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BGH - Entscheidung vom 10.11.2021

IV ZB 40/20

Normen:
VVG § 203 Abs. 2
GVG § 172 Nr. 2
GVG § 174 Abs. 3

BGH, Beschluss vom 10.11.2021 - Aktenzeichen IV ZB 40/20

DRsp Nr. 2021/18454

Revision eines privat Krankenversicherten gegen die Beitragerhöhung des Krankenversicherers; Ausschluss der Öffentlichkeit im Falle von Fragen zu krankversicherungsrechtlichen Beitragserhöhung als Abhilfe der zu erfolgenden Geheimhaltungspflicht

1. Allein das Überlassen von Unterlagen an den Prozessvertreter eines Beteiligten im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens führt nicht ohne weiteres dazu, Kenntnisse des Beteiligten vom Inhalt der Unterlagen zu bejahen.2. Gemäß § 174 Abs. 3 S. 1 GVG bezieht sich eineGeheimhaltungsanordnung nur auf anwesende Personen.3. Das Gericht ist im Zusammenhang mit einer Geheimhaltungsanordnung nicht verpflichtet, von sich aus ohne weiteres umfangreiche Ermittlungen dazu anzustellen, hinsichtlich welcher im Gerichtssaal anwesenden Person nur noch ein eingeschränktes oder gar kein Bedürfnis für die Geheimhaltungsverpflichtung mehr besteht, weil ihr alle oder einige der aus Sicht des Geheimnisträgers zu schützenden Tatsachen bereits bekannt sind.

Tenor

Die Rechtsbeschwerden des Klägers und des im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht anwesenden Rechtsanwalts gegen den Beschluss des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 23. November 2020 werden auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Normenkette:

VVG § 203 Abs. 2 ; GVG § 172 Nr. 2 ; GVG § 174 Abs. 3 ;

Gründe

I. Der Kläger, der bei der Beklagten für sich und eine weitere Versicherte eine private Krankenversicherung unterhält, wendet sich mit seiner Klage gegen mehrere Beitragserhöhungen.

Mit Schriftsatz vom 12. September 2019 reichte die Beklagte während des Berufungsverfahrens eine Zusammenstellung von Unterlagen ein, die dem im Rahmen des Prämienanpassungsverfahrens tätigen Treuhänder seinerzeit überlassen worden sein sollen. Gleichzeitig beantragte die Beklagte, die Verpflichtung zur Verschwiegenheit für die Klagepartei, die Prozessbevollmächtigten der Klagepartei und den Sachverständigen anzuordnen. Mit Schriftsatz vom 6. Mai 2020 reichte die Beklagte Beitragsberechnungsbögen ein, die nach ihrem Vortrag ebenfalls geheimhaltungsbedürftige Grundlagen für die individuelle Berechnung der hier umstrittenen Beitragserhöhungen enthalten. Dabei widersprach die Beklagte der Weiterleitung der als geheimhaltungsbedürftig bezeichneten Unterlagen an die Klägerseite vor der Sicherstellung der Geheimhaltung.

In der zunächst öffentlichen Sitzung des Oberlandesgerichts am 23. November 2020 erschienen der Kläger mit seinem Prozessbevollmächtigen sowie ein Prozessbevollmächtigter der Beklagten. Nachdem für die weitere Verhandlung auf der Grundlage von § 172 Nr. 2 GVG die Öffentlichkeit ausgeschlossen worden war, beschloss das Oberlandesgericht, dem Kläger und dem anwesenden Klägervertreter die Geheimhaltung von Tatsachen, die durch die Verhandlung oder durch ein die Sache betreffendes amtliches Schriftstück zu ihrer Kenntnis gelangen, zur Pflicht zu machen, soweit sie die im Beschluss zum Ausschluss der Öffentlichkeit im einzelnen bezeichneten Anlagen zu den Schriftsätzen der Beklagtenvertreter vom 12. September 2019 und 6. Mai 2020 betreffen.

