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BSG - Entscheidung vom 29.12.2022

B 2 U 89/22 B

Normen:
SGG § 62
SGG § 103
SGG § 106
SGG § 118 Abs. 1 S. 1
SGG § 128 Abs. 1 S. 1
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 Hs. 1-2
SGG § 160a Abs. 2 S. 3
ZPO § 403
ZPO § 412 Abs. 1
GG Art. 103 Abs. 1
SGB VII

BSG, Beschluss vom 29.12.2022 - Aktenzeichen B 2 U 89/22 B

DRsp Nr. 2023/1775

Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren Bezeichnung des Verfahrensmangels einer Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht und des Anspruchs auf rechtliches Gehör

1. Die Bezeichnung einer Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht erfordert die Bezeichnung eines für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren, prozessordnungsgemäßen Beweisantrags, die Wiedergabe der Rechtsauffassung des LSG, aufgrund derer bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen, die Darlegung der Tatumstände, die den Beweisantrag betreffen und weitere Sachaufklärung erfordert hätten, die Angabe des voraussichtlichen Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme und die Schilderung, dass und warum die Entscheidung des LSG auf der angeblich fehlerhaft unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann – hier verneint in einem Rechtsstreit um die Gewährung von Stützrente nach einem Arbeitsunfall. 2. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht Beteiligtenvorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Die Bezeichnung einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs erfordert daher das Aufzeigen "besonderer Umstände" des Einzelfalls, aus denen auf das Gegenteil geschlossen werden kann – hier verneint für überreichte Fachliteratur zur MdE-Bewertung von Kompartmentsyndromen.

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. März 2022 wird als unzulässig verworfen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Normenkette:

SGG § 62 ; SGG § 103 ; SGG § 106 ; SGG § 118 Abs. 1 S. 1; SGG § 128 Abs. 1 S. 1; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 Hs. 1-2; SGG § 160a Abs. 2 S. 3; ZPO § 403 ; ZPO § 412 Abs. 1 ; GG Art. 103 Abs. 1 ; SGB VII ;

Gründe

I

Mit vorgenanntem Urteil hat das LSG einen Anspruch des Klägers auf Gewährung von Stützrente nach einer MdE um 10 vH aufgrund des Arbeitsunfalls vom 25.10.2015 verneint. Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger Beschwerde eingelegt. Er rügt Verletzungen der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht (dazu II 1.), des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (dazu II 2.) sowie der freien richterlichen Beweiswürdigung (dazu II 3.).

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen, weil sie nicht formgerecht begründet ist 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG ). Der geltend gemachte Zulassungsgrund des Vorliegens von Verfahrensmängeln, auf denen die angefochtene Entscheidung beruhen kann 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG ), ist nicht hinreichend bezeichnet 160a Abs 2 Satz 3 SGG ). Dafür sind die Tatsachen substantiiert anzugeben, die den Verfahrensmangel vermeintlich begründen. Ferner ist darzulegen, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

1. Um Verletzungen der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht 103 SGG ) ordnungsgemäß zu bezeichnen 160a Abs 2 Satz 3 SGG ), muss die Beschwerdebegründung (a) einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren, prozessordnungsgemäßen Beweisantrag bezeichnen, (b) die Rechtsauffassung des LSG wiedergeben, aufgrund derer bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen, (c) die Tatumstände darlegen, die den Beweisantrag betreffen und weitere Sachaufklärung erfordert hätten, (d) das voraussichtliche Ergebnis der unterbliebenen Beweisaufnahme angeben und (e) schildern, dass und warum die Entscheidung des LSG auf der angeblich fehlerhaft unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann, das LSG also von seinem Rechtsstandpunkt aus zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis hätte gelangen können, wenn es das behauptete Ergebnis der unterlassenen Beweisaufnahme gekannt hätte ( BSG Beschlüsse vom 27.9.2022 - B 2 U 42/22 B - juris RdNr 7; vom 9.8.2022 - B 2 U 23/22 B - juris RdNr 12; vom 26.5.2020 - B 2 U 214/19 B - juris RdNr 5; vom 30.1.2020 - B 2 U 152/19 B - juris RdNr 8 und grundlegend vom 19.11.2007 - B 5a/5 R 382/06 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 21 RdNr 5 sowie vom 12.12.2003 - B B - SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 5 mwN). Diesen Erfordernissen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.

