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BVerwG - Entscheidung vom 29.06.2006

2 WD 26.05

Normen:
SG § 10 Abs. 3 § 12 S. 2 § 17 Abs. 2 S. 1

Fundstellen:
DVBl 2007, 132
ZBR 2007, 106

BVerwG, Urteil vom 29.06.2006 - Aktenzeichen 2 WD 26.05

DRsp Nr. 2007/11952

Soldatendisziplinarrecht - Ehrverletzung; Meinungsäußerung; objektiver Bedeutungsgehalt; Kontext der Erklärung

»1. Eine negative Äußerung über die Persönlichkeit ist nur dann eine Beleidigung, wenn der andere damit gerade in seiner Ehre, d.h. seinem sittlichen (moralischen), personalen oder sozialen Geltungswert getroffen wird. 2. Enthält die Äußerung einen ehrkränkenden Inhalt, sodass ein Konflikt zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht besteht, muss eine Abwägung unter Berücksichtigung der Schwere der Beeinträchtigung vorgenommen werden, die jedem der beiden Rechtsgüter droht. 3. Die Ehrenrührigkeit einer Äußerung muss eindeutig feststehen. Das ist dann nicht der Fall, wenn ein aus dem Gesamtzusammenhang herausgenommenes Wort isoliert betrachtet wird, und es je nach dem Kontext verschiedene Bedeutungsvarianten desselben Wortes geben kann.«

Normenkette:

SG § 10 Abs. 3 § 12 S. 2 § 17 Abs. 2 S. 1 ;

Tatbestand:

Die Soldatin, Stabsapotheker, war u.a. angeschuldigt, gegenüber Untergebenen beleidigende Worte geäußert zu haben. Sie hat die Vorwürfe nachdrücklich bestritten. Das Truppendienstgericht hat gegen die Soldatin wegen eines Dienstvergehens eine Kürzung der Dienstbezüge um 1/15 für die Dauer von zwölf Monaten verhängt. Auf die Berufung der Soldatin hat der Senat das Urteil des Truppendienstgerichts aufgehoben und die Soldatin freigesprochen.

Entscheidungsgründe:

Zu Anschuldigungspunkt 1:

Das - (hinsichtlich der Verwendung des Wortes "Ratte") beweisbare - Verhalten der Soldatin stellt keine Dienstpflichtverletzung dar. Für die hier in Betracht kommenden § 10 Abs. 3 , § 12 Satz 2 und § 17 Abs. 2 Satz 1 SG fehlt es bereits an einer feststellbaren tatbestandlichen Verwirklichung.

Ein Verstoß gegen die Fürsorgepflicht (§ 10 Abs. 3 SG ) in der Ausprägung einer Verletzung des Rechts auf Ehre der Zeugin H. scheidet aus.

Ein Angriff auf die Ehre, vor dem § 185 StGB schützen soll, liegt vor, wenn dem Betroffenen die eigene Missachtung oder Nichtachtung zum Ausdruck gebracht wird. Eine Kundgabe eigener Miss- oder Nichtachtung im Sinne des § 185 StGB ist auf dreierlei Weise möglich: (1) durch Äußerung eines beleidigenden Werturteils gegenüber dem Betroffenen selbst, (2) durch Äußerung eines beleidigenden Werturteils über diesen gegenüber Dritten sowie (3) durch ehrenrührige Tatsachenbehauptungen gegenüber dem Betroffenen (vgl. dazu u.a. Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB , 27. Aufl. 2006, § 185 Rn. 1 m.w.N.).