Mit ihren vom Oberlandesgericht zugelassenen Rechtsbeschwerden verfolgen die Rechtsbeschwerdeführer das Ziel, die Aufhebung der Geheimhaltungsanordnung zu erreichen.

II. Das Oberlandesgericht meint, die Voraussetzungen für den Erlass einer Geheimhaltungsanordnung gegenüber dem Kläger und seinem ihn im Termin zur mündlichen Verhandlung begleitenden Prozessbevollmächtigten seien gemessen an § 174 Abs. 3 GVG erfüllt.

Im gerichtlichen Verfahren über eine Prämienerhöhung in der privaten Krankenversicherung gemäß § 203 Abs. 2 VVG könne einem berechtigten Geheimhaltungsinteresse des Versicherers an den technischen Berechnungsunterlagen im Einzelfall durch den Ausschluss der Öffentlichkeit gemäß § 172 Nr. 2 GVG und die Verpflichtung zur Verschwiegenheit gemäß § 174 Abs. 3 GVG Rechnung getragen werden. Dies sei vorliegend der Fall.

Das Geheimnis entfalle nicht wegen Offenkundigkeit. Die Vorlage der Unterlagen im hiesigen Verfahren erster Instanz reiche hierfür nicht aus. Offenkundigkeit sei auch dann nicht gegeben, wenn die Unterlagen in dreißig anderen Verfahren vorgelegt worden sein sollten.

III. Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthaften und auch im Übrigen zulässigen Rechtsbeschwerden sind unbegründet.

1. Die angefochtene Entscheidung erweist sich nicht wegen eines Verstoßes gegen §§ 576 Abs. 3 , 547 Nr. 6 ZPO als rechtsfehlerhaft. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerden fehlt es dem Beschluss des Oberlandesgerichts zur Geheimhaltungsanordnung nach § 174 Abs. 3 GVG nicht an ausreichenden Gründen.

Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine Entscheidung ohne Gründe im Sinne von § 547 Nr. 6 ZPO abgefasst, wenn nicht zu erkennen ist, welche tatsächlichen Feststellungen und welche rechtlichen Erwägungen für die getroffene Entscheidung maßgeb end waren (BGH, Urteil vom 23. Juni 1999 - VIII ZR 84/98, NJW 1999, 3192 , Rn. 13; Beschluss vom 21. Dezember 1962 - I ZB 27/62, BGHZ 39, 333 , 337 unter III 2). Dies ist unter anderem dann der Fall, wenn zwar Gründe vorhanden sind, diese aber ganz unverständlich, verworren oder sachlich inhaltslos sind und deshalb in Wirklichkeit nicht erkennen lassen, welche Überlegungen für die Entscheidung maßgebend waren (BGH, Urteil vom 23. Juni 1999 aaO).

Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung zum einen unter Anschluss an die Senatsrechtsprechung (Senatsurteil vom 9. Dezember 2015 - IV ZR 272/15, VersR 2016, 177 Rn. 9; vgl. hierzu auch Senatsbeschlüsse vom 23. Juni 2021 - IV ZB 23/20, VersR 2021, 1120 Rn. 12 und vom 14. Oktober 2020 - IV ZB 4/20, VersR 2020, 1605 Rn. 20) ausgeführt, dass im gerichtlichen Verfahren über eine Prämienerhöhung in der privaten Krankenversicherung einem berechtigten Geheimhaltungsinteresse des Versicherers an den technischen Berechnungsgrundlagen im Einzelfall durch Ausschluss der Öffentlichkeit gemäß § 172 Nr. 2 GVG und die Verpflichtung zur Verschwiegenheit gemäß § 174 Abs. 3 GVG Rechnung getragen werden kann, und dies hier bejaht.

Zum anderen hat sich das Oberlandesgericht mit der im Mittelpunkt des Streits der Parteien stehenden Frage auseinandergesetzt, ob die Vorlage von zumindest Teilen der den Gegenstand der Geheimhaltungsanordnung bildenden Anlagen bereits in erster Instanz und in weiteren Parallelverfahren einer Geheimhaltungsanordnung im hiesigen Berufungsverfahren entgegensteht, und dies verneint.

