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BGH - Entscheidung vom 14.07.2020

XIII ZB 11/19

Normen:
AufenthG a.F. § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5
AufenthG a.F. § 2 Abs. 14 Nr. 3

BGH, Beschluss vom 14.07.2020 - Aktenzeichen XIII ZB 11/19

DRsp Nr. 2020/14994

Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Sicherungshaft zur Vorbereitung oder Durchführung einer Abschiebung; Vorliegen des Haftgrundes der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 AufenthG aF; Voraussetzungen des konkreten Anhaltspunkts für Fluchtgefahr nach § 2 Abs. 14 Nr. 3 AufenthG aF

Ein Anhaltspunkt für Fluchtgefahr vorliegen, wenn der Ausländer gesetzliche Mitwirkungshandlungen zur Feststellung der Identität verweigert oder unterlassen hat und aus den Umständen des Einzelfalls geschlossen werden kann, dass er einer Abschiebung aktiv entgegenwirken will. "Aktiv entgegenwirken" heißt, dass der Ausländer nicht nur passiv die weitere Entwicklung abwarten, sondern die Abschiebung gezielt verhindern will. Dementsprechend ist eine Entziehungsabsicht nicht schon bei jeder unterlassenen Mitwirkung bei der Passersatzbeschaffung anzunehmen.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde wird der Beschluss der 9. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund vom 30. Oktober 2017 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Dortmund vom 6. Juli 2016 den Betroffenen bis zum Ablauf des 9. August 2016 in seinen Rechten verletzt hat.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der Stadt Dortmund auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Normenkette:

AufenthG a.F. § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 ; AufenthG a.F. § 2 Abs. 14 Nr. 3 ;

Gründe

I. Der Betroffene, ein litauischer Staatsangehöriger, hielt sich seit 2003 in Deutschland auf. Wegen einer Vielzahl strafrechtlicher Verurteilungen stellte die beteiligte Behörde mit Bescheid vom 18. April 2016 nach § 6 FreizügG/EU unter Anordnung der sofortigen Vollziehung fest, dass der Betroffene das Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren habe; sie setzte ihm zugleich unter Androhung der Abschiebung eine Frist zur Ausreise binnen eines Monats. Dieser Bescheid wurde dem Betroffenen am 22. April 2016 in der Justizvollzugsanstalt R. zugestellt, in welcher er zu diesem Zeitpunkt den Strafrest aus einer Verurteilung des Amtsgerichts Dortmund vom 12. Oktober 2011 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verbüßte.

Die von der beteiligten Behörde geplante Abschiebung des Betroffenen nach Litauen aus der Haft heraus konnte nicht wie zunächst geplant durchgeführt werden, weil der Betroffene am 12. Mai 2016 vorzeitig aus der Strafhaft entlassen wurde. Bereits in der Haft hatte der Betroffene gegenüber einem Mitarbeiter der Zentralen Ausländerbehörde der Stadt Köln angegeben, dass er nicht ausreisen wolle und eine Mitwirkung an der Beschaffung eines Identitätsdokuments bei den litauischen Behörden (Erstellung eines Passbildes und Unterzeichnung eines entsprechenden Antrags) ablehne. Dennoch leistete der Betroffene einer Aufforderung der beteiligten Behörde Folge, sich dort zu melden. Er gab bei dieser Gelegenheit an, dass er bis zum 22. Mai 2016 freiwillig ausreisen wolle. Die ihm zu diesem Zweck erteilte Grenzübertrittsbescheinigung gelangte aber nicht zur beteiligten Behörde zurück. Deshalb schrieb diese den Betroffenen zur Fahndung aus. Daraufhin wurde dieser am 5. Juli 2016 gegen 19:00 Uhr bei einer allgemeinen Personenkontrolle in Dortmund durch Polizeibeamte vorläufig festgenommen.

