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BGH - Entscheidung vom 18.05.2021

1 StR 124/21

Normen:
StPO § 244 Abs. 4

Fundstellen:
StV 2022, 217

BGH, Beschluss vom 18.05.2021 - Aktenzeichen 1 StR 124/21

DRsp Nr. 2021/15998

Verfahrensrüge der fehlerhaften Ablehnung eines Beweisantrags auf Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens; Rechtsfehlerhaftigkeit der Beweiswürdigung

In einer Konstellation, in der die Entscheidung im Wesentlichen davon abhängt, ob das Gericht den Angaben der einzigen Belastungszeugin folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, die seine Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegung einbezogen hat.

Tenor

1.

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 9. Dezember 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

2.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Normenkette:

StPO § 244 Abs. 4 ;

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Tuttlingen vom 15. Juli 2019 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren sechs Monaten und zwei Wochen verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO ).

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der Angeklagte und die Nebenklägerin lernten sich am Abend des 16. Juni 2019 im Bereich des Hauptbahnhofs in S. kennen. Die Nebenklägerin erlaubte dem Angeklagten, seine Reisetasche in ihrem Hotelzimmer abzustellen. Anschließend verbrachten beide den Abend gemeinsam im Stadtgarten, wo sie Alkohol tranken und einen Joint rauchten. Gegen 23.09 Uhr betraten beide gemeinsam das Hotel und begaben sich zum acht bis zehn Quadratmeter großen Zimmer der Nebenklägerin.

Nachdem sie dort gemeinsam einen Joint geraucht und Musik gehört hatten, bat die Nebenklägerin den Angeklagten zu gehen, was dieser aber ablehnte, da er noch mit ihr ʺchillenʺ wolle. Die Nebenklägerin wollte den Angeklagten nicht sofort aus dem Zimmer weisen und stellte sich an das geöffnete Fenster, um zu rauchen. Dies nutze der Angeklagte für eine sexuelle Annäherung und legte seine Arme um ihre Hüften und machte der Nebenklägerin Komplimente. Anschließend griff er unter ihr T-Shirt und öffnete den Verschluss ihres BHs. Dadurch fühlte sich die Nebenklägerin bedrängt, setzte sich an die Fußseite des Bettes und bat den Angeklagten zu gehen. Dazu war der Angeklagte aber nicht bereit. Er wollte vielmehr mit der Nebenklägerin, auch gegen ihren Willen und notfalls unter Anwendung von Gewalt, sexuell verkehren.

Dazu kniete sich der Angeklagte auf die Oberschenkel der am Bett sitzenden Nebenklägerin, zog ihr das T-Shirt über den Kopf und riss den BH nach vorne weg. Obwohl die Nebenklägerin ihn bat, von ihr abzulassen, drückte der Angeklagte sie an der rechten Schulter auf das Bett und stieg mit einem Bein über ihren Körper. Nachdem er seine kurze Hose und die Boxershorts bis zu den Knien heruntergezogen hatte, stellte er sein Knie auf die linke Schulter der Nebenklägerin und beschimpfte diese als ʺHureʺ und ʺSchlampeʺ. Die körperlich deutlich unterlegene Nebenklägerin versuchte vergeblich, den Angeklagten wegzudrücken, und warf ihren Kopf hin und her, als dieser seinen entblößten Penis in ihren Mund einführen wollte. Dem Angeklagten gelang dies aber trotzdem, so dass die Nebenklägerin heftig würgen und nach Luft ringen musste. Nach zwei bis drei Minuten nahm der Angeklagte, der wegen dieser heftigen Gegenwehr nicht zum Samenerguss gekommen war, seinen Penis aus dem Mund der Nebenklägerin und stand auf.

