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BGH - Entscheidung vom 29.10.2020

V ZR 300/19

Normen:
GG Art. 103 Abs. 1
ZPO § 321

BGH, Beschluss vom 29.10.2020 - Aktenzeichen V ZR 300/19

DRsp Nr. 2020/17751

Erfüllen des Tatbestands der arglistigen Täuschung zugleich die Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch unter dem Gesichtspunkt des Verschuldens bei Vertragsschluss; Rückabwicklung des Grundstückskaufvertrags nach Anfechtung

Wird ein Hilfsantrag übergangen, liegt keine Urteilslücke im Sinne des § 321 ZPO , sondern eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG vor, wenn - wie hier - sowohl der Tatbestand als auch vor allem der Urteilstenor den ganzen Streitstoff erfassen.

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des 4. Zivilsenats des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 21. November 2019 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung des Klägers gegen das Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 7. März 2018 hinsichtlich der Hilfsanträge zu 1c) aa) und bb) und dem Antrag zu 2 aus der Klageschrift und hinsichtlich der Widerklage zurückgewiesen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens beträgt 256.232,42 €.

Normenkette:

GG Art. 103 Abs. 1 ; ZPO § 321 ;

Gründe

I.

Der Kläger erwarb auf der Grundlage des notariellen Kaufvertrags vom 12. Februar 2016 von der Beklagten ein mit einem Wohn- und Geschäftshaus bebautes Grundstück zum Preis von 230.000 € unter Ausschluss der Haftung für Sachmängel. Das Grundstück ist im hinteren Teil mit einem Neubau bebaut, der 2010/2011 aus dem Ausbau einer ehemaligen Scheune entstanden war. Eine Baugenehmigung war dafür nicht erteilt worden.

Mit der Klage hat der Kläger die Beklagte zunächst auf Einholung der für den Neubau erforderlichen Genehmigungen, hilfsweise auf Übernahme der damit zusammenhängenden Kosten in Anspruch genommen (Klageanträge zu 1a und 1b). Äußerst hilfsweise hat er die Rückzahlung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Rückübertragung des Grundstücks sowie die Feststellung verlangt, dass die Beklagte ihm zum Ersatz seiner sonstigen Aufwendungen und Kosten hinsichtlich des Grundstücks verpflichtet sei (Klageanträge zu 1c] aa] und bb]). Desweiteren hat er die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten geltend gemacht (Klageantrag zu 2). Die Klage ist erfolglos geblieben und der Kläger auf die Widerklage der Beklagten zur Zahlung von 1.232,42 € verurteilt worden.

Dagegen hat der Kläger Berufung eingelegt. Im Berufungsverfahren haben die Parteien im Januar 2019 einen Zwischenvergleich geschlossen, durch den sich die Beklagte zur Einholung der etwa erforderlichen bauaufsichtlichen Genehmigung auf ihre Kosten bis Ende Juni 2019 und der Kläger zu etwa erforderlichen Mitwirkungs- und Duldungshandlungen verpflichtet hat. Im Mai 2019 hat die zuständige Stadtverwaltung einen Bauschein für die Nutzungsänderung einer Scheune in ein Einfamilienhaus unter Auflagen erteilt. Die Ausführung der insoweit notwendigen Arbeiten verursacht nach Behauptung des Klägers einen Aufwand von mindestens 30.000 €.

Nach Fortsetzung des Rechtsstreits und Anfechtung des Kaufvertrags hat der Kläger zuletzt die Feststellung (sinngemäß) beantragt, dass die Beklagte auf ihre Kosten die zur Erfüllung der Auflagen des Bauscheins erforderlichen Maßnahmen auszuführen habe (Anträge zu 1a bis g), hilfsweise - mit dem Zusatz „entsprechende Leistungsklage“- hat er die Zahlung von 30.000 € nebst Zinsen verlangt (Antrag zu B). Desweiteren hat er ausweislich des Berufungsurteils unter 2.) die „bisherigen (zuletzt erhobenen) Anträge der Klage bzw. der Berufung nacheinander als Hilfsanträge geltend gemacht“, den bisherigen Klageantrag zu 2 (vorgerichtliche Anwaltskosten des Klägers, Anträge hinsichtlich Vollstreckung etc.) gestellt sowie die Zurückweisung der Widerklage beantragt.

