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BGH - Entscheidung vom 08.07.2010

V ZB 203/09

Normen:
AsylVfG § 14 Abs. 3 S. 3
AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4
FamFG § 26
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1

BGH, Beschluss vom 08.07.2010 - Aktenzeichen V ZB 203/09

DRsp Nr. 2010/13396

Anordnung der Abschiebungshaft hinsichtlich eines ohne Aufenthaltstitel über Italien eingereisten russischen Staatsangehörigen für die Dauer von längstens sechs Wochen; Haftentlassung eines Asylbewerbers infolge einer länger als vier Wochen dauernden Bearbeitung seines Antrages auf Asyl

1. Der für die Prognose nach § 62 Abs. 2 S. 4 AufenthG maßgebliche Zeitraum von drei Monaten beginnt bereits mit der ersten Haftanordnung zu laufen. 2. Die Prognose muss auf einer hinreichend vollständigen Tatsachengrundlage beruhen. Erforderlich sind dazu konkrete Angaben zum Ablauf des Verfahrens und zu dem Zeitraum, in welchem die einzelnen Schritte unter normalen Bedingungen durchlaufen werden. Der Tatrichter darf sich dabei nicht auf die Wiedergabe der Einschätzung der Ausländerbehörde beschränken. Soweit die Ausländerbehörde zur möglichen Abschiebung innerhalb von drei Monaten keine konkreten Tatsachen mitteilt, muss das Gericht gemäß § 26 FamFG nachfragen.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 18. Zivilkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 29. Oktober 2009 aufgehoben. Die Sache wird zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Normenkette:

AsylVfG § 14 Abs. 3 S. 3; AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4; FamFG § 26; GG Art. 2 Abs. 2 S. 1;

Gründe

I.

Der Beteiligte zu 1 (im Folgenden: Betroffener) ist russischer Staatsangehöriger und hält sich seit dem 1. März 2003 ohne Aufenthaltstitel in Deutschland auf. Eingereist ist er nach seinen Angaben über Italien. Mit Beschluss vom 29. August 2009 hat das Amtsgericht auf Antrag der Ausländerbehörde und nach Anhörung des Betroffenen die Abschiebungshaft für die Dauer von längstens sechs Wochen angeordnet. Auf weiteren Antrag der Ausländerbehörde hat das Amtsgericht am 6. Oktober 2009 nach erneuter Anhörung des Betroffenen die Verlängerung der Haft längstens bis zum 5. Januar 2010 mit der Erwägung ausgesprochen, die Passersatzpapierbeschaffung nehme längere Zeit in Anspruch als zunächst angenommen. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht mit Beschluss vom 29. Oktober 2009 nach Anhörung des Betroffenen mit der Maßgabe zurückgewiesen, die Sicherungshaft ende spätestens mit Ablauf des 27. November 2009.

Am 5. November 2009 wurde der Betroffene aus der Haft entlassen, weil über den am 7. Oktober 2009 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) eingegangenen Asylantrag nicht innerhalb von vier Wochen entschieden wurde. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt der Betroffene die Feststellung, dass er durch den Beschluss des Amtsgerichts vom 6. Oktober 2009 und den des Landgerichts vom 29. Oktober 2009 in seinen Rechten verletzt worden ist.

II.

Das Beschwerdegericht ist der Auffassung, die Haftanordnung sei nicht zu beanstanden. Aufgrund der unerlaubten Einreise sei der Betroffene vollziehbar ausreisepflichtig. Es bestehe zudem die Gefahr, dass dieser sich der Abschiebung entziehe. Gründe, die der Abschiebung binnen drei Monaten entgegenstünden, seien nicht ersichtlich. Üblicherweise könne das Passersatzpapierbeschaffungsverfahren in drei Monaten abgeschlossen werden, so dass der Betroffene abgeschoben werden könne. Auch im Hinblick auf den gestellten Asylantrag sei eine Begrenzung der Haft auf höchstens vier Wochen nicht veranlasst.

III.

1.

