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BGH - Entscheidung vom 24.09.2020

AK 31/20

Normen:
StPO § 121 Abs. 1
StPO § 122 Abs. 4 S. 2

BGH, Beschluss vom 24.09.2020 - Aktenzeichen AK 31/20

DRsp Nr. 2020/15003

Verdacht der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer ausländische terroristische Vereinigung; Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über neun Monate hinaus; Beschleunigungsgebot in Haftsachen

Tenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.

Normenkette:

StPO § 121 Abs. 1 ; StPO § 122 Abs. 4 S. 2;

Gründe

I.

Die Beschuldigte ist am 15. November 2019 vorläufig festgenommen worden und befindet sich seit dem 16. November 2019 in Untersuchungshaft aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom selben Tag ( 2 BGs 917/19). Gegenstand des Haftbefehls sind folgende Vorwürfe:

Die Beschuldigte habe sich von Anfang 2015 bis Anfang 2019 in Syrien und im Irak durch drei rechtlich selbständige Handlungen als Mitglied an der Gruppierung "Islamischer Staat" (IS) und damit an einer außereuropäischen terroristischen Vereinigung beteiligt, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB ), Totschlag (§ 212 StGB ), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 VStGB ) oder Kriegsverbrechen (§§ 8 , 9 , 10 , 11 oder § 12 VStGB ) zu begehen; in einem dieser Fälle habe die Beschuldigte tateinheitlich die tatsächliche Gewalt über eine Kriegswaffe ausgeübt, ohne dass der Erwerb der tatsächlichen Gewalt auf einer Genehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz beruht habe; in einem weiteren dieser Fälle habe sie sich durch dieselbe Handlung im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen Konflikt in erheblichem Umfang völkerrechtswidrig Sachen der gegnerischen Partei angeeignet, die der Gewalt der eigenen Partei unterlegen hätten (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 , §§ 52 , 53 StGB , § 9 Abs. 1 VStGB , § 22a Abs. 1 Nr. 6 Buchst. a KrWaffKG in Verbindung mit Teil B Nr. 29 Buchst. c der Anlage zu § 1 Abs. 1 KrWaffKG).

Der Generalbundesanwalt, der zunächst das Ermittlungsverfahren gegen die Beschuldigte geführt hatte, hat es am 26. November 2019 an die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt abgegeben. Der Senat hat mit Beschluss vom 9. Juni 2020 ( AK 12/20, juris) die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus angeordnet. Am 18. September 2020 hat die Generalsstaatsanwaltschaft die Anklageschrift wegen der haftbefehlsgegenständlichen Tatvorwürfe fertiggestellt.

II.

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über neun Monate hinaus liegen vor.

1. Wegen der Einzelheiten der Tatvorwürfe, der den dringenden Verdacht begründenden Umstände sowie der Haftgründe und der Versagung einer Haftverschonung verweist der Senat auf seine Entscheidung zur besonderen Haftprüfung vom 9. Juni 2020.

2. Die besondere Schwierigkeit und der besondere Umfang des Verfahrens haben ein Urteil bislang noch nicht zugelassen und rechtfertigen weiterhin die Fortdauer der Untersuchungshaft (§ 121 Abs. 1 , § 122 Abs. 4 Satz 2 StPO ). Das Verfahren ist auch nach der benannten Haftfortdauerentscheidung des Senats noch hinreichend gefördert worden:

a) Das - im Freiheitsgrundrecht des Betroffenen (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ) sowie im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG ) verankerte und in § 121 StPO einfachgesetzlich ausgeprägte (s. auch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 MRK ) - Beschleunigungsgebot in Haftsachen ist eine besondere Ausformung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft bedeutsam ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Februar 2005 - 2 BvR 109/05, NStZ 2005, 456 Rn. 1). Er fordert, dass die Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe steht, und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft. Daraus folgt zum einen, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu.

Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und Sicherstellung der etwaigen späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft deshalb nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen verursacht ist. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen. Bei der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich. Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung (st. Rspr.; vgl. zu alledem etwa BGH, Beschlüsse vom 21. April 2016 - StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217 f.; vom 3. Mai 2019 - AK 15/19, StB 9/19, NJW 2019, 2249 Rn. 29 f., jeweils m. Nachw. aus der Rspr. des BVerfG).

b) Gemessen daran liegt ein die Aufhebung des Haftbefehls bedingender Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht vor. Zwar ist das Ermittlungsverfahren bislang nicht in jeder Hinsicht zügig geführt worden; zu vermeidbaren Verzögerungen, die als im Hinblick auf die Haftfrage erheblich zu beurteilen wären, ist es jedoch nicht gekommen.

aa) Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen sind im Wesentlichen Mitte August 2020 abgeschlossen gewesen. Bis zu diesem Zeitpunkt hat das Hessische Landeskriminalamt auf Veranlassung der Generalstaatsanwaltschaft eine Vielzahl von Untersuchungsmaßnahmen vorgenommen. Im Grundsatz ist es nicht zu beanstanden, dass die Generalstaatsanwaltschaft diese Ermittlungen als sachdienlich und erfolgversprechend beurteilt hat.

(1) Das Landeskriminalamt hat am 30. Juni 2020 die Zeugin A. vernommen, nachdem es im Zeitraum zwischen der am 5. Mai 2020 verfügten Vorlage der Akten zur Sechsmonatshaftprüfung und der Haftfortdauerentscheidung des Senats vom 9. Juni 2020 die Vernehmung der vier Zeuginnen R. , Ö. , B. und Al. durchgeführt hatte. Zahlreiche weitere Zeugen haben trotz der Bemühungen der Ermittlungsbehörden - insbesondere im Hinblick auf ein ihnen zustehendes Auskunftsverweigerungsrecht (§ 55 StPO ) - nicht einvernommen werden können. Hierauf bezogene Sachstandsanfragen und Vernehmungsersuchen an die Polizei sowie deren entsprechende Antwortmitteilungen datieren bis zum 30. Juli 2020.

(2) Das Landeskriminalamt hat versucht, die Daten auf dem Speicher des Mobiltelefons zu sichern, das die Beschuldigte auf dem Flug von Istanbul (Türkei) nach Frankfurt am Main nach Aktenlage gezielt zerstört hatte, um es dem Zugriff der Ermittlungsbehörden zu entziehen. Das Landeskriminalamt hat der Generalstaatsanwaltschaft mit E-Mails vom 29. Juni und vom 9. Juli 2020 mitgeteilt, die Auswertung dieses Mobiltelefons - für die zuvor im Hinblick auf den zu erwartenden Ertrag ganz erhebliche Anstrengungen unternommen worden waren (s. BGH, Beschluss vom 9. Juni 2020 - AK 12/20, juris Rn. 41) - werde sich aufgrund der Corona-Krise verzögern. Allerdings hat es zugleich mitgeteilt, aufgrund des hohen Zerstörungsgrades rechne die dortige digitale Forensik voraussichtlich mit einem Misserfolg. Mit Untersuchungsbericht vom 6. August 2020 hat es diese Prognose bestätigt, indem es festgestellt hat, dass eine forensische Sicherung der gespeicherten Daten technisch nicht möglich sei.

(3) Das Landeskriminalamt hat die Mobiltelefone der Zeugin E. und des Zeugen T. ausgewertet, wobei es zunächst bis zum 17. Juni 2020 zahlreiche relevante Bild-, Audio- und Videodateien sowie Chat-Nachrichten in deutscher Sprache festgestellt und gesichert hat. Hierzu sind umfangreiche Vermerke erstellt worden. Am 10. August 2020 hat das Landeskriminalamt auch den von der Generalstaatsanwaltschaft angeforderten Auswertungsvermerk zu auf dem Mobiltelefon der Zeugin E. gespeicherten türkischsprachigen Chat-Nachrichten vorgelegt, die ins Deutsche hatten übersetzt werden müssen.

(4) Das Landeskriminalamt hat am 7. August 2020 den vorläufigen Abschlussbericht fertiggestellt. Ein dort tätiger Islamwissenschaftler hat am 12. August 2020 einen Vermerk zu den Reisebewegungen der Beschuldigten in Syrien und im Irak erstellt, der auf den in diesem Bericht wiedergegebenen Ermittlungsergebnissen beruht, insbesondere auch auf den aus der Auswertung des Mobiltelefons der Zeugin E. gewonnenen Erkenntnissen.

