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BSG - Entscheidung vom 29.12.2016

B 8 SO 56/16 B

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3
SGG § 153 Abs. 4 S. 1
EMRK Art. 6 Abs. 1

BSG, Beschluss vom 29.12.2016 - Aktenzeichen B 8 SO 56/16 B

DRsp Nr. 2017/9869

Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Verfahrensrüge Entscheidung ohne mündliche Verhandlung Erneute mündliche Verhandlung vor dem LSG

1. Der Vorwurf, das LSG habe fehlerhaft durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung entschieden, genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen an eine Beschwerdebegründung. 2. Die Entscheidung, die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 SGG zurückzuweisen, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts und kann nur auf fehlerhaften Gebrauch, d.h. sachfremde Erwägungen und grobe Fehleinschätzung überprüft werden. 3. Zwar ist § 153 Abs. 4 SGG unter Beachtung des nach Art. 6 Abs. 1 EMRK anerkannten Rechts auf (mindestens) eine mündliche Verhandlung eng und in einer für die Beteiligten möglichst schonenden Weise auszulegen und anzuwenden. 4. Wenn allerdings erstinstanzlich schon eine mündliche Verhandlung durchgeführt worden ist, muss ein Beschwerdeführer zur ordnungsgemäßen Bezeichnung des Verfahrensmangels im Einzelnen darlegen, weshalb auch bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 153 Abs. 4 Satz 1 SGG eine erneute mündliche Verhandlung vor dem LSG zwingend durchzuführen ist.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 13. Juni 2016 wird als unzulässig verworfen.

Der Antrag der Klägerin, ihr für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem bezeichneten Beschluss Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt P. beizuordnen, wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 ; SGG § 153 Abs. 4 S. 1; EMRK Art. 6 Abs. 1 ;

Gründe:

I

Im Streit sind Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - ( SGB XII ) für die Zeit von Juli 2010 bis Januar 2011.

Die 1950 geborene Klägerin lebte mit ihrem zwischenzeitlich verstorbenen Ehemann und der 1994 geborenen Tochter in einer gemeinsamen Wohnung. Die Beklagte versagte die von der Klägerin beantragten Leistungen nach dem SGB XII wegen fehlender Mitwirkung (Bescheid vom 14.11.2011; Widerspruchsbescheid vom 30.8.2012). Das Sozialgericht ( SG ) Braunschweig hat die Klage als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage abgewiesen (Urteil vom 4.6.2014). Im Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen nach Hinweisen darauf, dass Gegenstand des Verfahrens ein Versagungsbescheid, nicht ein Ablehnungsbescheid, und daher zulässig allein die isolierte Anfechtungsklage sei (Verfügungen vom 4.3.2015 und vom 15.2.2016), die Berufung ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen (Beschluss vom 13.6.2016). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Leistungsversagung nach § 66 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 3 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - ( SGB I ) seien erfüllt. Die Beklagte habe ohne Ermessensfehler über die Leistungsversagung entschieden. Die Klägerin habe einen Nachweis über die Aufwendungen für die Unterkunft und einen Beleg über Leistungsansprüche der Tochter nicht erbracht.

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin Verfahrensfehler sowie eine Divergenz. § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz ( SGG ) sei verletzt, weil sich eine mündliche Verhandlung "aus dem Sozialstaatsprinzip und der '(richterlichen)' Fürsorgepflicht aufgedrängt" habe. Sie selbst habe zur mündlichen Verhandlung vor dem SG gesundheitsbedingt nicht erscheinen können. Das Verfahren habe aber für sie eine ganz wesentliche Bedeutung; es stünden existenzsichernde Sozialleistungen von sieben Monaten in Frage. Die Entscheidung des LSG verletze zudem Art 103 Abs 1 , Art 19 Abs 4 Satz 1 und Art 2 Abs 2 Satz 1 Grundgesetz ( GG ), weil sie das Ergebnis überrascht habe; das LSG habe keine Andeutungen dazu gemacht, dass es seiner Entscheidung maßgeblich die fehlende Erbringung von Nachweisen zugrunde legen werde. Eine Divergenz liege vor, weil das LSG im Ergebnis ausführe, es sei iS des § 82 SGB XII unerheblich, ob eine Vermögensposition vor Antragstellung verbraucht sei. Es stelle die Rechtssätze auf, eine einmalige Einnahme sei gemäß § 8 Abs 1 Satz 2 und 3 der Verordnung zu § 82 SGB XII von dem Monat an zu berücksichtigen, in dem sie anfalle, und dann auf einen angemessenen Zeitraum aufzuteilen; Wertzuwächse vor Antragstellung seien unabhängig vom Vorhandensein bei Antragstellung zu verteilen. Dies widerspreche der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ( BSG ) im Urteil vom 19.5.2009 (B 8 SO 35/07 R), wonach Mittel, die der Hilfesuchende früher, wenn auch erst in einer vorangegangenen Bedarfszeit als Einkommen erhalten habe, soweit sie in der aktuellen Bedarfszeit noch vorhanden seien, Vermögen seien. Sie, die Klägerin, habe den streitgegenständlichen Betrag aus der Betriebsrente viele Monate vor Beantragung von Leistungen erhalten. Die Klägerin beantragt zudem die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das Beschwerdeverfahren sowie die Beiordnung von Rechtsanwalt P.