Das Rechtsmittel ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist die Rechtsbeschwerde des Betroffenen auch dann ohne Zulassung nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG statthaft, wenn sich die Hauptsache durch die Haftentlassung - wie hier - erledigt hat und mit dem Rechtsmittel nur noch das Ziel verfolgt wird, die Verletzung des Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG festzustellen (vgl. nur Beschl. v. 25. Februar 2010, V ZB 172/09, Rdn. 9 ff., [...] = InfAuslR 2010, 249, 250).

2.

Die Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung der Beschwerdeentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.

a)

Sowohl die Beschwerde- als auch die Ausgangsentscheidung des Amtsgerichts, die im Rechtsbeschwerdeverfahren ebenfalls Gegenstand der Rechtskontrolle ist (vgl. etwa Senat, Beschl. v. 4. März 2010, V ZB 184/09, Rdn. 14, [...]), halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

aa)

Soweit der Betroffene rügt, die Vorinstanzen hätten die Ausländerakte nach § 417 Abs. 2 Satz 3 FamFG beiziehen müssen, scheitert diese Verfahrensrüge schon daran, dass die Rechtsbeschwerde nicht aufzeigt, welche entscheidungserheblichen Tatsachen der Tatrichter der Ausländerakte hätte entnehmen müssen (vgl. auch Senat, Beschl. v. 4. März 2010, V ZB 222/09, Rdn. 19 = InfAuslR 2010, 246, 248 f.).

bb)

Ebenfalls ohne Erfolg beanstandet die Rechtsbeschwerde, im Hinblick auf den von dem Betroffenen gestellten Asylantrag hätte die Haftanordnung auf vier Wochen begrenzt werden müssen. Ob die Vorschrift des § 14 Abs. 3 Satz 3 AsylVfG zu einer dahin gehenden Einschränkung der Haftanordnung nötigt (so wohl Marx, AsylVfG , 7. Aufl., § 14 Rdn. 92), erscheint dem Senat zweifelhaft, kann hier jedoch auf sich beruhen, weil sich ein solcher Rechtsverstoß jedenfalls nicht zum Nachteil des Betroffenen ausgewirkt hätte. Ein Asylantrag lag frühestens mit dem Eingang bei dem Bundesamt am 8. Oktober 2009 vor (vgl. Senat, Beschl. v. 6. Mai 2010, V ZB 213/09, zur Veröffentlichung vorgesehen). Die Vierwochenfrist lief danach erst am 5. November 2009 ab. Da die Haft aber nicht über diesen Zeitraum hinaus vollstreckt worden ist und auch nicht mehr vollstreckt werden kann, ist der Betroffene durch die Fassung der Haftanordnung jedenfalls nicht mehr beschwert. Für die bis zum 5. November 2009 vollzogene Haft ist die unterbliebene zeitliche Einschränkung der Haftanordnung ohnehin unerheblich.

cc)

Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde jedoch, dass die Erwägung der Vorinstanzen zu § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG - es stehe nicht fest, dass die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden könne - einer rechtlichen Überprüfung nicht stand hält. Diese tatrichterliche Würdigung ist zwar im Rechtsbeschwerdeverfahren nur eingeschränkt überprüfbar (vgl. dazu etwa Senat, Beschl. v. 6. Mai 2010, V ZB 193/09, Rdn. 20, [...]), in diesem Rahmen aber zu beanstanden. Die für die Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG erforderliche Prognose darf nur auf einer hinreichend vollständigen Tatsachengrundlage getroffen werden. Hierzu sind konkrete Angaben erforderlich zum Ablauf des Verfahrens und zu dem Zeitraum, in welchem die einzelnen Schritte unter normalen Bedingungen durchlaufen werden. Der Tatrichter darf sich insoweit nicht auf die Wiedergabe der Einschätzung der Ausländerbehörde beschränken, die Abschiebung werde voraussichtlich innerhalb von drei Monaten stattfinden können. Soweit die Ausländerbehörde hierzu keine konkreten Tatsachen mitteilt, obliegt es gemäß § 26 FamFG dem Gericht nachzufragen (Senat, Beschl. v. 6. Mai 2010, V ZB 193/09, Rdn. 20, [...]).

