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BVerfG - Entscheidung vom 23.07.2021

1 BvR 1653/21

Normen:
GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 20 Abs. 3
GG Art. 103 Abs. 1
BVerfGG § 23 Abs. 1 S. 2
BVerfGG § 32 Abs. 1
BVerfGG § 92
ZPO § 935
ZPO § 937 Abs. 2
GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 20 Abs. 3
GG Art. 103 Abs. 1
BVerfGG § 23 Abs. 1 S. 2
BVerfGG § 32 Abs. 1
BVerfGG § 92
ZPO § 935
ZPO § 937 Abs. 2
BVerfGG § 93a Abs. 2

BVerfG, Beschluss vom 23.07.2021 - Aktenzeichen 1 BvR 1653/21

DRsp Nr. 2021/14854

Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wegen Nichtvorliegens der Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG

Auch im Hinblick auf die Geltendmachung eines die prozessuale Waffengleichheit beeinträchtigenden Verfahrensfehlers gilt der Grundsatz der materiellen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, der gebietet, dass ein Beschwerdeführer vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde alle zur Verfügung stehenden und zumutbaren prozessualen Möglichkeiten ergreift, um in dem jeweils sachnächsten Verfahren eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern.

Tenor

1.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

2.

Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).

Normenkette:

BVerfGG § 93a Abs. 2 ;

[Gründe]

I.

Mit ihrer mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit und faires Verfahren aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie in ihrem Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG . Das Landgericht habe die gegen sie beantragte einstweilige Verfügung ohne ordnungsgemäße Anhörung der Beschwerdeführerin und ohne Beachtung der eingereichten Schutzschrift erlassen. Das titulierte Unterlassungsgebot habe zur Folge, dass das gesamte Geschäftsmodell der Beschwerdeführerin in seinem Kern gegenwärtig nicht durchführbar sei.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, da die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Ihr kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt. Die Voraussetzungen, unter denen eine Verfassungsbeschwerde ausnahmsweise unmittelbar gegen eine einstweilige Verfügung selbst und vor Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden kann, liegen nicht vor.

1. Die Beschwerdeführerin hat nicht substantiiert dargelegt, dass hier eine systematische Praxis der mit lauterkeitsrechtlichen Sachverhalten befassten Zivilkammern des Landgerichts Berlin vorliegt. Vielmehr bot das Gericht durch Übersendung der Antragsschrift unter Erteilung von an beide Parteien gerichteten Hinweisen Gelegenheit zur Stellungnahme. Dies geschah als solches im Einklang mit den aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ersichtlichen Maßgaben zur Gewährleistung der prozessualen Waffengleichheit (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 24). Dass diese Verfügung die Beschwerdeführerin erst nach Ablauf der gesetzten Stellungnahmefrist - indes noch vor Erlass der einstweiligen Verfügung - auf dem Postweg erreichte, beruhte ersichtlich auf der Postlaufzeit. Damit handelt es sich - ungeachtet der Frage, ob das Gericht hier gehalten gewesen wäre, eine schnellere Übermittlungsart zu wählen - um einen error in procedendo im Einzelfall. Eine systematische Praxis des Landgerichts Berlin ist insoweit ebenso wenig vorgetragen wie eine Wiederholungsgefahr. Soweit die Beschwerdeführerin weiter geltend macht, dies spreche jedenfalls für eine grobe Nachlässigkeit, die eine Gleichgültigkeit gegenüber den prozessualen Rechten der Beschwerdeführerin offenbare, bleibt dies unsubstantiiert. Auch die unterbliebene Berücksichtigung der eingereichten Schutzschrift, die seitens des Gerichts mit einer gerichtsinternen Nichtvorlage im Einzelfall erklärt wurde, ist als solche ein Verfahrensfehler im Einzelfall des gemäß § 945a ZPO zur Kenntnisnahme der Schutzschrift verpflichteten Gerichts (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Februar 2003 - I ZB 23/02 -, NJW 2003, S. 1257 <1258>).

