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BVerfG - Entscheidung vom 10.01.2023

1 BvR 1346/22

Normen:
GG Art. 19 Abs. 4
BVerfGG § 23 Abs. 1 S. 2

Fundstellen:
NJW 2023, 2567

BVerfG, Beschluss vom 10.01.2023 - Aktenzeichen 1 BvR 1346/22

DRsp Nr. 2023/6398

Hinreichende substantiierte Darlegung einer Verletzung eines Betroffenen in dem Recht auf effektiven Rechtsschutz wegen einer überlangen Verfahrensdauer (hier: sozialgerichtliche Berufungsverfahren)

Tenor

Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen.

Normenkette:

GG Art. 19 Abs. 4 ; BVerfGG § 23 Abs. 1 S. 2;

Gründe

Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Dauer zweier sozialgerichtlicher Berufungsverfahren.

I.

1. Die Beschwerdeführerin begehrt die Gewährung höherer Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ( SGB II ) für vergangene Leistungszeiträume (Juni bis November 2014 und Dezember 2015 bis Mai 2016) unter Berücksichtigung einer Instandhaltungszulage als Miteigentümerin einer Haushälfte. Ihre im Jahr 2015 und 2016 erhobenen Klagen wurden mit Urteilen vom 18. Mai 2017 erstinstanzlich abgewiesen. Am 7. Juni 2017 legte die Beschwerdeführerin Berufung gegen die zwei sozialgerichtlichen Urteile ein.

Auf Anforderungen des Landessozialgerichts wurden Berufungserwiderungen, weitere Verwaltungsakten und Vollmachten des Vertreters der Beschwerdeführerin bis zum 16. Oktober 2017 übersandt. Die Beschwerdeführerin rügte am 31. Januar 2020 und 17. Mai 2020 die Verzögerung der Verfahren. Am 16. Februar 2020 beantragte sie die Gewährung von Prozesskostenhilfe und trug erneut zu ihren Berufungen vor.

Aufgrund zweier von der Beschwerdeführerin erhobener Verzögerungsklagen nach § 198 Abs. 1 , 3 GVG forderte ein anderer Senat des Landessozialgerichts am 23. März 2020 die Akten der Verfahren an. Mit Beschluss vom 16. November 2020 setze das Landessozialgericht die Verzögerungsklagen bis zum rechtskräftigen Abschluss der verzögerten Verfahren aus.

Mit Schreiben vom 13. Juli 2021 teilte das Landessozialgericht mit, dass über die Prozesskostenhilfeanträge im September 2021 und über die Hauptsachen im vierten Quartal 2021 entschieden werden solle. Der Berichterstatter sei krankheitsbedingt ausgefallen und wegen der zwischenzeitlich aufgelaufenen Rückstände seien Entscheidungen noch nicht möglich gewesen. In der Folgezeit wurden die Verfahren nicht weiter betrieben.

2. Mit ihren am 13. Juli 2022 erhobenen Verfassungsbeschwerden rügt die Beschwerdeführerin unter anderem eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG . Wirksam sei nur ein zeitgerechter Rechtsschutz. Ein Streit über Leistungen nach dem SGB II betreffe das menschenwürdige Existenzminimum und sei deshalb nicht unbedeutend. Dies gebiete eine Verfahrensbeschleunigung. Die Sachverhalte seien nicht schwierig und es seien keine zeitaufwendigen Sachverständigengutachten einzuholen. Folglich bestehe bereits im Ansatz kein Grund für eine Verfahrensdauer von mehr als fünf Jahren ohne verfahrensfördernde Tätigkeit.

3. Die Beschwerdeführerin beantragt, dass das Bundesverfassungsgericht eine Verfahrensbeschleunigung durch Zwangsgeldandrohung oder Zusprechen einer Entschädigung herbeiführe.

4. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen. Das Sächsische Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung hat von einer Stellungnahme abgesehen.

II.

1. Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerden sind unzulässig, da sie nicht in einer den Anforderungen aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG genügenden Weise begründet wurden.

a) Nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG ist der Sachverhalt, aus dem sich die Grundrechtsverletzung ergeben soll, substantiiert und schlüssig darzulegen. Ferner muss sich die Verfassungsbeschwerde mit dem zugrundeliegenden einfachen Recht, soweit dies für die verfassungsrechtliche Beurteilung von Belang ist, sowie und insbesondere mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des vorgetragenen Sachverhalts auseinandersetzen. Aus dem Vortrag der Beschwerdeführenden muss sich mit hinreichender Deutlichkeit die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ergeben (vgl. BVerfGE 78, 320 <329>).

b) Ausgehend davon hat die Beschwerdeführerin eine Verletzung in ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG wegen einer überlangen Verfahrensdauer nicht hinreichend substantiiert dargelegt.

aa) Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Wirksam ist nur ein zeitgerechter Rechtsschutz. Art. 19 Abs. 4 GG fordert daher auch, dass Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit gewährt wird (vgl. BVerfGE 55, 349 <369>; 93, 1 <13>). Welche Verfahrensdauer noch angemessen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BVerfGE 55, 349 <369>; s. auch 93, 1 <13>). Entscheidend sind vor allem die Bedeutung der Sache, die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten, die Schwierigkeit des Falles und das Verhalten der Beteiligten, insbesondere etwaige den Beteiligten selbst zuzurechnende Verzögerungen, sowie eine gerichtlich nicht zu beeinflussende Verzögerung durch die Tätigkeit von Sachverständigen oder sonstigen Dritten (vgl. BVerfGE 46, 17 <29>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Oktober 2003 - 1 BvR 901/03 -; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. April 1999 - 1 BvR 467/99 -; vgl. auch EGMR , Urteil vom 8. Januar 2004, Nr. 47169/99 - Voggenreiter/Deutschland). Dem Gericht steht für die Bearbeitung anhängiger Verfahren grundsätzlich ein Ermessensspielraum zu, innerhalb dessen es aufgrund eigener Gewichtung dieser Faktoren Prioritäten in Abweichung von der Reihenfolge des Eingangs setzen kann (vgl. BVerfGE 55, 349 <369>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. März 2005 - 2 BvR 1610/03 -, Rn. 12; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2003 - 2 BvR 940/01 -, Rn. 4). Allerdings haben die Gerichte im Rahmen ihrer Verfahrensführung auch die Gesamtdauer des Verfahrens zu berücksichtigen. Mit zunehmender Dauer des Verfahrens insgesamt oder in der jeweiligen Instanz verdichtet sich die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 - 1 BvR 352/00 -, Rn. 11).

bb) Danach hat die Beschwerdeführerin zwar dargelegt, dass die Dauer der Verfahren vor dem Landessozialgericht sehr lang ist. Die Beschwerdeführerin klagt seit 2015 beziehungsweise 2016 auf existenzsichernde Leistungen nach dem SGB II , konkret auf höhere Unterkunftskosten unter Berücksichtigung einer Instandhaltungsrücklage im Zeitraum Juni bis November 2014 und Dezember 2015 bis Mai 2016. Die Verfahren dauern damit jetzt schon außerordentlich lange Zeit. Verfahren, in denen es um Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts geht, sind für die Betroffenen von besonderer Bedeutung und durch die Gerichte besonders zu fördern (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Oktober 2003 - 1 BvR 901/03 -, Rn. 11). Sachverständigengutachten oder eine sonstige Tätigkeit Dritter sind für die Beantwortung der Rechtsfrage, ob die Instandhaltungsrücklagen der Beschwerdeführerin als Kosten der Unterkunft im Sinne des § 22 SGB II anerkannt werden können, nicht erforderlich. Dass das Verfahren besondere Schwierigkeiten aufgeworfen hätte, geht aus den Akten nicht hervor.

Aus den beigezogenen Verfahrensakten ist ersichtlich, dass das Landessozialgericht die Verfahren seit Oktober 2017 in der Sache inhaltlich nicht gefördert hat. Es finden sich - mit Ausnahme der Weiterleitung eines Schriftsatzes - lediglich Wiedervorlageverfügungen. Die Beschwerdeführerin hat das Verfahren nicht verzögert, sondern auf die Aufforderungen des Landessozialgerichts stets zügig reagiert. Zwar lagen dem Landessozialgericht die Akten zwischenzeitlich nicht vor, weil diese anforderungsgemäß an einen anderen Senat wegen der erhobenen Entschädigungsklage übersandt worden waren. Angesichts der zum damaligen Zeitpunkt bereits erheblichen Dauer der Verfahren hätten jedoch nötigenfalls Kopien der Akten angelegt werden können.

