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BGH - Entscheidung vom 20.11.2014

V ZB 20/14

Normen:
RL 2008/115/EG Art. 16 Abs. 1 S. 1
AufenthG § 62a Abs. 1

BGH, Beschluss vom 20.11.2014 - Aktenzeichen V ZB 20/14

DRsp Nr. 2015/151

Notwendigkeit der Durchführung der Abschiebehaft in einer JVA ohne Strafgefangene

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Lindau (Bodensee) vom 10. Dezember 2013 und der Beschluss des Landgerichts Kempten (Allgäu) - 4. Zivilkammer - vom 22. Januar 2014 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der Bundesrepublik Deutschland auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Normenkette:

RL 2008/115/EG Art. 16 Abs. 1 S. 1; AufenthG § 62a Abs. 1 ;

Gründe

I.

Der Betroffene reiste am 9. Dezember 2013 ohne gültige Ausweispapiere nach Deutschland ein und wurde von den Beamten der beteiligten Behörde festgenommen. Eine Recherche im EURODAC-Register ergab, dass der Betroffene in Österreich und in Ungarn Asyl beantragt hatte.

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht gegen den Betroffenen am 10. Dezember 2013 Haft zur Sicherung der Zurückschiebung für die Dauer von höchstens acht Wochen angeordnet, die in der Justizvollzugsanstalt Nürnberg vollzogen worden ist. Die Beschwerde des Betroffenen ist erfolglos geblieben. Dagegen wendet er sich mit der Rechtsbeschwerde, nach seiner Rücküberstellung nach Ungarn am 23. Januar 2014 mit dem Antrag, die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung und ihrer Aufrechterhaltung durch das Beschwerdegericht festzustellen. Die beteiligte Behörde beantragt, das Rechtsmittel als unzulässig zu verwerfen.

II.

Das Beschwerdegericht meint, die formalen Voraussetzungen der Haft hätten vorgelegen. Gegen den Vollzug der Haft in der Justizvollzugsanstalt Nürnberg sei nichts einzuwenden.

III.

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat Erfolg.

1. Sie ist gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 , Satz 2 FamFG mit einem Antrag nach § 62 FamFG statthaft (Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150 Rn. 9), form- und fristgerecht erhoben (§ 71 FamFG ) und auch sonst zulässig. Der Schreibfehler bei der Angabe des Namens des Betroffenen und die fehlende Angabe seines jetzigen Aufenthalts ändern daran entgegen der Ansicht der beteiligten Behörde nichts (vgl. näher Senat, Beschluss vom 20. November 2014 - V ZB 54/14, Rn. 5, zur Veröffentlichung bestimmt).

2. Das Rechtsmittel ist im Ergebnis auch begründet. Die Haftanordnung des Amtsgerichts hat den Betroffenen jedenfalls deshalb in seinen Rechten verletzt, weil die Haft in der Justizvollzugsanstalt Nürnberg und damit unter Verletzung der im Lichte von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115/EG auszulegenden Vorschrift des § 62a Abs. 1 AufenthG vollzogen worden ist.

a) Die richtlinienkonforme Unterbringung hat das Rechtsbeschwerdegericht unabhängig von einer Rüge des Betroffenen zu prüfen, weil dies eine materielle Voraussetzung für die Anordnung von Sicherungshaft betrifft und weil die gebotene möglichst wirksame Anwendung des Rechts der Union (effet utile) anders nicht zu erreichen ist. Die Anwendung der genannten Vorschrift steht auch nicht zur Disposition des Betroffenen oder anderer Beteiligter (EuGH, Urteil vom 17. Juli 2014 - Rs. C-474/13 - Pham, ECLI:EU:C:2014:2096 Rn. 22 f.; Senat, Beschluss vom 25. September 2014 - V ZB 144/12, [...] Rn. 6).

b) Im Hinblick auf das Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Rechts der Union (effet utile) muss der Haftrichter die Anordnung von Sicherungshaft ablehnen, wenn absehbar ist, dass der Betroffene entgegen den Vorgaben des Unionsrechts untergebracht werden wird (Senat, Beschlüsse vom 11. Juli 2013 - V ZB 40/11, [...] Rn. 20, insoweit nicht in NVwZ 2014, 166 und vom 25. Juli 2014 - V ZB 137/14, FGPrax 2014, 230 Rn. 5). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

aa) Nach dem für die Haft des Betroffenen maßgeblichen Erlass des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz vom 18. November 2013 (F 5 - 4431 E - VIIa - 4599/13) war Haft zur Sicherung von Abschiebung und Zurückschiebung im Freistaat Bayern ab dem 25. November 2013 in der Justizvollzugsanstalt Mühldorf am Inn zu vollziehen, in der keine Strafgefangenen mehr untergebracht sind. Allerdings waren nach diesem Erlass Betroffene bei Erschöpfung der Kapazität dieser Einrichtung nicht in einer anderen speziellen Einrichtung für Abschiebungshaft unterzubringen, sondern in der Justizvollzugsanstalt Nürnberg, in der auch Strafhaft vollzogen wird. Diese Art der Unterbringung steht mit den Vorgaben von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115/EG nicht in Einklang. Abschiebungs- oder Zurückschiebungshaft darf nicht schon dann in einer gewöhnlichen Justizvollanstalt vollzogen werden, wenn die Kapazitäten in dem betreffenden Bundesland erschöpft sind, sondern erst, wenn auch keine Möglichkeit besteht, den Betroffenen in einer speziellen Abschiebungshafteinrichtung eines anderen Bundeslandes unterzubringen (EuGH, Urteil vom 17. Juli 2014 - Rs. C-473/13 und C-514/13 - Bero und Bouzalmate, ECLI:EU:C:2014:2095 Rn. 30 f.). § 62a Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist in diesem Sinne richtlinienkonform einschränkend auszulegen (Senat, Beschluss vom 25. Juli 2014 - V ZB 137/14, FGPrax 2014, 230 Rn. 8).

bb) Die rechtswidrige Unterbringung des Betroffenen war hier schon deshalb absehbar, weil sich aus dem Haftantrag der beteiligten Behörde ergab, dass die Haft in der Justizvollzugsanstalt Nürnberg vollzogen werden sollte.

3. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 74 Abs. 7 FamFG ).

Vorinstanz: AG Lindau (Bodensee), vom 10.12.2013 - Vorinstanzaktenzeichen XIV 48/13
Vorinstanz: LG Kempten (Allgäu), vom 22.01.2014 - Vorinstanzaktenzeichen 42 T 63/14