Diesen Anforderungen wird die getroffene Prognose nicht gerecht. Sie stützt sich in ihrem Kern zunächst auf die Mitteilung des Verfahrensstandes, wonach die Ausländerbehörde am 21. Oktober 2009 die zur Einleitung des Verfahrens der Passersatzbeschaffung notwendigen Unterlagen an die zuständige Regierung von Oberbayern weitergeleitet hat. Dem schließt sich lediglich die unzureichende - in keiner Weise näher konkretisierte - Erwägung an, aufgrund der Erfahrungen der Ausländerbehörde könne mit einer Rücknahmeerklärung der russischen Behörden innerhalb von drei Monaten gerechnet werden. Aber auch davon abgesehen vermag die zugrunde gelegte Erfahrung die erforderliche Prognoseentscheidung nicht zu tragen. Denn bei einem Eingang der Rücknahmeerklärung innerhalb von drei Monaten ist keineswegs sichergestellt, dass innerhalb dieses Zeitraumes auch noch die sich daran anschließende Rückführung des Betroffenen gelingen wird. Dies erschiene nur dann plausibel, wenn Rückführungserklärungen zumindest in der Regel deutlich vor Ablauf von drei Monaten eingehen. Das gilt umso mehr, als der für die Prognose nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG maßgebliche Zeitraum von drei Monaten bereits mit der ersten Haftanordnung zu laufen beginnt (Senat, Beschl. v. 25. März 2010, V ZA 9/10; Rdn. 18, [...]).

b)

Allerdings rechtfertigt nicht schon dieser Verfahrensmangel die Feststellung der Rechtswidrigkeit. Vielmehr kommt es auf die noch zu klärende Frage an, ob die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG vorlagen. Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt zwar Maßstäbe auch für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für eine hinreichende tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen (BVerfG NJW 2009, 2659 , 2660). Anders als etwa bei der unterbliebenen Anhörung nach § 420 Abs. 1 FamFG (vgl. dazu nur BVerfG InfAuslR 2006, 462, 464), durch die dem Betroffenen das Kernstück der Amtsermittlung im Freiheitsentziehungsverfahren (BVerfG, aaO, 2661) vorenthalten und damit eine grundlegende Verfahrensgarantie als solche missachtet wird, stellen unzureichende Ermittlungen im Zusammenhang mit der nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG zu treffenden Prognose keine vergleichbar gravierende Verletzung der Aufklärungspflicht dar (vgl. Beschl. v. 10. Juni 2010, V ZB 204/09, zur Veröffentlichung vorgesehen). Solche Mängel entziehen der Haftanordnung nicht von vornherein jede Grundlage und drücken der vollzogenen Haft nicht ohne weiteres den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf. Daher hängt die Begründetheit des Fortsetzungsfeststellungsantrages in Konstellationen der vorliegenden Art davon ab, ob die Voraussetzungen nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG gegeben waren. Die Sache ist deshalb an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen, damit dieses die erforderlichen Feststellungen treffen kann (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG).

IV.

Für den Fall, dass das Beschwerdegericht zu einer Zurückweisung des Fortsetzungsfeststellungsantrages gelangen sollte, weist der Senat im Hinblick auf die Kostenentscheidung darauf hin, dass in Abschiebehaftsachen von der Erhebung der Dolmetscherkosten abzusehen ist (Senat, Beschl. v. 4. März 2010, V ZB 222/09, Rdn. 20, [...]).

V.

Die Festsetzung des Geschäftswerts beruht auf § 128c Abs. 2 i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO .

Vorinstanz: LG Nürnberg, vom 29.10.2009 - Vorinstanzaktenzeichen 18 T 8796/09
Vorinstanz: AG Nürnberg, vom 06.10.2009 - Vorinstanzaktenzeichen 58 XIV 58/09