2. Zwar kann die Darlegung eines besonderen Feststellungsinteresses ausnahmsweise entbehrlich sein, solange eine offenkundig prozessrechtswidrig erlassene einstweilige Verfügung noch fortwirkt, das darauf bezogene fachgerichtliche Widerspruchsverfahren zügig beschritten wurde und noch andauert sowie schwere, grundrechtlich erhebliche Nachteile des Beschwerdeführers im Sinne von § 32 Abs. 1 , § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG geltend gemacht werden, die ein Einschreiten des Bundesverfassungsgerichts noch während des laufenden fachgerichtlichen Verfahrens gebieten (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. September 2020 - 1 BvR 1617/20 -, Rn. 7). Jedenfalls in lauterkeitsrechtlichen Fallkonstellationen ist die Kompensationsmöglichkeit nach § 945 ZPO aber regelmäßig möglich und ausreichend (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. Januar 2021 - 1 BvR 2793/20 -, Rn. 19).Ob vorliegend ausnahmsweise anderes gilt, namentlich mit Blick darauf, dass die Beschwerdeführerin hier ihr gesamtes Geschäftsmodell nicht mehr verfolgen könnte (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. Januar 2021 - 1 BvR 2793/20 -, Rn. 18), kann hier offenbleiben.

3. Jedenfalls hat die Beschwerdeführerin dem Grundsatz der materiellen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht genügt, der gebietet, dass ein Beschwerdeführer vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde alle zur Verfügung stehenden und zumutbaren prozessualen Möglichkeiten ergreift, um in dem jeweils sachnächsten Verfahren eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. BVerfGE 74, 102 <113>; 107, 395 <414>; 112, 50 <60>; stRspr). Nachdem dem Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin - noch vor Erlass der einstweiligen Verfügung - schließlich sowohl die Antragsschrift als auch die erteilten Hinweise mit ihr eingeräumter Gelegenheit zur Stellungnahme seitens des Gerichts zur Kenntnis gebracht worden war, die verzögerte Übermittlung auch für sie offensichtlich auf der Dauer der Postlaufzeit beruht hatte und ihr außerdem die Frist für ihre Stellungnahme erkennbar war, hätte es ihr oblegen, unverzüglich bei Gericht nachzufragen sowie Fristverlängerung zu beantragen. Die Beschwerdeführerin trägt nicht substantiiert vor, dass dem etwas entgegengestanden hätte. In diesem Fall hätte es dem Gericht oblegen, eine im Einzelfall unter Berücksichtigung der Dringlichkeit angemessene Fristverlängerung vor Erlass der Entscheidung zu gewähren. Die seitens des Gerichts beabsichtigte Anhörung der Beschwerdeführerin wäre so im vorliegenden Fall gewährleistet worden. Vielmehr unterbreitete die Beschwerdeführerin dem Gericht erst zwölf Tage später einen - mit der Verfassungsbeschwerde nicht vorgelegten - Schriftsatz.

4. Es ist davon auszugehen, dass das Landgericht, wie es bei einem die prozessuale Waffengleichheit beeinträchtigenden Verfahrensfehler geboten ist, auf den durch die Beschwerdeführerin erhobenen Widerspruch und den Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung unverzüglich geprüft hat, ob eine Einstellung der Zwangsvollstreckung auf Grundlage des neuen Vortrags der Antragsgegnerin geboten war, sowie jedenfalls unverzüglich und zeitnah Termin zur Verhandlung über den Widerspruch bestimmt hat, was erforderlichenfalls - sollte eine Aufhebung der einstweiligen Verfügung in Betracht kommen - zur Gewährleistung fachgerichtlicher Kontrolle auch sehr kurzfristig zu geschehen hätte. Gegenteiliges hat die Beschwerdeführerin nicht vorgetragen.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Vorinstanz: LG Berlin, vom 03.06.2021 - Vorinstanzaktenzeichen 52 O 176/21