Dabei ist davon auszugehen, dass die Ehre, vor deren Verletzung die Strafnorm des § 185 StGB schützen soll, lediglich ein Aspekt der Personenwürde, jedoch nicht mit ihr und dem Bereich identisch ist, den das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst (vgl. BGH, Urteil vom 15. März 1989 - 2 StR 662/88 - BGHSt 36, 145 ff.) Nicht jede Verletzung von Persönlichkeitsrechten stellt bereits eine Ehrverletzung im Sinne des § 185 StGB dar. Die Vorschrift schützt nur einen speziellen Aspekt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, nicht aber dieses selbst. Deshalb ist eine negative Äußerung über die Persönlichkeit nur dann eine Beleidigung, wenn der andere damit gerade in seiner Ehre, d.h. seinem sittlichen (moralischen), personalen oder sozialen Geltungswert getroffen wird (vgl. Urteil vom 4. Mai 2006 - BVerwG 2 WD 9.05 -; OLG Oldenburg, Urteil vom 18. Januar 1963 - 1 Ss 323/62 - NJW 1963, 920; BayObLG, Beschluss vom 25. April 1980 - RReg 3 St 140/78 - NJW 1980, 1969 ; Lenckner, aaO., Rn. 2 m.w.N.). Der sittliche (moralische) Geltungswert wird einer Person abgesprochen, wenn ihr ein unsittliches oder rechtwidriges Verhalten vorgeworfen oder angesonnen wird oder wenn ihr sonst die moralische Integrität generell oder in einer bestimmten Richtung abgesprochen wird (z.B. "Dieb", "Verbrecher", "Charakterschwein"). Der personale Geltungswert einer Person wird in Zweifel gezogen oder negiert, wenn das Opfer mit dem Vorwurf elementarer menschlicher Unzulänglichkeiten oder Schwächen (z.B. "Schwachsinniger", "Krüppel") konfrontiert wird, um es als menschliches Wesen abzuwerten und damit zu missachten. Eine den sozialen Geltungswert des Opfers betreffende Beleidigung stellt es dar, wenn diesem ganz oder teilweise die Fähigkeit aberkannt wird, seinen Beruf oder sonstige von ihm übernommene soziale Aufgaben oder Rollen wahrzunehmen (z.B. Bezeichnung eines Arztes als "Pfuscher"), nicht dagegen, wenn ihm lediglich besondere Verdienste und Leistungen abgesprochen werden (vgl. dazu u.a. Lenckner, aaO., Rn. 2 m.w.N.). Nicht ausreichend für eine Erfüllung des Tatbestandes des § 185 StGB sind bloße Unhöflichkeiten und Taktlosigkeiten, sofern sie nicht wegen ihrer besonders groben Form als Ausdruck der Missachtung des sittlichen, personalen oder sozialen Geltungsanspruchs erscheinen. Belästigungen, unpassende Scherze, Foppereien u.ä. stellen eine Beleidigung nur beim Hinzukommen besonderer Umstände dar, welche die Ansicht von der (sittlichen, personalen oder sozialen) Minderwertigkeit des Betroffenen ausdrücken. Allgemein gilt, dass es nicht Aufgabe des § 185 StGB ist, den Einzelnen vor bloßen Unhöflichkeiten, Ungehörigkeiten oder Taktlosigkeiten zu schützen. Vielmehr ist für das Vorliegen einer Beleidigung stets eine eindeutige Abwertung des Betroffenen erforderlich, was voraussetzt, dass diese jedenfalls ein gewisses Gewicht hat (vgl. u.a. Lenckner, aaO., Rn. 2 m.w.N.).

Bei der Auslegung und Anwendung der in Rede stehenden Tatbestandsmerkmale ist stets die grundrechtliche Schutzwirkung des Art. 5 Abs. 1 GG zu beachten. Dies gilt auch bei Äußerungen von Soldaten. Nach § 6 Satz 1 SG hat ein Soldat die gleichen staatsbürgerlichen Rechte wie jeder andere Staatsbürger. Allerdings können gemäß § 6 Satz 2 SG seine Rechte im Rahmen der Erfordernisse des militärischen Dienstes durch seine gesetzlich begründeten Pflichten beschränkt werden, was durch die Spezialermächtigung des Art. 17a Abs. 1 GG für das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit in verfassungskonformer Weise ermöglicht wird, wonach Gesetze über Wehrdienst u.a. bestimmen können, dass für die Angehörigen der Streitkräfte während der Zeit des Wehrdienstes das Grundrecht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 1. Halbs. GG ), eingeschränkt wird (vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 2. März 1977 - 2 BvR 1319/76 -, BVerfGE 44, 197 = NJW 1977, 2205 ). Aus der Regelung des § 6 SG ergibt sich damit im vorliegenden Zusammenhang jedenfalls, dass zunächst in einem ersten Schritt - wie bei Nichtsoldaten - der Einfluss der Gewährleistung der grundrechtlichen Meinungsäußerungsfreiheit auf die Auslegung und Anwendung des § 185 StGB zu prüfen ist. Anschließend ist in einem zweiten Schritt zu untersuchen, ob und in welchem Umfange gemäß § 6 Satz 2 SG das Meinungsäußerungsgrundrecht des Soldaten im Rahmen der Erfordernisse des militärischen Dienstes durch gesetzlich begründete Pflichten (etwa durch § 12 Satz 2 SG ) - weitergehend - beschränkt wird.

