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BVerfG - Entscheidung vom 08.06.2021

2 BvE 4/21

Normen:
GG Art. 20
GG Art. 23
GG Art. 38
AEUV Art. 263

Fundstellen:
BVerfGE 158, 202
WM 2021, 1304

BVerfG, Beschluss vom 08.06.2021 - Aktenzeichen 2 BvE 4/21

DRsp Nr. 2021/9649

Organklage der AFD gegen die Mitwirkung von Bundesregierung und Deutschem Bundestag am Zustandekommen des Gesetzes über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union; Verletzung der aus der Integrationsverantwortung ergebenden Pflicht, die Souveränität Deutschlands und die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages zu wahren

Voraussetzung für einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist das Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Daran fehlt es bei Erledigung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird verworfen.

Normenkette:

GG Art. 20 ; GG Art. 23 ; GG Art. 38 ; AEUV Art. 263 ;

Gründe

I.

Die Antragstellerin wendet sich im Wege der Organklage gegen die Mitwirkung von Bundesregierung und Deutschem Bundestag am Zustandekommen des Gesetzes zum Beschluss des Rates vom 14. Dezember 2020 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union und zur Aufhebung des Beschlusses 2014/335/EU, Euratom (Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz - ERatG) sowie gegen die Mitwirkung der Bundesregierung am Beschluss des Rates der Europäischen Union über die Verordnung (EU) 2020/2094 des Rates vom 14. Dezember 2020. Sie beantragt zugleich, dem Bundespräsidenten im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, das Gesetz zum Beschluss des Rates vom 14. Dezember 2020 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union und zur Aufhebung des Beschlusses 2014/335/EU, Euratom (Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz - ERatG) auszufertigen, zu unterschreiben und zu verkünden. Ferner soll dem zuständigen Bundesminister untersagt werden, das Gesetz vor der Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten gegenzuzeichnen.

Nach Auffassung der Antragstellerin sind Bundesregierung und Bundestag bei der Novellierung des Eigenmittelbeschlusses vom 14. Dezember 2020 ihrer sich aus der Integrationsverantwortung aus Art. 23 in Verbindung mit Art. 38 und Art. 20 GG ergebenden Pflicht, die Souveränität Deutschlands und die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages zu wahren, nicht gerecht geworden und haben dadurch die Antragstellerin sowie den Bundestag, für den sie in Prozessstandschaft handele, in ihren jeweiligen Rechten verletzt.

1. Als Fraktion im Deutschen Bundestag sei die Antragstellerin Organ im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG , § 63 BVerfGG und daher im Organstreit beteiligtenfähig. Sie sei durch Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG sowie durch die Geschäftsordnung des Bundestages mit eigenen Rechten ausgestattet und berechtigt, diese sowie in Prozessstandschaft Rechte, die dem Bundestag zustünden, geltend zu machen. Dies gelte auch gegenüber dem Bundestag selbst. Bundesregierung und Bundestag seien mögliche Antragsgegner im Organstreitverfahren. Die Antragstellerin sei auch nach § 64 Abs. 1 BVerfGG antragsbefugt, weil sie in substantiierter Weise jedenfalls die Möglichkeit dargelegt habe, dass Bundesregierung und Bundestag die ihr gegenüber bestehenden Verpflichtungen verletzt sowie ihre Integrationsverantwortung gemäß Art. 23 in Verbindung mit Art. 38 und Art. 20 GG , die Souveränität Deutschlands und die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages zu wahren, vernachlässigt hätten. Dies gelte auch für die Zustimmung der Bundesregierung zu der Verordnung (EU) 2020/2094 des Rates vom 14. Dezember 2020, die das Wiederaufbauinstrument "Next Generation EU"eingerichtet habe. Ebenso verletze das Unterlassen einer Nichtigkeitsklage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 263 AEUV das demokratische Prinzip des Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG , die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages, die Souveränität Deutschlands, das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG , die Integrationsverantwortung aus Art. 23 GG und die Identität des Grundgesetzes . Damit hätten die Antragsgegner zugleich Rechte des Bundestages, aber auch ihre eigenen Rechte als stärkster Oppositionsfraktion verletzt. Das Rechtsschutzbedürfnis sei gegeben, da die Antragstellerin im Bundestag Initiativen ergriffen habe (unter Hinweis auf BTDrucks 19/18725, 19/24391, 19/25806, 19/26895, 19/27210), die von der Mehrheit des Bundestages aber durchwegs abgelehnt worden seien.