Die Nebenklägerin rief laut nach Hilfe und bat den Angeklagten, von ihr abzulassen, worauf dieser ihr zu verstehen gab, dass sie ihm zu Willen zu sein habe und niemand zu Hilfe komme werde. Da die Nebenklägerin große Furcht vor Schlägen hatte, bot sie dem Angeklagten an, sich durch die weitere Ausführung des Oralverkehrs ʺfreizukaufenʺ und ihn so zum Gehen zu bewegen. Dies war dem Angeklagten, der den ungeschützten vaginalen Geschlechtsverkehr mit der Nebenklägerin durchführen wollte, aber nicht genug. Der Angeklagte drückte die Nebenklägerin mit der Hand an der Schulter auf das Bett, öffnete den Gürtel ihrer Hose und zog diese und ihren Slip bis zu den Knien herunter. Obwohl die Nebenklägerin die Beine zusammenpresste und versuchte, den Angeklagten von sich wegzustoßen, gelang es diesem, seinen Penis in deren Scheide einzuführen. Da die Nebenklägerin sich wehrte und dem Angeklagten einen Tritt in den Leistenbereich versetzen konnte, bevor er zum Samenerguss gekommen war, gelang es ihr, sich zu befreien und vom Bett aufzustehen. Sie zog Slip und Hose wieder hoch, rannte mit nacktem Oberkörper aus dem Zimmer und klopfte an der Tür des Zimmernachbarn, um Hilfe zu bekommen. Dieser kam zwar an die Tür, reagierte aber auf entsprechende Bitten der Nebenklägerin nicht. Nach der Flucht der Nebenklägerin aus dem Zimmer zog sich der Angeklagte, der Unannehmlichkeiten fürchtete, rasch an und lief mit seiner Reisetasche aus dem Zimmer. Dies nutzte die Nebenklägerin, um wieder in ihr Zimmer zurückzukehren und die Tür zu verschließen. Der Angeklagte war sehr über das aus seiner Sicht unbotmäßige Verhalten der Nebenklägerin verärgert und klopfte an deren Zimmertüre, um sie zur Rede zu stellen, wobei er sie als ʺSchlampeʺ und ʺwertlose Scheißeʺ beschimpfte. Nachdem die Nebenklägerin ihn zum Verschwinden aufgefordert hatte, verließ er schließlich das Hotel.

2. Der Angeklagte räumte das äußere Tatgeschehen teilweise ein. Er fühle sich durch die belastenden Angaben der Nebenklägerin hereingelegt, da er bei ihr nur einvernehmliche sexuelle Handlungen durchgeführt habe. Das Landgericht ist den Angaben der Nebenklägerin gefolgt und hat diese für konstant und zuverlässig gehalten. Diese Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin und die Glaubhaftigkeit ihrer Schilderung hat das Landgericht insbesondere auch nicht in Ansehung verschiedener unrichtiger Angaben in der Hauptverhandlung, die die Nebenklägerin erst bei ihrer zweiten Vernehmung nach entgegenstehenden Zeugenaussagen korrigierte, in Frage gestellt gesehen.

II.

Der Schuldspruch hält einer sachlich-rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Eines weiteren Eingehens auf die erhobene Verfahrensrüge der fehlerhaften Ablehnung eines Beweisantrags auf Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens (§ 244 Abs. 4 StPO ) bedarf es daher nicht.

1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist rechtsfehlerhaft.

a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Überprüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn das Tatgericht zu hohe Anforderungen an die Überzeugungsbildung stellt. Allerdings bestehen besondere Anforderungen an die Darlegung der Überzeugungsbildung, wenn das Tatgericht – wie hier – seine Feststellungen im Rahmen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zum eigentlichen Tatgeschehen allein auf die Angaben der Geschädigten stützt. In einer solchen Konstellation, in der die Entscheidung im Wesentlichen davon abhängt, ob das Gericht den Angaben der einzigen Belastungszeugin folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, die seine Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegung einbezogen hat (st. Rspr.; BGH, Beschlüsse vom 6. August 2020 – 1 StR 178/20 Rn. 8; vom 12. Februar 2020 – 1 StR 612/19 Rn. 4; vom 18. März 2020 – 1 StR 67/20 Rn. 7; vom 5. April 2016 – 1 StR 53/16 Rn. 3 und vom 20. April 2017 – 2 StR 346/16 Rn. 6).

b) Diesen Anforderungen wird das Urteil des Landgerichts – auch eingedenk des nur eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs – nicht gerecht.