Aufgrund eines Haftantrags der beteiligten Behörde vom gleichen Tag hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 6. Juli 2016 gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung seiner Abschiebung nach Litauen bis zum 17. August 2016 angeordnet. Am 9. August 2016 ist der Betroffene aus der Sicherungshaft entlassen und in die Justizvollzugsanstalt Dortmund zur Vollstreckung einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe wegen Diebstahls verlegt worden. Von dort aus ist er am 9. Januar 2017 unter der Voraussetzung der Abschiebung gemäß § 456a StPO aus der Strafhaft entlassen und nach Litauen abgeschoben worden. Die mit dem Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der vollzogenen Sicherungshaft fortgesetzte Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die beteiligte Behörde beantragt. Er möchte weiterhin die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Sicherungshaft erreichen.

II. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Nach Auffassung des Beschwerdegerichts ist die Beschwerde des Betroffenen mit einem Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Sicherungshaft gemäß § 62 FamFG zulässig, nachdem sich die Hauptsache durch Entlassung des Betroffenen aus der Haft zum Zweck der Abschiebung erledigt habe. Sie sei aber unbegründet. Der angeordneten Sicherungshaft habe ein Antrag der beteiligten Behörde zugrunde gelegen, der den Anforderungen des § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG genüge. Die beteiligte Behörde habe ausreichend dargelegt, weshalb sie Sicherungshaft für die Dauer von sechs Wochen beantragt habe. Sie habe auch die Erforderlichkeit der Haft im Hinblick auf das bisherige Verhalten des Betroffenen sowie die Zwischenschritte für die Durchführung der Abschiebung erläutert. Angaben zu einem Einvernehmen der Staatsanwaltschaft habe der Antrag nicht enthalten müssen, da die gegen den Betroffenen eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren rechtskräftig abgeschlossen und weitere nicht bekannt geworden seien. Der Haftantrag sei auch begründet. Der Betroffene sei aufgrund des Bescheids vom 18. April 2016 vollziehbar ausreisepflichtig gewesen. Die ihm gesetzte Frist zur Ausreise sei am Tag der Haftanordnung (6. Juli 2016) fruchtlos abgelaufen gewesen. Der von dem Amtsgericht angenommene Haftgrund nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 , § 2 Abs. 14 Nr. 5 AufenthG habe vorgelegen. Der Betroffene habe bereits im Rahmen eines Gesprächs mit einem Bediensteten der Zentralen Ausländerbehörde der Stadt Köln erklärt, dass er nicht abgeschoben werden wolle. Das ergebe sich zweifelsfrei aus einem entsprechenden, mit dem Haftantrag vorgelegten Vermerk des handelnden Bediensteten. Zugleich habe der Betroffene die Mitarbeit an der Beschaffung von Passersatzpapieren verweigert. Vor dem Amtsgericht habe er erklärt, nicht nach Litauen zurück zu wollen. Die angeordnete Haft sei auch angemessen gewesen. Sie sei zwar nach § 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG auf die kürzest mögliche Dauer zu beschränken. Das sei hier mit der Anordnung einer Haft von sechs Wochen aber auch geschehen. Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot sei nicht ersichtlich. Die beteiligte Behörde habe es nicht zu verantworten, dass gegen den Betroffenen ab dem 9. August 2016 Strafhaft vollstreckt worden sei.

Die Rüge des Betroffenen, er sei nicht unverzüglich, sondern erst am Folgetag dem Richter vorgeführt worden, führe nicht zu einer Unzulässigkeit der Haftanordnung. Denn er habe am Tag seiner Festnahme (5. Juli 2016, 19:00 Uhr) bis zum Ende des richterlichen Bereitschaftsdienstes um 21:00 Uhr desselben Tages nicht mehr dem Richter vorgeführt werden können.

2. Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung in einem entscheidenden Punkt nicht stand. Auf der Grundlage der Feststellungen des Beschwerdegerichts kann ein Haftgrund nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 und Nr. 5 AufenthG in der bis zum 20. August 2019 geltenden Fassung (fortan: aF), die hier noch maßgeblich ist, nicht angenommen werden.

a) Die Feststellungen ergeben den von dem Amtsgericht angenommenen Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG aF nicht.

aa) Die Voraussetzungen des konkreten Anhaltspunkts für Fluchtgefahr nach § 2 Abs. 14 Nr. 3 AufenthG aF liegen nach den Feststellungen nicht vor.