Mithin muss zunächst der objektive Bedeutungsgehalt der Äußerung ermittelt werden. Aus der grundrechtlichen Gewährleistung des Art. 5 Abs. 1 GG folgt, dass die Gerichte ihr keine Bedeutung beimessen dürfen, die sie objektiv nicht hat. Im Falle der Mehrdeutigkeit dürfen sie nicht von der zur Verurteilung führenden Deutung ausgehen, ehe sie andere Deutungsmöglichkeiten mit tragfähigen Gründen ausgeschlossen haben (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 7. Dezember 1976 - 1 BvR 460/72 - BVerfGE 43, 130 [136 f.], vom 19. April 1990 - 1 BvR 40/86 u.a. - BVerfGE 83, 43 [52], vom 10. Oktober 1995 - 1 BvR 1476/91 u.a. - BVerfGE 93, 266 , [295] und vom 1. August 2001 - 1 BvR 1906/97 - NJW 2001, 3616 = NStZ 2001, 640 ).

Enthält die Äußerung einen ehrkränkenden Inhalt, sodass ein Konflikt zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht besteht, muss eine Abwägung unter Berücksichtigung der Schwere der Beeinträchtigung vorgenommen werden, die jedem der beiden Rechtsgüter droht. Handelt es sich bei der Äußerung allerdings um eine so genannte Formalbeleidigung oder um Schmähkritik, erübrigt sich die Abwägung im Konkreten. Hiervon kann aber nicht bereits dann ausgegangen werden, wenn eine Äußerung überzogen oder ausfällig ist. Schmähkritik wird sie vielmehr erst dann, wenn in ihr nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern jenseits auch polemischer überspitzter Kritik die Diffamierung der Person im Vordergrund steht (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 26. Juni 1990 - 1 BvR 1165/89 - BVerfGE 82, 272 [283 f.] und vom 1. August 2001 aaO.). Bei einer überzogenen oder ausfälligen Äußerung muss mithin, soll eine Schmähkritik vorliegen, nach den konkreten Begleitumständen eine das sachliche Anliegen der Äußerung völlig in den Hintergrund drängende persönliche Kränkung erfolgt sein (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 26. Juni 1990 aaO. und vom 10. Oktober 1995 aaO. [294]). Eine so genannte Formalbeleidigung liegt dann vor, wenn das Vorhandensein einer Beleidigung aus der Form der Äußerung oder Verbreitung und aus den Umständen, unter welchen sie geschah, hervorgeht. Dies ist namentlich bei der Verwendung von groben oder vulgären Schimpfworten der Fall. Lässt sich die in Rede stehende Äußerung weder als Angriff auf die Menschenwürde noch als Formalbeleidigung oder Schmähung einstufen, so kommt es für die Abwägung auf die Schwere der Beeinträchtigung der betroffenen Rechtsgüter an. Dabei spielt es - anders als im Fall von Tatsachenbehauptungen - grundsätzlich keine Rolle, ob die Kritik berechtigt oder das Werturteil "richtig" ist. Dagegen fällt ins Gewicht, ob von dem Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit im Rahmen einer privaten Auseinandersetzung zur Verfolgung von eigenen Interessen oder im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage Gebrauch gemacht wird. Handelt es sich bei der umstrittenen Äußerung um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung, so spricht nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Vermutung zugunsten der Freiheit der Rede. Abweichungen davon bedürfen einer Begründung, die der konstitutiven Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit für die Demokratie, in der die Vermutungsregelung wurzelt, Rechnung trägt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 1995 aaO. [294 f.]).