Zur Begründetheit der Organklage trägt die Antragstellerin vor, die Zustimmung des Bundestages zum Eigenmittelbeschluss genüge nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Zwar habe der Bundestag mit mehr als zwei Dritteln seiner Abgeordneten zugestimmt, diese Mehrheit sei aber nicht in einem den Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG entsprechenden Verfahren zustande gekommen. Die Europäische Union sei nicht befugt, die Europäische Kommission zur Aufnahme von Krediten - zumal in einer Höhe von 750 Milliarden Euro - zu ermächtigen. Eine solche Ermächtigung ergebe sich weder aus Art. 122 AEUV noch aus Art. 311 Abs. 3 AEUV . Sie erfolge ultra vires, was auch Art. 17 Abs. 2 der Haushaltsordnung der Europäischen Union bestätige. Die COVID-19-Krise könne die Kreditaufnahme nicht rechtfertigen. Eine allgemeine Befugnis der Europäischen Union, in Notlagen den Mitgliedstaaten finanzielle Hilfestellung zu geben, sei den Verträgen nicht zu entnehmen. Die Europäische Union sei kein Staat, der aus dem Staatsprinzip eine Notstandsbefugnis herzuleiten vermöge, sondern nur ein Staatenverbund. Art. 136 Abs. 3 AEUV entfalte eine Sperrwirkung für eine Kreditfinanzierung der Europäischen Union. Es lägen zudem ein Verstoß gegen das Bail-out-Verbot des Art. 125 AEUV und eine offensichtliche und strukturell bedeutsame Verschiebung zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen vor. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung werde grob und strukturwidrig missachtet. Ebenso missachtet werde der Europäische Fiskalpakt. Die vertragswidrige Ermächtigung der Europäischen Kommission zur Kreditaufnahme im Umfang von 750 Milliarden Euro sei auch mit der Identität des Grundgesetzes unvereinbar. Sie bedeute eine Belastung zukünftiger Generationen mit hohen Schulden, zu der der gegenwärtige Bundestag nicht berechtigt sei. Der Wiederaufbaufonds trage weniger dem Ausgleich der wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen der Coronakrise Rechnung, sondern transferiere vornehmlich Ressourcen von den finanzstärkeren zu den finanzschwächeren Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Dies gehe vor allem zulasten Deutschlands, das mit 25 % den größten Anteil der Kosten der Europäischen Union trage. Darüber hinaus werde Deutschland durch das Wiederaufbauinstrument zusätzlich in Anspruch genommen, wenn andere Mitgliedstaaten Verpflichtungen aus dem Eigenmittelbeschluss nicht erfüllten, was angesichts der hohen Verschuldung der meisten Mitgliedstaaten mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei. Die Verletzung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung und damit des demokratischen Prinzips durch das Wiederaufbauprogramm sei - in Anbetracht eines Volumens von zirka 800 Milliarden Euro und derzeit nicht überblickbarer Haftungsfolgen - offensichtlich. Die Haushaltsordnung der Verträge sei verletzt. Schließlich lege die Übersicherung der auszureichenden Kredite mit etwa 1200 % die Vermutung nahe, dass Kreditausfälle einiger Mitgliedstaaten bereits einkalkuliert seien.

2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sei ebenfalls zulässig und begründet, weil die einstweilige Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile für das gemeine Wohl dringend geboten sei (§ 32 Abs. 1 BVerfGG ). Nach Inkrafttreten des Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetzes und des Eigenmittelbeschlusses werde sich die Europäische Kommission am Markt zügig mit Krediten ausstatten und die Mittel schnell verausgaben. Wenn die ausgereichten Darlehen - wie zu erwarten - nicht beglichen würden, könne dies zu einer Belastung Deutschlands in Höhe der gesamten Kreditsummen von 750 Milliarden Euro führen, was untragbar sei und dem Bundestag jede Möglichkeit nehme, seine haushaltspolitische Gesamtverantwortung wahrzunehmen. Die finanzielle Notlage der Mitgliedstaaten sei keinesfalls so groß, dass sie diese nicht auch ohne die finanziellen Hilfen der Europäischen Union durchstehen könnten. Sie könnten selbst Kredite aufnehmen; zudem biete der Europäische Stabilitätsmechanismus im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie Notfallkredite ohne strenge Auflagen an. Die Unvereinbarkeit der Kreditaufnahme und damit des Aufbauinstruments mit den Verträgen und dem Grundgesetz sei so augenfällig, dass der Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig geregelt werden müsse. Das solle verhindern, dass sich das Bundesverfassungsgericht bei der Entscheidung über die Hauptsache vollendeten Tatsachen gegenübersehe, nämlich dass Kreditmittel bereits verteilt und verausgabt seien.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unzulässig. Voraussetzung für einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist das Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 23, 33 <39 f.>; 23, 42 <48 f.>; 150, 163 <167 Rn. 12>). Daran fehlt es hier. Mit der auf den Beschluss des Senats vom 15. April 2021 (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. April 2021 - 2 BvR 547/21 -) folgenden Ausfertigung des Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetzes durch den Bundespräsidenten und seiner Verkündung im Bundesgesetzblatt (vgl. BGBl II 2021 S. 322 ) hat sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erledigt (vgl. BVerfGE 126, 158 <167>).

Im Übrigen wäre dem Antrag, unabhängig von der Frage, ob und inwieweit die Anträge im Hauptsacheverfahren von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet sind, aus den im Beschluss des Senats vom 15. April 2021 dargelegten Gründen (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. April 2021 - 2 BvR 547/21 -, Rn. 95), die sich auf das vorliegende Verfahren entsprechend übertragen lassen, der Erfolg in der Sache auch von vornherein zu versagen gewesen.

Fundstellen
BVerfGE 158, 202
WM 2021, 1304