(1) Nach § 2 Abs. 14 Nr. 3 AufenthG aF kann ein Anhaltspunkt für Fluchtgefahr vorliegen, wenn der Ausländer gesetzliche Mitwirkungshandlungen zur Feststellung der Identität verweigert oder unterlassen hat und aus den Umständen des Einzelfalls geschlossen werden kann, dass er einer Abschiebung aktiv entgegenwirken will. Unter den gesetzlichen Mitwirkungshandlungen im Sinne dieser Vorschrift sind jedenfalls solche zu verstehen, die zur Vorbereitung oder Durchführung einer Abschiebung gegenüber einem Ausländer nach § 82 Abs. 4 AufenthG angeordnet werden. "Aktiv entgegenwirken" heißt, dass der Ausländer nicht nur passiv die weitere Entwicklung abwarten, sondern die Abschiebung gezielt verhindern will. Dementsprechend ist eine Entziehungsabsicht nicht schon bei jeder unterlassenen Mitwirkung bei der Passersatzbeschaffung anzunehmen. Ein entsprechender Rückschluss ist vielmehr nur zulässig, wenn das genannte Verhalten einem aktiven Entgegenwirken gleichkommt (vgl. zum Ganzen: BGH, Beschluss vom 13. September 2018 - V ZB 151/17, Asylmagazin 2018, 459 Rn. 6 mwN).

(2) Diese Voraussetzungen ergeben die getroffenen Feststellungen nicht. Der Betroffene hat es zwar bei einem Besuch von Bediensteten der mit der Vorbereitung seiner Abschiebung nach Litauen befassten Zentralen Ausländerbehörde in Köln in der seinerzeit noch vollzogenen Strafhaft am 28. April 2016 abgelehnt, einen Antrag zur Beschaffung von Passersatzpapieren zu unterschreiben und das erforderliche Lichtbild von sich anfertigen zu lassen. Ferner hat er bei dieser Gelegenheit erklärt, nicht nach Litauen abgeschoben werden zu wollen. Daraus folgt aber nicht, dass der Betroffene der Abschiebung aktiv entgegenwirken würde. Das für die Abschiebung des Betroffenen nach Litauen erforderliche Heimreisedokument konnte nämlich auch ohne einen solchen Antrag beschafft werden. Nach Art. 1 Abs. 4 Buchst. b, Art. 3 Abs. 1 des Durchführungsprotokolls zu dem hier maßgeblichen deutsch-litauischen Rücknahmeübereinkommen vom 16. Dezember 1998 (in Kraft seit dem 1. Januar 2000 gemäß Bekanntmachung vom 28. Januar 2000, BGBl. I S. 588 ) kann dieses Dokument ohne weitere Formalitäten von der zuständigen litauischen Auslandsvertretung in Deutschland erteilt werden, wenn - wie im Fall des Betroffenen - eine Kopie des litauischen Reisepasses vorgelegt werden kann. Außerdem hat sich der Betroffene nach seiner Entlassung aus der Strafhaft am 12. Mai 2016 bei der be-teiligten Behörde gemeldet und seine Bereitschaft zur freiwilligen Ausreise erklärt. Dass es hierzu nicht gekommen ist, ist für sich genommen kein ausreichendes Indiz für die Annahme, der Betroffene werde seiner Abschiebung nach Litauen aktiv entgegenwirken. Grund dafür können ebenso fehlende Mittel für die Heimreise oder eine allgemeine Antriebsschwäche gewesen sein. Der Betroffene ist nämlich nach den getroffenen Feststellungen seit Jahren drogenabhängig; er hat keine tragfähige Beziehung zu seiner früheren Lebensgefährtin und hatte die Monate zuvor in Strafhaft verbracht.

bb) Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts ließ sich die Annahme der Fluchtgefahr auch nicht auf den konkreten Anhaltspunkt nach § 2 Abs. 14 Nr. 5 AufenthG aF stützen.