Gründe, die es rechtfertigen könnten, dass in den Berufungsverfahren seit über fünf Jahren nicht entschieden wurde, sind nicht ersichtlich. Auf Umstände, die innerhalb des staatlichen Verantwortungsbereichs liegen, wie etwa eine allgemein angespannte Personalsituation, kann sich der Staat zur Rechtfertigung der überlangen Dauer eines Verfahrens nicht berufen. Der Staat muss alle notwendigen Maßnahmen treffen, damit Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Zeit beendet werden können (vgl. BVerfGE 36, 264 <274 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Juli 2003 - 2 BvR 273/03 -, Rn. 13; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Oktober 2003 - 1 BvR 901/03 -, Rn. 10; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. März 2005 - 2 BvR 1610/03 -, Rn. 13; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz , 17. Auflage 2022, Art. 19 Rn. 79). Dies gilt auch für die Auswirkungen auf das gerichtliche Verfahren im Falle der Erkrankung des zuständigen Richters. Es obliegt dem Gericht und damit dem Staat, die erforderliche Vertretung des erkrankten Richters sicherzustellen oder andere geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Verzögerungen durch den krankheitsbedingten Ausfall auf ein Maß zu reduzieren, das dem Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit Rechnung trägt. Erkrankungen von Richtern gehören ebenso wie die sonstigen üblichen Ausfallzeiten etwa durch den gesetzlichen Jahresurlaub oder durch Fortbildung zum Alltag der Gerichte. Solche Ausfallzeiten haben die Justizbehörden und Gerichte zu verantworten, denn diese Umstände sind grundlegender Bestandteil der ihnen obliegenden Personal- und Ressourcenplanung (vgl. BSG , Urteil vom 24. März 2022 - B 10 ÜG 2/20 R, Rn. 43). Der Staat muss dabei gegebenenfalls auch auf längere Arbeitsunfähigkeitszeiten beim richterlichen Personal durch geeignete Maßnahmen reagieren (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. August 2012 - 1 BvR 1098/11 -, Rn. 19). Er kann sich nicht darauf berufen, dass er seine Gerichte nicht so ausstattet, wie es erforderlich ist, um die anstehenden Verfahren ohne vermeidbare Verzögerung abzuschließen. Es ist seine Aufgabe, im Rahmen des Zumutbaren alle Maßnahmen zu treffen, die geeignet und nötig sind, einer Überlastung der Gerichte vorzubeugen und ihr dort, wo sie eintritt, rechtzeitig abzuhelfen. Der Staat hat die dafür erforderlichen - personellen wie sächlichen - Mittel aufzubringen, bereitzustellen und einzusetzen. Diese Aufgabe folgt aus der staatlichen Pflicht zur Justizgewährung, die Bestandteil des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzips ist (vgl. BVerfGE 36, 264 <274 f.>).

cc) Die Beschwerdeführerin hat jedoch zu der Bedeutung der Sache und zu den konkreten Auswirkungen, die die lange Verfahrensdauer hier für sie hat, nichts Genaueres ausgeführt. Dies wäre aber Voraussetzung für die abschließende Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer. Das gilt erst recht angesichts der vom Sozialgericht erstinstanzlich getroffenen Feststellungen und Wertungen, dass die Beschwerdeführerin die Voraussetzungen für einen weitergehenden Bezug von Grundsicherungsleistungen durch eine vom Sozialgericht als sittenwidrig gemeldete Vereinbarung mit ihrem Sohn habe schaffen wollen. Die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ist daher nicht hinreichend dargelegt.

2. Hinsichtlich der weiteren von der Beschwerdeführerin gerügten Rechte wird von einer Begründung nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

3. Für den Erlass einer von der Beschwerdeführerin beantragten Entscheidung nach § 35 BVerfGG des Bundesverfassungsgerichts, dass entweder eine Zwangsgeldandrohung oder eine Entschädigung auszusprechen sei, gibt es keine Veranlassung.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Vorinstanz: LSG Sachsen, - Vorinstanzaktenzeichen 3 AS 572/17
Vorinstanz: LSG Sachsen, - Vorinstanzaktenzeichen 3 AS 568/17
Fundstellen
NJW 2023, 2567