Damit lässt die angegriffene Entscheidung erkennen, welche Überlegungen für sie maßgeblich waren. Nicht erforderlich war es entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerden, sich mit allen weiteren denkbaren Gesichtspunkten zur Begründung der Entscheidung auseinanderzusetzen (BGH, Urteil vom 15. Oktober 1998 - I ZR 111/96, VersR 1999, 646 Rn. 41).

2. Auch im Übrigen hält die angefochtene Entscheidung einer rechtlichen Überprüfung stand.

a) Wie der Senat bereits wiederholt entschieden hat, obliegt es im Rahmen des durch § 174 Abs. 3 GVG eröffneten Ermessens grundsätzlich dem Tatrichter, unter Berücksichtigung der Gesamtumstände über den erforderlichen Umfang der Geheimhaltungsverpflichtung zu entscheiden. Das Rechtsbeschwerdegericht kann lediglich überprüfen, ob der Tatrichter sein Ermessen verkannt, die Grenzen seines Ermessens überschritten oder von seinem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (Senatsbeschlüsse vom 23. Juni 2021 aaO Rn. 13 und vom 14. Oktober 2020 aaO Rn. 21).

b) Gemessen hieran lässt die angefochtene Entscheidung keine Ermessens- oder Rechtsfehler erkennen:

aa) Soweit die Rechtsbeschwerden rügen, die angefochtene Entscheidung enthalte keine Ermessenserwägungen, trifft dies nicht zu . Die Ausführungen des Oberlandesgerichts lassen noch ausreichend erkennen, dass das Oberlandesgericht sein Ermessen gesehen und ausgeübt hat.

bb) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerden ist die Geheimhaltungsanordnung nicht deshalb ermessensfehlerhaft, weil das Oberlandesgericht Vorkenntnisse der beiden Rechtsbeschwerdef ührer nicht berücksichtigt hat.

Zwar umfasst die Geheimhaltungsverpflichtung nur solche Tatsachen, die dem zum Schweigen Verpflichteten nicht bereits vorher bekannt waren (vgl. Senatsbeschluss vom 14. Oktober 2020 aaO Rn. 34). Ein solcher Fall aber ist hier nicht gegeben. Für das Oberlandesgericht mussten sich keine hinreichenden, zu einer Beschränkung des tatrichterlichen Ermessens führenden Anhaltspunkte ergeben, dass in der Person des Klägers oder des ihn in der mündlichen Verhandlung vertretenden Rechtsanwalts Vorkenntnisse bezogen auf die von der Geheimhaltungsanordnung betroffenen Unterlagen bestanden.

(1) Zu Recht weist die Rechtsbeschwerdeerwiderung darauf hin, dass für den Kläger jeglicher Vortrag fehlt, dieser habe im Zeitpunkt der Beschlussfassung durch das Oberlandesgericht bereits Kenntnis vom Inhalt der als geheimhaltungsbedürftig markierten Teile der Anlagen gehabt. Allein das Überlassen der Unterlagen an die Sozietät der Klägervertreter im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens führt nicht ohne weiteres dazu, Kenntnisse des Klägers zu bejahen. Dass der Kläger die Unterlagen ausgehändigt erhalten und zur Kenntnis genommen hat, ist nicht dargetan.

(2) Die Beschlussfassung zur Geheimhaltungsanordnung hält auch den Angriffen der Rechtsbeschwerde stand, soweit der im Sitzungssaal anwesende Prozessbevollmächtigte des Klägers betroffen ist.