(1) Nach dieser Vorschrift kann die ausdrückliche Erklärung des Ausländers, dass er sich der Abschiebung entziehen will, ein Anhaltspunkt für eine Fluchtgefahr sein. Eine solche Erklärung liegt vor, wenn der Ausländer klar zum Ausdruck bringt, dass er nicht freiwillig in den in der Abschiebungsandrohung genannten Zielstaat reisen und sich vor allem auch nicht für eine behördliche Durchsetzung seiner Rückführung zur Verfügung halten würde. Die tatrichterliche Schlussfolgerung auf die Entziehungsabsicht unterliegt einer Rechtskontrolle nur dahin, ob die verfahrensfehlerfrei festgestellten Tatsachen eine solche Folgerung als möglich erscheinen lassen; mit der Rechtsbeschwerde kann nicht geltend gemacht werden, dass die Folgerungen des Tatrichters nicht zwingend seien oder dass eine andere Schlussfolgerung ebenso naheliegt (zum Ganzen: BGH, Beschlüsse vom 23. Januar 2018 - V ZB 53/17, FGPrax 2018, 135 Rn. 10 f., und vom 13. September 2018 - V ZB 151/17, Asylmagazin 2018, 459 Rn. 9).

(2) Auch unter Berücksichtigung dieses eingeschränkten Prüfungsmaßstabes ist die Schlussfolgerung des Beschwerdegerichts, der Betroffene habe ausdrücklich erklärt, sich der Abschiebung entziehen zu wollen, zu beanstanden. Seine Erklärung, er habe nach Litauen keine Kontakte mehr, er sei seit 2003 betäubungsmittelabhängig und wolle nicht zurück nach Litauen, besagt nur, dass der Betroffene in Deutschland bleiben wollte. Diese Erklärung lässt sich auch unter Berücksichtigung der festgestellten Umstände ohne nähere Sachaufklärung nach § 26 FamFG nicht als ausdrückliche Erklärung verstehen, sich der Abschiebung entziehen zu wollen. Der Betroffene hat nämlich nach seiner Entlassung aus der Strafhaft am 12. Mai 2016 der Aufforderung der beteiligten Behörde Folge geleistet, sich zur Besprechung seiner Ausreise nach Litauen bei ihr einzufinden. Er hat sich dabei auch bereit erklärt, freiwillig nach Litauen auszureisen. Diese Ankündigung hat der Betroffene zwar nicht umgesetzt; er ist vielmehr in Deutschland geblieben, wo er am 5. Juli 2016 festgenommen wurde. Dieser Umstand allein bietet aber keine tragfähige Grundlage für die Annahme, dass der Betroffene nicht nur gerne in Deutschland bleiben wollte, sondern sich darüber hinaus auch einer zwangsweisen Abschiebung nach Litauen widersetzen würde. Denn die unterbliebene Ausreise nach Litauen könnte, wie ausgeführt, auch andere Gründe gehabt haben.

b) Aus den gleichen Gründen tragen die Feststellungen die Annahme des Haftgrunds nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AufenthG aF nicht. Dieser Haftgrund setzt ein Verhalten des Betroffenen voraus, mit dem er eine konkrete, auf seine Abschiebung aus dem Bundesgebiet gerichtete Maßnahme der deutschen Behörden vereitelt hat (BGH, Beschluss vom 22. Juni 2017 - V ZB 21/17, NVwZ 2017, 1640 Rn. 6). Daran fehlt es schon deshalb, weil die Abschiebung des Betroffenen nach Litauen, wie ausgeführt, aufgrund der Kopie seines Reisepasses auch ohne die Unterzeichnung des Antrags auf Erteilung von Passersatzpapieren und die Anfertigung eines Lichtbilds möglich war.

3. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden (§ 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG ). Aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten Abschiebung des Betroffenen können die erforderlichen Feststellungen nicht mehr getroffen werden, da hierfür auch seine persönliche Anhörung zu dem Ergebnis der weiteren Sachaufklärung erforderlich wäre (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. März 2016 - V ZB 39/15, NVwZ 2016, 1112 [Ls.] = Rn. 10 mwN, und vom 20. April 2018 V ZB 226/17, NVwZ-RR 2018, 746 Rn. 14).

4. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 74 Abs. 7 FamFG ).

Vorinstanz: AG Dortmund, vom 06.07.2016 - Vorinstanzaktenzeichen 803 XIV 11/16
Vorinstanz: LG Dortmund, vom 30.10.2017 - Vorinstanzaktenzeichen 9 T 455/16