Sie behauptet, im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG seien folgende Beweisanträge protokolliert worden:

Besteht bei dem Kläger eine funktionelle Einschränkung der Beugefähigkeit und Innendrehfähigkeit des linken Hüftgelenks?

Bejahendenfalls: Ist die unter Ziffer 1. festgestellte funktionelle Bewegungseinschränkung mit Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall vom 25.10.2015 zurückzuführen?

Ist die funktionelle Bewegungseinschränkung im Bereich des linken Hüftgelenkes infolge des erlittenen Kompartment-Syndroms im Bereich des linken Oberschenkels aufgrund der Minderbelastbarkeit des linken Beines zu erwarten?

durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens auf orthopädisch-unfallchirurgischem und neurologischem Fachgebiet nach § 106 SGG aufzuklären.

Damit hat der Kläger jedoch keinen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag (iS von § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2, § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 403 ZPO ) bezeichnet. Denn nach § 403 ZPO wird der Sachverständigenbeweis durch die Bezeichnung der zu begutachtenden Punkte angetreten. Hierfür hätte der Kläger schon im Rahmen der ersten Frage von sich aus angeben müssen, inwiefern Beugefähigkeit und Innendrehfähigkeit seines linken Hüftgelenks eingeschränkt sind, also konkret umreißen müssen, was die Beweisaufnahme aus seiner Sicht ergeben soll. Nur damit hätte er die Vorinstanz in die Lage versetzt, die Entscheidungserheblichkeit der Hauptund Folgefragen zu prüfen und ihre Auffassung "hinreichend" iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zu begründen ( BSG Beschlüsse vom 15.8.2022 - B 2 U 141/21 B - juris RdNr 14 und grundlegend vom 26.11.1981 - 4 BJ 87/81 - SozR 1500 § 160 Nr 45 S 45 = juris RdNr 6).

Auch lässt das Beschwerdevorbringen nicht erkennen, dass der Kläger gegenüber dem LSG substantiiert geltend gemacht hätte, die Sachverständigengutachten des Orthopäden O, des Unfallchirurgen E und des Orthopäden V seien "ungenügend" (iS des § 412 Abs 1 ZPO iVm § 118 Abs 1 Satz 1 SGG ) und deshalb als Beweisgrundlage völlig ungeeignet, sodass von Amts wegen die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens veranlasst gewesen wäre. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass und warum die gehörten Fachärzte für die Feststellung von Funktionseinschränkungen des Hüftgelenks und für die Kausalitätsbeurteilung zwischen diesen und dem erlittenen Kompartmentsyndrom nicht sachkundig sein könnten und deshalb die Zuziehung eines neurologischen Sachverständigengutachtens erforderlich gewesen wäre. Der Kläger verkennt, dass die Prozessordnungen keinen allgemeinen Anspruch auf Beiziehung eines weiteren (Ober-)Gutachtens vorsehen ( BSG Beschlüsse vom 9.8.2022 - B 2 U 26/22 B - juris RdNr 8 und grundlegend vom 23.5.2006 - B 13 RJ 272/05 B - juris RdNr 5, 11). Vielmehr ist es Aufgabe des Tatrichters, sich im Rahmen der Beweiswürdigung mit einander entgegenstehenden Gutachtenergebnissen auseinanderzusetzen (Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 749). Hält das Gericht eines oder mehrere Gutachten für überzeugend, darf es sich diesen anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einholen zu müssen ( BSG Beschlüsse vom 9.8.2022 - B 2 U 26/22 B - juris RdNr 8 und grundlegend vom 19.11.2007 - B 5a/5 R 382/06 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 21 RdNr 8; Kummer aaO). Das gilt erst recht im Rahmen der MdE-Bewertung, die auf der Basis allgemeiner Erfahrungssätze (MdE-Tabellen) durch Schätzung des Tatrichters festzustellen ist. Zwar mögen ärztliche Schätzungen dafür bedeutsame, vielfach unentbehrliche Anhaltspunkte bieten ( BSG Beschluss vom 11.9.1958 - 2 RU 68/56 - SozR Nr 3 zu § 608 RVO aF = juris RdNr 6). Verwaltung und Gerichte sind an ärztliche Schätzungen aber nicht gebunden, sondern haben die MdE in eigener Verantwortung zu prüfen und ggf zu korrigieren. Denn die Bemessung des Grades der MdE ist eine tatsächliche Feststellung, die das Tatsachengericht unter Berücksichtigung der gesamtem Umstände des Einzelfalls gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen richterlichen Überzeugung trifft ( BSG Urteile vom 20.12.2016 - B 2 U 11/15 R - BSGE 122, 232 = SozR 4-2700 § 56 Nr 4, RdNr 6; vom 18.1.2011 - B 2 U 5/10 R - SozR 4-2700 § 200 Nr 3 RdNr 16; vom 19.12.2000 - B 2 U 49/99 R - juris RdNr 17 und grundlegend vom 29.11.1956 - 2 RU 121/56 - BSGE 4, 147 , 149 = SozR Nr 2 zu § 555 RVO aF). Dass und warum vorliegend ausnahmsweise etwas anderes gelten könnte, legt die Beschwerdebegründung nicht dar.

