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BSG - Entscheidung vom 30.11.2006

B 9a VG 5/06 B

Normen:
OEG § 1 Abs. 1 S. 1 § 1 Abs. 11

BSG, Beschluss vom 30.11.2006 - Aktenzeichen B 9a VG 5/06 B

DRsp Nr. 2007/21207

Anspruch auf Gewaltopferentschädigung bei Schädigung durch KfZ-Gebrauch

§ 1 Abs. 11 OEG ist auch dann anwendbar, wenn der tätliche Angriff durch den Gebrauch eines Fahrzeugs in der ehemaligen DDR erfolgt ist. [Nicht amtlich veröffentlichte Entscheidung]

Normenkette:

OEG § 1 Abs. 1 S. 1 § 1 Abs. 11 ;

Gründe:

I. Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) hat mit Urteil vom 12. Oktober 2005 die Auffassung des Beklagten und die erstinstanzliche Entscheidung bestätigt, wonach der Kläger wegen der gesundheitlichen Folgen eines Verkehrsunfalls vom 29. März 1985 keinen Anspruch auf Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz ( OEG ) iVm dem Bundesversorgungsgesetz hat, weil sich ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff nicht habe feststellen lassen. Die Revision hat das LSG nicht zugelassen.

Dagegen hat der Kläger - vertreten durch seinen damaligen Prozessbevollmächtigten - Beschwerde zum Bundessozialgericht (BSG) eingelegt. Mit Beschluss vom 19. Juli 2006 (zugestellt am 26. Juli 2006) hat der Senat dem Kläger Prozesskostenhilfe bewilligt und für das weitere Verfahren Rechtsanwalt Sch beigeordnet. Am 25. August 2006 hat der Kläger die Beschwerde begründet und beantragt, ihm Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist zu gewähren.

Der Kläger rügt ua Verfahrensfehler. Das LSG habe den Sachverhalt unter Verstoß gegen § 103 Sozialgerichtsgesetz ( SGG ) nicht genügend aufgeklärt.

II. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig. Soweit er die Beschwerdebegründungsfrist versäumt hat (§ 160a Abs 2 SGG ), ist ihm Widereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 67 SGG ), da er im Hinblick auf seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (vgl § 73a SGG iVm § 114 Zivilprozessordnung ) - also ohne Verschulden - gehindert war, die Frist einzuhalten.

Die Beschwerde ist auch begründet. Ein gerügter Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG ) liegt vor. Das LSG hat seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 103 SGG ) verletzt, indem es den Zeugen T nicht gehört hat. Auf diesem Verfahrensfehler kann die angegriffene Entscheidung beruhen.

Der Kläger hat ua dargelegt: Das LSG sei seinem in der mündlichen Verhandlung vom 12. Oktober 2005 gestellten Antrag, als weiteren Zeugen M T zu hören, verfahrensfehlerhaft mit der Begründung nicht gefolgt, es sei kein Beweisthema angegeben. In der mündlichen Verhandlung vom 12. Oktober 2005 sei der Kläger anwaltlich nicht vertreten gewesen. Dort habe er mit seinem Beweisantrag am schriftlichen und am mündlichen Vortrag im Termin vom 31. August 2005 angeknüpft. Mit M T habe er den ihm zuvor namentlich nicht mehr erinnerlichen Elektriker benannt, der über den Verlauf einer dem Verkehrsunfall vorausgegangenen Betriebsfeier und insbesondere darüber Angaben machen könne, wie er, der Kläger, auf dieser Veranstaltung von anderen behandelt worden sei. Aus diesen Angaben hätten sich Rückschlüsse auf seine - vom LSG verneinte - Glaubwürdigkeit ziehen lassen.

Das LSG hätte - wie vom Kläger beantragt - weiter ermitteln müssen. Dabei ist unschädlich, dass der Kläger in seinem Beweisantrag kein Beweisthema genannt hat. Soweit sich dieses nicht ohnehin aus dem vom Kläger im Verlauf des Berufungsverfahrens Vorgebrachten ergibt, wäre es Sache des Gerichts gewesen, den Kläger auf diesen Mangel hinzuweisen und ihm Gelegenheit zur Vervollständigung seines Beweisantrages zu geben (§ 106 Abs 1 SGG ). Ebenso unschädlich ist, dass der Kläger keine genaue Adresse sondern nur den früheren Wohnort des Zeugen angeben konnte. Auch insoweit wäre zumindest ein richterlicher Hinweis erforderlich gewesen. Im Übrigen hätte das Gericht versuchen müssen, die Adresse - wie schon die eines anderen Zeugen - zu ermitteln.

Das LSG hätte sich gedrängt fühlen müssen, den Zeugen T zu vernehmen. Denn der "Verkehrsunfall" ist nach dem Vortrag des Klägers Endpunkt von Auseinandersetzungen mit anderen Teilnehmern einer vorangegangenen Betriebsfeier gewesen. Deren bisher ungeklärter Ablauf lässt mithin Rückschlüsse darauf zu, ob den Angaben des Klägers zu folgen ist, er sei auf der Rückfahrt von dieser Betriebsfeier aus dem Bus gestoßen worden.

Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, steht es im Ermessen des Gerichts, nach § 160a Abs 5 SGG zu verfahren; insoweit ist der Senat nicht an die gestellten Anträge gebunden. Da es im Rechtsstreit vor allem um weitere Tatsachenfeststellungen zum Ablauf des Geschehens am Unfalltag geht, sprechen prozessökonomische Gründe für eine unmittelbare Zurückverweisung der Sache an das LSG.

Sollte das Berufungsgericht - nach dem Ergebnis weiterer Ermittlungen - den Kläger als Opfer einer Gewalttat ansehen, so wird es weiter zu prüfen haben, ob ein Versorgungsanspruch an § 1 Abs 11 OEG scheitert, weil der tätliche Angriff "durch Gebrauch eines Kraftfahrzeuges" verursacht worden ist. Das wäre der Fall, wenn der Schaden mit dem Gefahrenbereich, für den ein Kraftfahrzeughaftpflichtversicherer deckungspflichtig ist, in einem haftungsrechtlich relevanten Zusammenhang stünde, so dass sich die von dem Kraftfahrzeug als solchem ausgehende Betriebsgefahr auf den Schadensablauf ausgewirkt hätte (vgl BSG SozR 3-3800 § 10a Nr 1 S 4).

Sollte das LSG zu diesem Ergebnis kommen, hätte es weiter zu prüfen, ob der Gesetzgeber gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 Grundgesetz ( GG ) verstoßen hat, indem er bei der rückwirkenden Einführung des OEG für vor dem 3. Oktober 1990 in der DDR begangene Gewalttaten - bei Fehlen einer dem § 12 Pflichtversicherungsgesetz entsprechenden Regelung - Lücken im Schutz für bedürftige (Gewalt-)Opfer von Verkehrsunfällen nicht geschlossen hat. Ein Verstoß gegen Art 3 Abs 1 GG läge im Übrigen nicht vor, wenn Bedürftigkeit des Klägers durch eine Leistungsverpflichtung der gesetzlichen Unfallversicherung (Unfall auf dem Rückweg von einer betrieblichen Veranstaltung) ausgeschlossen wäre (vgl BSG, aaO, S 5 f).

Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Vorinstanz: LSG Berlin-Brandenburg, vom 12.10.2005 - Vorinstanzaktenzeichen L 26 VG 10/01
Vorinstanz: SG Frankfurt/Oder, vom 19.04.2001 - Vorinstanzaktenzeichen S 5 VG 62/00