Die Berufung ist erfolglos geblieben. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde möchte der Kläger die Zulassung der Revision hinsichtlich der Anträge aus der Klageschrift zu 1c) aa) und bb) und 2 als „Teil des Schlussantrags zu 2 in der Berufungsinstanz“ und hinsichtlich der Widerklage erreichen. Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Beschwerde.

II.

Das Berufungsgericht meint, zum einen seien die zuletzt gestellten Anträge des Klägers - nämlich die Schlussanträge zu 1 a) und 1 f) - teilweise schon nicht hinreichend bestimmt. Zum anderen habe die Anfechtung des Grundstückskaufvertrags zum Wegfall des für den Klageantrag zu 1 erforderlichen Feststellungsinteresses geführt. Unabhängig davon sei die Klage durch die Anfechtungserklärung unschlüssig geworden. Hinsichtlich des hilfsweise gestellten Leistungsantrags fehle es ebenfalls an dem notwendigen Rechtsschutzinteresse. Durch die ausdrückliche und eindeutige Formulierung „entsprechende Leistungsklage“ knüpfe dieser Antrag an den Fortbestand des notariellen Kaufvertrags an. Die Anträge zu 1b), 1c), 1d) und 1g) hätten zudem keinen vollstreckungsfähigen Inhalt. Damit fehle auch dem Antrag zu 2 auf Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten die Grundlage. Daraus ergebe sich die Erfolglosigkeit des Antrags auf Abweisung der Widerklage, da die geltend gemachten Gegenrechte ihre Grundlage im Fortbestand des Vertragsverhältnisses hätten.

III.

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet. Das angefochtene Urteil ist gemäß § 544 Abs. 9 ZPO aufzuheben, soweit die Berufung des Klägers auch hinsichtlich der mit dem Schlussantrag zu 2 in der Berufungsinstanz weiterverfolgten Hilfsanträge zu 1c) aa) und bb) und des Antrags zu 2 aus der Klageschrift sowie hinsichtlich der Widerklage zurückgewiesen worden ist. Das Berufungsgericht hat insoweit den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG ) in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

1. a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen und Anträge der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Von einer Verletzung dieser Pflicht ist auszugehen, wenn besondere Umstände deutlich machen, dass das Vorbringen der Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist (vgl. Senat, Beschluss vom 14. März 2019 - V ZR 186/18, NJW 2019, 2383 Rn. 6; Beschluss vom 22. Oktober 2015 - V ZR 146/14, NJW-RR 2016, 210 Rn. 4). Ein Übergehen von Prozessvortrag in diesem Sinne liegt vor, wenn das Gericht einen Klageantrag unberücksichtigt lässt und dadurch unter offenkundiger Missachtung des einschlägigen Prozessrechts den Kläger mit seinem Antrag und dem zugehörigen Lebenssachverhalt nicht hört (vgl. BGH, Beschluss vom 5. März 2019 - VIII ZR 190/18, NJW 2019, 1950 Rn. 11).

b) So verhält es sich hier. Das Berufungsgericht hat sich mit dem äußerst hilfsweise gestellten Antrag aus der Klageschrift auf Rückabwicklung des Kaufvertrags und dem hilfsweisen Feststellungsantrag (Anträge zu 1c aus der Klageschrift) nicht befasst, obwohl der Kläger diese Anträge mit dem Schlussantrag zu 2 in der Berufungsinstanz ausdrücklich weiterverfolgt hat. In dem Tatbestand des Berufungsurteils sind die Haupt- und gestaffelten Hilfsanträge zwar vollständig wiedergegeben, eine Begründung, warum die Berufung des Klägers auch insoweit erfolglos ist, fehlt aber. Das Berufungsgericht hat bei seiner Entscheidung die Hilfsanträge 1c) aa) und bb) aus der Klageschrift offenbar übersehen. Dafür spricht, dass es hinsichtlich des Berufungsantrags zu 2.) nur Ausführungen zu den vorgerichtlichen Anwaltskosten gemacht und den Streitwert für das Berufungsverfahren ab dem 11. Januar 2019 auf 30.000 € festsetzt hat. Das ist der Wert des in der Berufungsinstanz neu gestellten Hilfsantrags zu B. Mit den weiter verfolgten Hilfsanträgen aus der Klageschrift hätte das Berufungsgericht sich aber befassen müssen, da es die Hauptanträge und den vorrangigen Hilfsantrag als unzulässig bzw. als unbegründet angesehen hat.