bb) Das Ermittlungsverfahren ist mithin bis Mitte August 2020 in angemessener Zeit stets mit dem Ziel der weiteren Sachaufklärung betrieben worden. Die Ermittlungsbehörden haben dabei erwarten dürfen, dass ihre Ermittlungshandlungen für den Tatnachweis relevante Erkenntnisse erbringen. Die Untersuchungsmaßnahmen haben erkennbar dazu gedient, die Beweisgrundlage für die Tatvorwürfe zu festigen und zu verbreitern. In diesem Sinne sind die zuletzt gewonnenen Erkenntnisse für das in der Anklageschrift vom 18. September 2020 dargestellte wesentliche Ergebnis der Ermittlungen bedeutsam.

cc) Bei der Fertigung der Anklageschrift ist es hingegen zu einer vermeidbaren Verfahrensverzögerung gekommen. Die Anklageschrift ist erst sechs Wochen nach der Vorlage des vorläufigen Abschlussberichts des Landeskriminalamts und fünf Wochen nach der Nachreichung dessen islamwissenschaftlichen Vermerks fertiggestellt worden. Dies erweist sich hier deshalb als eine in zeitlicher Hinsicht nicht mehr angemessene Sachbehandlung, weil die Generalstaatsanwaltschaft ohne Weiteres vor dem kriminalpolizeilichen vorläufigen Abschluss der Ermittlungen mit dem Verfassen der Anklageschrift hätte beginnen können. Denn schon zuvor hat sich die den dringenden Tatverdacht begründende Beweislage als vergleichsweise dicht dargestellt. In diesem Sinne hat der Senat in seiner Haftfortdauerentscheidung vom 9. Juni 2020 ( AK 12/20, juris Rn. 43) den Hinweis gegeben, er gehe davon aus, dass die Generalstaatsanwaltschaft zügig Anklage erheben könne, auch wenn die Auswertung der Mobiltelefone der Zeugin E. und des Zeugen T. nicht in absehbarer Zeit vorliegen sollte. Hinzu kommt, dass die Generalstaatsanwaltschaft selbst in ihrem Vorlagebericht vom 24. August 2020 - mithin mehr als vier Wochen vor der nunmehr unmittelbar bevorstehenden Anklageerhebung - mitgeteilt hat, die Fertigung der Anklageschrift sei bereits weit fortgeschritten.

Indes wäre die Generalstaatsanwaltschaft nicht verpflichtet gewesen, um den vorläufigen Abschlussbericht des Landeskriminalamts zu ersuchen und mit der Fertigung der Anklageschrift zu beginnen, bevor Anfang Juli 2020 feststand, dass die Daten nicht gesichert werden können, die auf dem von der Beschuldigten zerstörten Mobiltelefon gespeichert sind. Denn die Generalstaatsanwaltschaft hat davon ausgehen dürfen, dass die Ergebnisse einer - von der Beschuldigten letztlich vereitelten - Auswertung dieses Mobiltelefons die Verdachtslage nochmals nicht unwesentlich hätten verändern können. Im Grundsatz gilt, dass sich die Anklagebehörde auf der Grundlage nur vorläufiger Beweisergebnisse auf eine Anklageerhebung nicht einlassen muss (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Februar 2018 - AK 4/18, StB 29/17, juris Rn. 62). Dementsprechend hat die Haftfortdauerentscheidung des Senats vom 9. Juni 2020 ( AK 12/20, juris Rn. 41) die Aufrechterhaltung des Untersuchungshaftvollzugs über sechs Monate hinaus insbesondere damit begründet, dass sich die noch ausstehende Auswertung dieses Mobiltelefons als sehr komplex gestaltet.

dd) Da auch bei in jeder Hinsicht zügiger Verfahrensförderung unter Berücksichtigung einer angemessenen Bearbeitungsdauer sowohl beim Landeskriminalamt als auch bei der Generalstaatsanwaltschaft mit der Fertigung der Anklageschrift nicht vor der zweiten Augusthälfte 2020 zu rechnen gewesen wäre, erweist sich die Verfahrensverzögerung - namentlich unter Berücksichtigung der voraussichtlichen Gesamtdauer des Verfahrens und des im Fall der Verurteilung zu erwartenden Maßes der Jugendstrafe - nicht als derart erheblich, dass der Untersuchungshaftvollzug nicht mehr über neun Monate hinaus aufrechtzuerhalten wäre.

In Anbetracht des bisherigen Zeitablaufs wird sich das Oberlandesgericht allerdings um eine besonders zügige Verfahrensführung zu bemühen haben.

3. Der Vollzug der Untersuchungshaft steht nach alledem weiterhin nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO ).