidung auf einer möglicherweise fehlerhaften Eingangsbestätigung beruhen könnte.

Ein Verfahrensmangel wird auch nicht durch die Darlegungen zu einer möglichen Verwechslung aufgezeigt, die nach den klägerseitigen Ausführungen darauf beruhen könnte, dass für die Klägerin noch ein weiteres Urteil ergangen ist, das möglicherweise Inhalt des durch die vorliegende PZU zugegangenen Briefes war. Eine solche Verwechslung ist im Hinblick auf das in der PZU angegebene Aktenzeichen des vorliegenden Verfahrens nicht nachvollziehbar und deshalb nicht substantiiert dargetan.

Ein Mangel im berufungsgerichtlichen Verfahren wird auch nicht dadurch dargelegt, dass die PZU möglicherweise mangelbehaftet ist. Den ausführlichen Rechtsausführungen hierzu fehlen Darlegungen zu einem Verstoß gegen Verfahrensvorschriften oder -grundsätzen. Soweit das Berufungsgericht davon ausgeht, zur Frage des Zustellungszeitpunktes des Urteils habe es keiner weiteren Ermittlungen bedurft, da der in der PZU angegebene Zeitpunkt im Wege des Urkundsbeweises als erwiesen anzusehen sei, ist die darin liegende Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG ) gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG einer Verfahrensrüge grundsätzlich nicht zugänglich. Wird zudem - wie hier - ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 103 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG ) gerügt, muss die Beschwerdebegründung hierzu folgende Punkte enthalten: (1) Bezeichnung eines für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrags, dem das LSG nicht gefolgt ist, (2) Wiedergabe der Rechtsauffassung des LSG, aufgrund derer bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen und zur weiteren Sachaufklärung drängen müssen, (3) Angabe des voraussichtlichen Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme und (4) Schilderung, dass und warum die Entscheidung des LSG auf einer angeblich fehlerhaften unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann, das LSG mithin bei Kenntnis des behaupteten Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme von seinem Rechtsstandpunkt aus zu einem anderen, dem Beschwerdeführer günstigen Ergebnis hätte gelangen können (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 5 mwN).

Diesen Maßstäben entspricht das Beschwerdevorbringen nicht. Zwar wird in der Beschwerdebegründung Bezug auf einen Antrag des Prozessbevollmächtigten der Klägerin genommen, die mündliche Verhandlung zu vertagen, bis ein graphologisches Sachverständigengutachten eingegangen ist. Es fehlt aber an Darlegungen dazu, dass nach der Rechtsauffassung des LSG bestimmte Tatfragen noch klärungsbedürftig erschienen und zur weiteren Sachaufklärung hätten drängen müssen. Das Berufungsgericht hat die Aufklärung der Frage, ob der handschriftliche Vermerk auf der PZU zur Ausfertigung des Urteils vom 17.9.2015 vor oder nach dem Eingangsstempel des SG auf der PZU angebracht wurde, für rechtlich irrelevant gehalten. Eine grundsätzliche Bedeutung der zugrunde liegenden Rechtsfrage ist insoweit ebenso wenig geltend gemacht worden wie eine Divergenz zu höchstrichterlicher Rechtsprechung. Verfahrensrechtlich ist das Vorgehen des Berufungsgerichts auf der Grundlage des Vorbringens der Klägerin nicht erkennbar zu beanstanden. Abgesehen davon fehlen auch Darlegungen dazu, dass die Entscheidung des LSG auf der fehlenden, aber geltend gemachten notwendigen Beweisaufnahme beruhen kann, und zu der Frage, warum sich das Berufungsgericht zu dieser Beweisaufnahme hätte gedrängt sehen müssen. Das in der PZU aufgeführte Aktenzeichen des vorliegenden Verfahrens schließt eine Verwechselung mit einer Zustellung aus einem anderen Verfahren prima facie auch nach dem Beschwerdevorbringen praktisch aus. Zudem wurde der Auftrag zur Postzustellung am 25.9.2015 und damit an dem Tag erteilt, als die Geschäftsstelle den Absendevermerk gefertigt hat. Auch der Gegenseite ist das Urteil am 29.9.2015 zugegangen. Selbst wenn es - wie in der Beschwerdebegründung ausgeführt wird - "nicht ausgeschlossen" sein mag, dass am 29.9.2015 ein anderes Schriftstück zugestellt wurde und der Klägerin Sitzungsprotokolle auch separat übersandt wurden, ist es vor diesem Hintergrund verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden, wenn das Berufungsgericht es für unerheblich hielt, ob der Vermerk: "Ausf. d. U. v. 17.9.15" vor oder nach dem Rücklauf der PZU vom SG eingetragen wurde.

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG ).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG .

Vorinstanz: LSG Nordrhein-Westfalen, vom 06.10.2016 - Vorinstanzaktenzeichen L 5 P 92/15
Vorinstanz: SG Gelsenkirchen, - Vorinstanzaktenzeichen S 9 P 31/15