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BVerfG - Entscheidung vom 04.10.2023

2 BvQ 184/23

Normen:
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
BVerfGG § 23 Abs. 1 S. 2
BVerfGG § 92
GG Art. 3 Abs. 1
BVerfGG § 32 Abs. 1
ZPO § 56 Abs. 1
ZPO § 765a Abs. 1 S. 1

BVerfG, Beschluss vom 04.10.2023 - Aktenzeichen 2 BvQ 184/23

DRsp Nr. 2023/14873

Prozessunfähigkeit des Räumungsschuldners alsVerfahrenshindernis in der Zwangsvollstreckung

Tenor

Die Zwangsvollstreckung aus dem Vergleich des Landgerichts München I vom 28. Januar 2019 - 35 O 8569/18 -, dem Beschluss des Landgerichts München I vom 22. März 2019 - 35 O 8569/18 - und dem Versäumnisurteil des Landgerichts München I vom 3. Juli 2023 - 35 O 9111/20 - wird einstweilen bis zur Entscheidung über die noch einzulegende Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, ausgesetzt, soweit der Antragsteller zu 3. zur Räumung und Herausgabe des Anwesens (...), bestehend aus neun Zimmern, einem WC, drei Kellerräumen, einer Küche und zwei Abstellräumen, verurteilt worden ist.

Im Übrigen wird der Antrag abgewiesen.

Normenkette:

GG Art. 2 Abs. 2 S. 1; BVerfGG § 23 Abs. 1 S. 2; BVerfGG § 92 ;

Gründe

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein strenger Maßstab anzulegen. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte angeführt werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das in der Hauptsache zu verfolgende Begehren, hier also die noch einzulegende Verfassungsbeschwerde, erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 76, 253 <255>; 99, 57 <66>; stRspr).

2. Nach diesen Maßstäben hat der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung insoweit Erfolg, als sich die Antragsteller gegen die Entscheidung des Amtsgerichts München vom 29. September 2023 - 1507 M 7038/23 - wenden, wonach die Vollstreckung nicht wegen Prozessunfähigkeit des Antragstellers zu 3. einzustellen sei. Insoweit ist die noch einzulegende Verfassungsbeschwerde weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

a) Die Prozessunfähigkeit des Räumungsschuldners ist ein Verfahrenshindernis in der Zwangsvollstreckung (BGH, Beschluss vom 17. August 2011 - I ZB 73/09 -, juris, Rn. 8). Die Feststellung mangelnder Prozessfähigkeit setzt voraus, dass alle verfügbaren Beweismittel ausgeschöpft sind. Die Frage, ob eine bestimmte sich anbietende Erkenntnismöglichkeit ungenutzt bleiben darf, bedarf einer besonders sorgfältigen Prüfung (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. August 2013 - 1 BvR 577/13 -, Rn. 12 m.w.N.).

b) Das Amtsgericht hat sich - nachdem es zunächst erhebliche Zweifel an der Prozessfähigkeit des Antragstellers zu 3. geäußert hatte - zur Begründung, wieso es nunmehr von einer Prozessfähigkeit ausgehe, allein darauf bezogen, dass der Antragsteller zu 3. den Schriftsatz vom 29. September 2023 mitunterzeichnet habe. Allerdings legen die Verfahrensgeschichte und der Schriftsatz selbst mehr als nahe, dass sämtliche Schriftsätze vom Antragsteller zu 1. verfasst wurden und die anderen Antragsteller die Schriftsätze nur mitunterschrieben haben, ohne irgendwelchen inhaltlichen Einfluss auf sie zu nehmen. Angesichts dessen ist eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG durch die insoweit unterlassene weitere Tatsachenaufklärung zur etwaigen Prozessunfähigkeit (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. August 2013 - 1 BvR 577/13 -, Rn. 9 ff.) nicht offensichtlich ausgeschlossen.

c) Über den Antrag des Antragstellers zu 3. auf einstweilige Anordnung ist deshalb nach Maßgabe einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese fällt zugunsten des Antragstellers zu 3. aus.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die noch einzulegende Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, wäre die Räumung zulasten des Antragstellers zu 3. auf Grundlage einer verfassungswidrigen Versagung von Rechtsschutz im Erinnerungsverfahren erfolgt. Erginge demgegenüber die einstweilige Anordnung, bliebe die noch einzulegende Verfassungsbeschwerde aber später ohne Erfolg, so verzögerte sich der Räumungstermin voraussichtlich nur um wenige Monate. Dies wiegt insgesamt weniger schwer als die dem Antragsteller zu 3. drohenden Nachteile.

3. Im Übrigen hat der Antrag keinen Erfolg. Insbesondere haben die Antragsteller eine Gefährdung ihres unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG stehenden Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht entsprechend § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG hinreichend dargetan, sodass die noch einzureichende Verfassungsbeschwerde unzulässig wäre. Das Amtsgericht hat insoweit richtig gesehen, dass die Antragsteller die behauptete Lebensgefahr im Zusammenhang mit der Räumung in keiner Weise durch ärztliche Atteste substantiiert haben.

4. Gemäß § 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG wurde wegen der besonderen Dringlichkeit im Hinblick auf den kurzfristig bevorstehenden Räumungstermin davon abgesehen, den Begünstigten des Ausgangsverfahrens und weiteren Äußerungsberechtigten Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu geben.

Vorinstanz: LG München I, vom 03.07.2023 - Vorinstanzaktenzeichen 35 O 9111/20
Vorinstanz: LG München I, vom 22.03.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 35 O 8569/18
Vorinstanz: LG München I, vom 19.01.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 35 O 8569/18
Vorinstanz: LG München I, vom 28.01.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 35 O 8569/18