Zunächst ist mithin zu prüfen, welchen objektiven Bedeutungsgehalt der von der Soldatin verwendete Ausdruck "Ratte" hatte. Maßgebend ist dabei nicht, wie der Empfänger, sondern wie ein verständiger Dritter die Äußerung verstehen musste (BGH, Urteil vom 18. Februar 1964 - 1 StR 572/63 - BGHSt 19, 237; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 7.Juni 1989 - 5 Ss 250/89 - 101/89 I - NJW 1989, 3030; Tröndle/Fischer, StGB , 53. Aufl. 2006, § 185 Rn. 8 m.w.N.). Dabei sind die gesamten Begleitumstände, in denen die Äußerung gemacht wurde, zu berücksichtigen, z.B. die Anschauung und Gebräuche der Beteiligten sowie die sprachliche und gesellschaftliche Ebene, auf der die Äußerung fiel (BayObLG, Urteil vom 7. März 1983 - RReg 2 St 140/82 - NJW 1983, 2040; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10. August 1989 - 2 Ss 281/89 - 49/89 III - JR 1990, 345; Tröndle/Fischer, StGB , aaO., § 185 Rn. 8 m.w.N.).

Für die Bejahung einer durch den Gebrauch des Wortes "Ratte" erfolgten Ehrverletzung hätte es der Feststellbarkeit des zugrunde liegenden Bedeutungszusammenhangs bedurft. Der Inhalt einer Meinungsäußerung ist nämlich unter Heranziehung des gesamten Kontextes der Erklärung, in dem sie erfolgt, zu ermitteln (Urteil vom 17. März 2004 - BVerwG 2 WD 17.03 - NZWehrr 2005, 38 = ZBR 2005, 133 [insoweit nicht veröffentlicht] m.w.N.; ähnlich Tröndle/Fischer, aaO. m.w.N.). Ist das nicht möglich, dürfen daraus keine Nachteile für die angeschuldigte Soldatin erwachsen. Denn die Ehrenrührigkeit einer Äußerung muss eindeutig feststehen. Dies ist dann nicht der Fall, wenn ein aus dem Gesamtzusammenhang herausgenommenes Wort isoliert betrachtet wird, da es je nach Kontext verschiedene Bedeutungsvarianten desselben Wortes geben kann.

Im vorliegenden Fall steht lediglich fest, dass es bei der Auseinandersetzung zwischen der Soldatin und der Zeugin H. um den von der Soldatin nicht veranlassten Rücktransport eines Gerätes ging und dass die Soldatin darüber ihre Verärgerung kundtat. Weiter ist erwiesen, dass dabei außer dem festgestellten Wort "Ratte" weitere Worte gewechselt wurden; um welche Worte es sich hierbei im Einzelnen handelte, hatte jedoch nicht geklärt werden können. Eine isolierte rechtliche Würdigung des Ausdrucks "Ratte" zulasten der Soldatin in Unkenntnis des engeren Bedeutungszusammenhanges ist unter diesen Umständen nicht zulässig. Denn es kann nicht mit der erforderlichen Gewissheit ausgeschlossen werden, dass dieser Ausdruck in seiner Einbindung in den Gesamtzusammenhang auch mit einem anderen Erklärungsinhalt als einem beleidigenden oder in einer nicht angeschuldigten (vgl. § 107 Abs. 1 WDO) Form, beispielsweise im Rahmen eines Zitats oder Vergleichs (z.B.: "Sie verhalten sich ja wie eine Ratte."), verwendet wurde.

Die für eine Ehrverletzung erforderliche genaue Feststellung des objektiven Sinngehalts der Äußerung unter Berücksichtigung der gesamten Begleitumstände war aus den vorgenannten Gründen nicht möglich, so dass eine Verletzung der Ehre sowohl nach § 10 Abs. 3 als auch nach § 12 Satz 2 SG nicht festgestellt werden konnte. Mangels Feststellbarkeit des objektiven Erklärungsinhalts der Äußerung kann der Soldatin auch kein Verstoß gegen die Verpflichtung aus § 10 Abs. 3 SG , sich bei allen Handlungen vom Wohlwollen dem Untergebenen gegenüber leiten zu lassen und stets bemüht zu sein, diesen vor Nachteilen und Schäden zu bewahren (stRspr, u.a. Urteil vom 16. März 2004 - BVerwG 2 WD 3.04 - BVerwGE 120, 193 = Buchholz 235.01 § 93 WDO 2002 Nr. 1 = NZWehrr 2004, 213), nachgewiesen werden.

Ebenso wenig lässt sich damit eine Verletzung der innerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SG ) begründen.

...