II

Die Beschwerde, deren Begründung als fristgerecht behandelt wird, ist unzulässig, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe des Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG ) und der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG ) nicht in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Weise bezeichnet worden sind. Der Senat konnte deshalb über die Beschwerde ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter nach § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 SGG iVm § 169 Satz 3 SGG entscheiden.

Der Vorwurf, das LSG habe fehlerhaft durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung entschieden, genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen an eine Beschwerdebegründung. Die Entscheidung, die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 Satz 1 SGG zurückzuweisen, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts und kann nur auf fehlerhaften Gebrauch, dh sachfremde Erwägungen und grobe Fehleinschätzung überprüft werden ( BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13; SozR 4-1500 § 153 Nr 7). Zwar ist § 153 Abs 4 SGG unter Beachtung des nach Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention anerkannten Rechts auf (mindestens) eine mündliche Verhandlung eng und in einer für die Beteiligten möglichst schonenden Weise auszulegen und anzuwenden. Wenn allerdings - wie hier - erstinstanzlich schon eine mündliche Verhandlung durchgeführt worden ist, muss ein Beschwerdeführer zur ordnungsgemäßen Bezeichnung des Verfahrensmangels im Einzelnen darlegen, weshalb auch bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 153 Abs 4 Satz 1 SGG eine erneute mündliche Verhandlung vor dem LSG zwingend durchzuführen ist (vgl BSG , Beschluss vom 14.4.2010 - B 8 SO 22/09 B). Hierzu hat die Klägerin nichts Näheres aufgezeigt. Weder genügt der nicht weiter erläuterte Hinweis auf das Sozialstaatsprinzip oder eine richterliche Fürsorgepflicht noch der pauschale Verweis auf die Streitbefangenheit existenzsichernder Leistungen bzw der Vortrag, dass in erster Instanz nur ihr Prozessbevollmächtigter zur mündlichen Verhandlung habe erscheinen können.

Das Vorliegen einer Überraschungsentscheidung (Verstoß gegen Art 103 Abs 1 , Art 19 Abs 4 Satz 1 und Art 2 Abs 2 Satz 1 GG ) legt die Klägerin ebenfalls nicht schlüssig dar. Ihre Ausführungen hierzu sind offensichtlich wahrheitswidrig. Ihr Vorbringen, auf die entscheidungserheblichen Aspekte (fehlende Mitwirkung durch Vorlage von Unterlagen) durch das LSG nicht hingewiesen worden zu sein, widerspricht der eindeutigen Aktenlage (vgl hierzu die Verfügungen des LSG vom 4.3.2015 und vom 15.2.2016 mit Hinweis auf die Rechtsgrundlage des § 66 Abs 1 Satz 1 SGB I und die fehlende Mitwirkung durch Vorlage insbesondere von Nachweisen zur Wohnsituation).

Soweit die Klägerin eine Divergenz im Zusammenhang mit der Berücksichtigung einer erhaltenen Einmalzahlung bei der Bedürftigkeitsprüfung rügt (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG ), zeigt sie jedenfalls nicht auf, dass die Entscheidung des LSG auf der behaupteten Abweichung beruht. Sie setzt sich an keiner Stelle damit auseinander, dass das LSG nicht über den Anspruch selbst, sondern vielmehr nur über eine Leistungsversagung nach § 66 SGB I entschieden hat. Es kann daher dahinstehen, ob es dem Vortrag der Klägerin nicht schon an der erforderlichen Strukturiertheit und Klarheit mangelt (vgl dazu nur BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 26), weil die Beschwerdebegründungen zweier unterschiedlicher Beschwerdeführer in zwei unterschiedlichen Beschwerdeverfahren in einem gemeinsamen Text zusammengefasst worden sind.

Ein Hinweis darauf, dass die Beschwerdebegründung den gesetzlichen Darlegungsanforderungen nicht genügt, war nicht erforderlich. Die Einhaltung der Darlegungserfordernisse obliegt dem postulationsfähigen Prozessbevollmächtigten der Klägerin. Im Übrigen wäre eine nachgeschobene Begründung ohnehin nicht innerhalb der Begründungsfrist beim BSG eingegangen (§ 160a Abs 2 Satz 1 und 2 SGG ), und eine Erweiterung der Begründung in der Nachholfrist des § 67 Abs 2 SGG müsste keinesfalls ermöglicht werden.

Da die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den dargelegten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 73a Abs 1 SGG , § 114 Abs 1 Zivilprozessordnung [ZPO]) bietet, ist ihr auch keine PKH zu bewilligen. Mit der Ablehnung von PKH entfällt auch die Beiordnung des Rechtsanwalts (§ 121 ZPO ).

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG .

Vorinstanz: LSG Niedersachsen-Bremen, vom 13.06.2016 - Vorinstanzaktenzeichen L 8 SO 258/14
Vorinstanz: SG Braunschweig, - Vorinstanzaktenzeichen S 32 SO 175/12