aa) Das Landgericht hat bei der hier vorliegenden Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zum eigentlichen Tatgeschehen zwar zutreffend zunächst die Einlassung des Angeklagten (UA S. 21 – 25) umfassend dargestellt, sich dann aber den – aus seiner Sicht – glaubhaften Angaben der Nebenklägerin nach deren inhaltlicher Überprüfung in vollem Umfang angeschlossen (UA S. 25 – 41). In die notwendigerweise besonders sorgfältige Gesamtwürdigung werden vom Landgericht aber nicht alle Umstände einbezogen, die seine Entscheidung hätten beeinflussen können. Insbesondere wird die Einlassung des Angeklagten, dass es zunächst zu einverständlichen sexuellen Handlungen und nach der – sowohl vom Angeklagten als auch von der Nebenklägerin übereinstimmend geschilderten – Zäsur nach dem Oralverkehr nicht mehr zu einem Vaginalverkehr gekommen sei, nicht gewürdigt und nicht mit den Angaben der Nebenklägerin abgeglichen. Dessen hätte es gerade deshalb bedurft, weil die Nebenklägerin im Rahmen ihrer polizeilichen Vernehmung und bei ihren Angaben in der Hauptverhandlung (UA S. 27 – 29) teilweise abweichende Angaben zum eigentlichen Geschehensablauf gemacht hat, welche das Landgericht aber gleichwohl als in ihren wesentlichen Teilen konstant (UA S. 27) bewertet, ohne die entsprechenden Angaben der Nebenklägerin insoweit wiederzugeben. Auch die vom Landgericht festgestellten Facebook-Nachrichten des Angeklagten an die Nebenklägerin nach der Tat, u.a. mit den Formulierungen ʺWieso hast du so am Rad gedreht.ʺ (UA S. 41), werden nicht in die insoweit gebotene Gesamtwürdigung eingestellt.

bb) Hinzu kommt, dass das Landgericht trotz der in mehrfacher Hinsicht unrichtigen Angaben der Nebenklägerin ohne diesbezügliche Gesamtwürdigung von deren Glaubwürdigkeit ausgeht. So hat die Nebenklägerin bei ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung zunächst verschwiegen, dass ihr ʺSchwarmʺ Si. in der Nacht vor der Tat bei ihr übernachtet hatte und dass der Zeuge H. zweimal zu ihr ins Hotel gekommen war. Einmal war dies unmittelbar nach dem Tatgeschehen gegen 1.00 Uhr für die Dauer von einer Stunde der Fall; später hatte der Zeuge bei einem weiteren Besuch im Hotelzimmer auf dem Sofa übernachtet. Zwar hat die Nebenklägerin diese Angaben – nach entsprechenden Vernehmungen der vorgenannten Zeugen – in der Hauptverhandlung bei ihrer zweiten Vernehmung richtiggestellt. Die Begründung der Nebenklägerin, dass die Falschaussage aus falsch verstandener Loyalität zu dem Zeugen H. gemacht wurde (UA S. 40), und die Folgerung des Landgerichts, dass diese Falschaussage keine Zweifel am sonstigen Wahrheitsgehalt ihrer Aussage begründen kann, werden nicht nachvollziehbar begründet. Dieses Verhalten der Nebenklägerin mit zunächst wahrheitswidrigen Angaben hätte – auch im Zusammenhang mit der dargestellten abweichenden Einlassung des Angeklagten zum Tatgeschehen – zumindest einer vertiefenden Auseinandersetzung im Rahmen der Gesamtwürdigung mit der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin bedurft, um den erhöhten Anforderungen an die Beweiswürdigung in dieser besonderen Konstellation zu genügen.

2. Die Sache bedarf deshalb insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Das neue Tatgericht kann dabei im Blick auf das Aussageverhalten der Nebenklägerin erwägen, ob es sich sachverständig beraten lässt.

Im Übrigen wird das neue Tatgericht im Falle einer neuerlichen Verurteilung des Angeklagten bei dessen mitgeteilten Voreintragungen im Bundeszentralregister unter den Ziffern 6 bis 8 für die Frage einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB nochmals gesondert in den Blick zu nehmen haben, wann – insbesondere hinsichtlich der Eintragung unter Ziffer 6, der ein Strafbefehl zu Grunde lag – letztmals entsprechende tatrichterliche Feststellungen getroffen wurden. Nach den bisherigen Ausführungen des Landgerichts ist hier zwischen dem Erlass des Strafbefehls und dem Eintritt der Rechtskraft ein längerer Zeitraum verstrichen. Damit bleibt offen, zu welchem Zeitpunkt es bei dieser Voreintragung zu solchen Feststellungen im Sinne des § 55 Abs. 1 Satz 2 StGB gekommen ist. Eine Klärung ist aber für die Prüfung der Gesamtstrafenfähigkeit notwendig.

Vorinstanz: LG Stuttgart, vom 09.12.2020 - Vorinstanzaktenzeichen 26 Js 66149/19
Fundstellen
StV 2022, 217