Zu Anschuldigungspunkt 2:

...

Das - bewiesene - Verhalten der Soldatin stellte als solches noch keine Dienstpflichtverletzung dar. Ebenso wie bei Anschuldigungspunkt 1 fehlt es für den Nachweis eines Verstoßes gegen die in Betracht kommenden § 10 Abs. 3 , § 12 Satz 2 und § 17 Abs. 2 Satz 1 SG auch hier an einer feststellbaren tatbestandlichen Verwirklichung.

Eine Ehrverletzung sowie eine sonstige zum Nachteil eines Untergebenen führende oder das eigene dienstliche Ansehen beeinträchtigende Verhaltensweise der Soldatin konnten nicht mit der erforderlichen Gewissheit festgestellt werden. Eine exakte Bestimmung des Bedeutungsgehalts des Wortes "Ratte" war nicht möglich, da - wie bei Anschuldigungspunkt 1 - der Kontext der Äußerung nicht im erforderlichen Umfang festgestellt werden konnte. ...

Fest steht, dass die Verwendung des Wortes "Ratte" gegenüber dem Zeugen M. nach dessen Weigerung erfolgte, dem Befehl der Soldatin unverzüglich nachzukommen ein Gerät zur Bundeswehrapotheke in N. zurückzubringen. Des Weiteren steht fest, dass die Soldatin emotional erregt und im Besonderen über dessen Verhalten verärgert war. Dabei ist in die Bewertung des Äußerungskontextes mit einzubeziehen, dass sich die Soldatin in der Berufungshauptverhandlung in Abwesenheit des Zeugen M. "entschuldigte". Diese Umstände scheinen zwar eine "Unrechtseinsicht" und damit einen beleidigenden Inhalt des von ihr verwendeten Ausdrucks "Ratte" nahe zu legen. Ein verständiger Dritter, auf dessen Sicht es bei der Beurteilung einer Äußerung maßgebend ankommt (vgl. Tröndle/Fischer, aaO., m.w.N.), könnte das - festgestellte - Geschehen möglicherweise so deuten, dass die Soldatin ihren Unmut über das Nichtbefolgen des von ihr gegebenen Befehls durch Mitteilung ihrer Geringschätzung der Person des Zeugen äußern wollte. Die Tierbezeichnung "Ratte" wäre dann mit dem - im allgemeinen Sprachgebrauch - vorherrschenden abwertenden Inhalt verwendet worden.

Dass dies hier seitens der Soldatin so gemeint war, ist zwar wahrscheinlich, aber nicht zweifelsfrei. Dies reicht für die Feststellung einer disziplinarrechtlich relevanten Pflichtverletzung nicht aus. Weil der unmittelbare Wortzusammenhang, in dem der Ausdruck "Ratte" gefallen ist, nicht zweifelsfrei geklärt werden konnte, kann im vorliegenden Fall jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass hier ausnahmsweise eine andere Bedeutungsvariante Äußerungsinhalt war. Wegen der oben geschilderten Umstände scheint zwar eine solche mit positivem Inhalt, wie z.B. in der Wortverbindung "Leseratte" oder als Hinweis auf die Intelligenz dieser Nagetiere, hier unwahrscheinlich zu sein; jedoch kommen auch - z.B. ironische oder allegorische - Bedeutungsvarianten mit eher negativem, aber nicht ehrverletzendem Inhalt in Betracht. Dagegen spricht auch nicht die (erst) im Plädoyer ausgesprochene "Entschuldigung" der Soldatin. Denn der Zeitpunkt - sie erfolgte gerade nicht während der Vernehmung des Zeugen M. - spricht nach dem dem Senat vermittelten persönlichen Eindruck der Soldatin eher für "taktische Überlegungen" im Sinne der Hoffnung auf eine positive Auswirkung auf die Maßnahmebemessung als für ein Schuldeingeständnis, verbunden mit aufrichtiger Reue.

Wegen der letztlich nicht zweifelsfrei möglichen Feststellung eines ehrverletzenden Bedeutungsinhalts des Wortes "Ratte" kann danach von einer Dienstpflichtverletzung nicht ausgegangen werden.

...

Vorinstanz: TDG Süd - TDG S 4 VL 13/05 - 12.10.2005,
Fundstellen
DVBl 2007, 132
ZBR 2007, 106