Auch bezogen auf ihn fehlt substantieller Vortrag, hinsichtlich welcher der als geheimhaltungsbedürftig bezeichneten Unterlagen Vorkenntnisse bestanden haben. Nicht ausreichend für eine Begrenzung des tatrichterlichen Ermessens, der Geheimhaltungsanregung der Beklagtenseite zu entsprechen, ist es, wenn in der Rechtsbeschwerdebegründung ausgeführt wird, die "Klägerseite" habe vorgetragen, "dass sie bzw. ihre anwaltlichen Vertreter" ... "in diesem Verfahren ... bzw. in anderen Verfahren" Kenntnis ohne vorherige Geheimhaltungsanordnung erlangt hätten. Zu Umfang und Zeitpunkt der Kenntniserlangung durch den den Kläger in der Verhandlung vor dem Oberlandesgericht vertretenden Prozessbevollmächtigten besagt das nichts, zumal dieser den Termin der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung nicht wahrgenommen hatte. Aus den mit der Rechtsbeschwerdebegründung in Bezug genommenen Auszügen aus dem Schriftsatz der Klägervertreter vom 26. Mai 2020 folgt nichts anderes; dort ist lediglich vorgetragen, die Beklagte habe die dort näher bezeichneten Unterlagen bereits früher freiwillig herausgegeben.

cc) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerden ist bei der Entscheidung zur Geheimhaltungsanordnung ohne Relevanz, ob bei anderen Klägervertretern möglicherweise Vorkenntnisse bestanden haben. Dies gilt schon deshalb, weil sich nach dem Wortlaut des § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG die Geheimhaltungsanordnung nur auf anwesende Personen bezieht (Senatsbeschluss vom 23. Juni 2021 aaO Rn. 25). Hier war neben dem Kläger nur der ihn in der mündlichen Verhandlung vertretende Rechtsanwalt anwesend.

dd) Aus diesem Grund geht auch der weitere Einwand der Rechtsbeschwerden fehl, eine Überlassung der nunmehr der Geheimhaltungsanordnung unterworfenen Unterlagen in diesem (oder einem anderen) Verfahren schließe jedenfalls aus, dass eine Kenntnis erst durch die Verhandlung oder durch ein die Sache betreffendes amtliches Schriftstück erlangt werden könne. Dies greift deshalb zu kurz, weil es nicht auf die Kenntniserlangung irgendeines Dritten, sondern allein auf die Kenntnis der im Sitzungssaal anwesenden Personen ankommt. Zu deren Kenntnis aber ist nichts dargelegt.

ee) Die Geheimhaltungsanordnung erweist sich entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerden auch nicht als rechtsfehlerhaft, weil mit ihr den Klägervertretern die Möglichkeit der Verwendung von Kenntnissen aus dem vorliegenden Verfahren in anderen Parallelrechtsstreitigkeiten genommen wird. Dies ist nicht Sinn und Zweck der Erörterung der Berechnungsgrundlagen im Rechtsstreit mit der Beklagten (Senatsbeschlüsse vom 23. Juni 2021 - IV ZB 23/20, VersR 2021, 1120 Rn. 28 und vom 14. Oktober 2020 - IV ZB 4/20, VersR 2020, 1605 Rn. 22).

ff) Das Oberlandesgericht war - wie der Senat ebenfalls bereits entschieden hat - entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerden auch nicht gehalten, im Rahmen seiner Ermessensentscheidung Fragen einer zukünftigen Gefahr strafrechtlicher Ermittlungsverfahren gegen die zur Geheimhaltung Verpflichteten nachzugehen. Diese Strafbewehrung eines Verstoßes gegen eine Geheimhaltungsanordnung nach § 353d Nr. 2 StGB ist gegebenenfalls Folge einer solchen Zuwiderhandlung, nicht aber eine von dem die Geheimhaltungsanordnung erlassenden Gericht zu beachtende Voraussetzung der Anordnung (Senatsbeschluss vom 23. Juni 2021 aaO Rn. 26).

gg) Ein Ermessensfehler des Tatrichters folgt entgegen der A uffassung der Rechtsbeschwerden auch nicht aus einer unzureichenden Aufklärung des Sachverhalts.

(1) Das Gericht ist nicht verpflichtet, von sich aus ohne weiteres umfangreiche Ermittlungen dazu anzustellen, hinsichtlich welcher im Gerichtssaal anwesenden Person nur noch ein eingeschränktes oder gar kein Bedürfnis für die Geheimhaltungsverpflichtung mehr besteht, weil ihr alle oder einige der aus Sicht des Geheimnisträgers zu schützende n Tatsachen bereits bekannt sind. Vielmehr kann das Gericht bei seiner Ermessensausübung auch ein nur möglicherweise bestehendes Geheimhaltungsinteresse berücksichtigen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 23. Juni 2 021 aaO Rn. 22 und vom 14. Oktober 2020 aaO Rn. 33).

Darüber hinaus ist bei der Überprüfung, ob sich der Tatrichter bei der Geheimhaltungsanordnung im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens bewegt hat, auf den Zeitpunkt der Beschlussfassung abzustellen. Entscheidend ist hierbei, ob zu diesem Zeitpunkt aus Sicht des Tatrichters damit zu rechnen war, dass demjenigen Tatsachen durch die Verhandlung oder durch ein das Verfahren betreffendes amtliches Schriftstück zur Kenntnis gelangen, dessen Verpflichtung zur Geheimhaltung in Rede steht (Senatsbeschluss vom 23. Juni 2021 aaO Rn. 23; zur vergleichbaren Rechtslage bei der Ermessensausübung des Tatrichters im Rahmen der Beschlussfassung nach § 172 Nr. 2 GVG vgl. Senatsurteil vom 9. Dezember 2015 - IV ZR 272/15, VersR 2016, 177 Rn. 10).

(2) Legt man dies zugrunde, ist hier ohne weiteres vom tatrichterlichen Ermessen gedeckt, den Beschluss betreffend die umfassende Geheimhaltungsanordnung für den Kläger und den im Sitzungssaal anwesenden Prozessbevollmächtigten zu fassen, ohne eine zeitaufwändige, umfassende Aufklärung möglicher Vorkenntnisse vorzunehmen. Auch nach Gewährung rechtlichen Gehörs für die Klägerseite mussten sich für das Oberlandesgericht keine ausreichenden Ansatzpunkte für Vorkenntnisse gerade in der Person des Klägers oder des anwesenden Klägervertreters ergeben, die vor Ausübung des tatrichterlichen Ermessens Anlass für weitere Ermittlungen gegeben hätten.

hh) Die Entscheidung des Oberlandesgerichts erweist sich entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerden auch nicht deshalb als ermessensfehlerhaft, weil mit den Anlagen BLD 74 und BLD 77 die Geheimhaltungsanordnung auf solche Anlagen erstreckt worden ist, die jeweils Auflistungen des Inhalts von Anlagenkonvoluten enthalten. Das Oberlandesgericht konnte auch insoweit zumindest von einem möglicherweise bestehenden Geheimhaltungsinteresse (vgl. hierzu Senatsbeschlüsse vom 23. Juni 2021 aaO Rn. 22 und vom 14. Oktober 2020 aaO Rn. 33) ausgehen, ohne dass dies aus Rechtsgründen zu beanstanden wäre. Denn aus der Zusammensetzung der dem Treuhänder zur Verfügung gestellten Unterlagen und insbesondere auch aus den tabellarisch verfassten Erläuterungen zur Begründung des Interesses der Beklagten, dass eine weitere Verbreitung unterbleibt, konnten sich aus Sicht des Oberlandesgerichts Informationen für Konkurrenten der Beklagten ergeben, die ein sich auf auch die Auflistungen erstreckendes Geheimhaltungsinteresse der Beklagten begründen.