2. Soweit der Kläger behauptet, das LSG erwähne den Auszug aus dem Buch von Frank/Oder/Tietze (Das Gutachten in der Gesetzlichen Unfallversicherung, 2. Aufl 2021, S 181 ff zur MdE-Bemessung von Kompartmentsyndromen am Unterschenkel, dem Unterarm und der Hand), den er in der mündlichen Verhandlung überreicht habe, weder im Tatbestand noch in den Entscheidungsgründen, obwohl die Übergabe protokolliert sei, macht er sinngemäß eine Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs geltend (Art 103 Abs 1 GG , § 62 SGG ). Diese Vorschriften verpflichten das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen. Daraus folgt indes nicht, dass jedes Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu bescheiden wäre (vgl BVerfG Urteil vom 8.7.1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96, 205 , 217 sowie Beschlüsse vom 25.5.1993 - 1 BvR 345/83 - BVerfGE 88, 366 , 375 f mwN und vom 1.8.1984 - 1 BvR 1387/83 - SozR 1500 § 62 Nr 16). Denn es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht Beteiligtenvorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Deshalb muss die Beschwerdebegründung "besondere Umstände" des Einzelfalls aufzeigen, aus denen auf das Gegenteil geschlossen werden kann (BVerfG Beschlüsse vom 15.4.1980 - 2 BvR 827/79 - BVerfGE 54, 86 , 91 f; vom 1.2.1978 - 1 BvR 426/77 - BVerfGE 47, 182 , 187 f und vom 27.5.1970 - 2 BvR 578/69 - BVerfGE 28, 378 , 384 f; BSG Beschlüsse vom 21.4.2022 - B 5 R 306/21 B - juris RdNr 20 und vom 15.12.2016 - B 5 RE 28/16 B - juris RdNr 9). Besondere Umstände sind gegeben, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Beteiligtenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingeht, obwohl das Vorbringen nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts erheblich und nicht offensichtlich unsubstantiiert war (vgl BVerfG Kammerbeschlüsse vom 29.10.2009 - 1 BvR 1729/09 - NZS 2010, 497 , 498 = juris RdNr 12 und vom 30.6.1994 - 1 BvR 2112/93 - NJW 1994, 2683 mwN; BSG Beschlüsse vom 21.4.2022 - B 5 R 306/21 B - juris RdNr 20 und vom 18.5.2016 - B 5 RS 10/16 B - juris RdNr 7). Derartige besondere Einzelfallumstände schildert der Kläger nicht. Denn er lässt offen, dass und ggf inwiefern die Ausführungen von Frank/Oder/Tietze zur MdE-Bewertung von Kompartmentsyndromen überhaupt auf die deutsche gesetzliche Unfallversicherung übertragbar, deshalb als MdE-Erfahrungswerte heranzuziehen und somit aus der maßgeblichen Sicht des LSG erheblich sein könnten.

3. Soweit der Kläger schließlich die Grundsätze der freien richterlichen Beweiswürdigung verletzt sieht, macht er Verstöße gegen § 128 Abs 1 Satz 1 SGG geltend. Auf eine Verletzung dieser Norm kann jedoch kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung ein Verfahrensmangel nicht - dh weder unmittelbar noch mittelbar - gestützt werden 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG ), was verfassungsrechtlich unbedenklich ist (BVerfG Kammerbeschluss vom 12.9.1991 - 1 BvR 765/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 6 S 11).

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG ).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183 , 193 SGG .

Vorinstanz: LSG Nordrhein-Westfalen, vom 22.03.2022 - Vorinstanzaktenzeichen L 15 U 567/20
Vorinstanz: SG Detmold, vom 17.11.2020 - Vorinstanzaktenzeichen S 1 U 187/18