ii) Die Entscheidung des Oberlandesgerichts ist auch nicht deshalb ermessens- oder rechtsfehlerhaft, weil sich die Geheimhaltungsanordnung - unabhängig von der Frage der Kenntnis der in der mündlichen Verhandlung anwesenden Personen - auf solche Unterlagen erstreckt, die bereits während des erstinstanzlichen Verfahrens und gegebenenfalls in Parallelrechtsstreitigkeiten durch die Beklagte vorgelegt worden waren. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerden kam nach wie vor der Erlass einer Geheimhaltungsanordnung in Betracht (so auch OLG Hamm, Beschluss vom 27. Januar 2021 - 20 W 48/20 juris Rn. 16 ff.; KG, VersR 2021, 1318 juris Rn. 20; OLG Schleswig VersR 2020, 1033 juris Rn. 11; OLG Frankfurt, Beschluss vom 19. Dezember 2019 - 12 W 54/19, juris Rn. 22; vgl. auch OLG Karlsruhe - 12 W 5/20 VersR 2020, 1439 Rn. 29 f.).

(1) Der Vorlage der Unterlagen ohne Hinwirken auf eine Geheimhaltungsanordnung kann nicht die Bedeutung beigemessen werden, hierin liege eine "Selbstwiderlegung der geltend gemachten Schutzwürdigkeit" (so aber OLG Karlsruhe aaO Rn. 29), also ein Verzicht auf den zukünftigen Schutz des Geheimnisses.

Durch die Vorlage von Dokumenten zur Substantiierung des eigenen Vortrags in einem Zivilrechtsstreit werden hierin enthaltene Informationen weder offenkundig noch einem unbegrenzten Personenkreis zugänglich. Auch das berechtigte Interesse an der Geheimhaltung einer Information entfällt nicht dadurch, dass der Geheimnisträger es zum Zwecke der Anspruchsverfolgung oder - wie hier - der Rechtsverteidigung in einem Rechtsstreit vorlegt, ohne gleichzeitig Geheimhaltungsmaßnahmen anzuregen (KG aaO Rn. 20).

(2) Die angefochtene Entscheidung lässt auch keine Ermessensfehler erkennen, indem das Oberlandesgericht trotz der bereits zuvor erfolgten Vorlage der nunmehr von der Geheimhaltungsanordnung betroffenen Unterlagen das Fortbestehen eines diesbezüglichen Geheimnisses angenommen hat.

Der Schutz eines Geheimnisses nach §§ 172 Nr. 2 und 3 , 174 Abs. 3 Satz 1 GVG endet nicht, wenn es einem beschränkten Personenkr eis bekannt wird (Kissel/Mayer, Gerichtsverfassungsgesetz 10. Aufl. § 172 Rn. 40). Ob die Informationen ohne Geheimhaltungsanordnung in einem solchen Umfang Dritten bereits bekannt gemacht worden sind, dass nicht mehr von einem Geheimnis ausgegangen werden kann, ist gerade Gegenstand der tatrichterlichen Würdigung im Einzelfall. Dass hier das Oberlandesgericht die Grenzen des ihm zustehenden Ermessens (vgl. hierzu die Senatsbeschlüsse vom 23. Juni 2021 aaO Rn. 13 und vom 14. Oktober 2020 aaO Rn. 21) überschritten hat, zeigt die Rechtsbeschwerdebegründung nicht auf und ist auch nicht erkennbar. Allein der Hinweis auf das hiesige erstinstanzliche Verfahren und Parallelrechtstreitigkeit en genügt nicht. Gegen die Kenntnisnahme durch eine einer Geheimhaltungsanordnung entgegenstehenden großen Anzahl von Personen streitet schon, dass in den Parallelverfahren nur die jeweiligen Kläger personenverschieden waren; im hiesigen Rechtsstreit ist nicht einmal dies der Fall.

jj) Anders als die Rechtsbeschwerden meinen, ergeben sich aus dem Beschluss des Oberlandesgerichts schließlich keine Anhaltspunkte für eine ermessensfehlerhafte Vorgehensweise dahingehend, entgegen den Vorgaben des § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG die Geheimhaltungsanordnung auf bestehende Vorkenntnisse mit erstrecken zu wollen.

Vorinstanz: OLG Koblenz, vom 23.11.2020 - Vorinstanzaktenzeichen 10 U 762/18