2. Die Geltendmachung einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG ist nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Kläger eine Ergänzung des Berufungsurteils nach § 321 ZPO nicht beantragt hat.

a) Zwar liegt in den Fällen, in denen ein geltend gemachter Haupt- oder Nebenanspruch vom Gericht nur versehentlich übergangen wird, regelmäßig nur eine ergänzungsbedürftige Teilentscheidung vor, deren Unvollständigkeit im Verfahren nach § 321 ZPO zu beheben ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 16. Dezember 2005 - V ZR 230/04, NJW 2006, 1351 , 1352; Urteil vom 30. September 2009 - VIII ZR 29/09, NJW-RR 2010, 19 Rn. 11; jeweils mwN). Wird ein geltend gemachter Haupt- oder Nebenanspruch vom Gericht versehentlich übergangen, ist das lückenhafte Urteil in aller Regel nicht bereits wegen seiner Unvollständigkeit inhaltlich fehlerhaft. Eine Partei, deren Anspruch (noch) nicht beschieden worden ist, kann daher grundsätzlich - mangels Beschwer - keine Ergänzung der bislang unterbliebenen Entscheidung durch Einlegung eines Rechtsmittels verlangen, sondern nur eine Schließung der Lücke im Verfahren nach § 321 ZPO erreichen.

b) Eine Ergänzung des Urteils nach § 321 ZPO kommt aber nicht in Betracht, wenn ein prozessualer Anspruch (Streitgegenstand) rechtsfehlerhaft bewusst nicht beschieden worden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 5. März 2019 - VIII ZR 190/18, NJW 2019, 1950 Rn. 20 mwN) oder wenn das Gericht über einen Anspruchsteil nicht entschieden hat, weil es das Begehren der Partei (wenn auch unrichtig) enger ausgelegt hat (vgl. dazu Stein/Jonas/Althammer, ZPO , 23. Aufl., § 321 Rn. 10). Eine Urteilslücke im Sinne des § 321 ZPO fehlt auch dann, wenn der Urteilstenor den ganzen Streitstoff erfasst (vgl. BGH, Urteil vom 27. November 1979 - VI ZR 40/78, NJW 1980, 840 , 841 mwN) und lediglich keine Gründe dazu vorliegen (HK-ZPO/Sänger, 8. Aufl., § 321 Rn. 6; MüKoZPO/ Musielak, 6. Aufl., § 321 Rn. 5). Sie setzt nämlich voraus, dass der nicht beschiedene prozessuale Anspruch nach Rechtskraft des Urteils weder zugesprochen noch abgewiesen wäre, der Kläger also die Möglichkeit eines neuen Rechtsstreits hätte (BGH, Urteil vom 27. November 1979 - VI ZR 40/78, aaO). Maßgeblich für das Feststellen einer Urteilslücke im Sinne von § 321 ZPO ist in erster Linie der Urteilstenor (vgl. BGH, Urteil vom 27. November 1979 - VI ZR 40/78, aaO mwN).

c) Gemessen daran fehlt es an einer Entscheidungslücke im Sinne von § 321 ZPO . Das Berufungsgericht hat mit dem Urteilstenor zu 1 umfassend über die Berufung des Klägers entschieden und diese zurückgewiesen. Der Tenor umfasst auch die in der Berufungsinstanz zuletzt gestellten Hilfsanträge; die damit verfolgten Ansprüche wären, würde das Berufungsurteil rechtskräftig, daher endgültig abgewiesen.

3. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist entscheidungserheblich. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Berufungsgericht bei Berücksichtigung des übergangenen Hilfsantrags zu der Entscheidung gekommen wäre, dass der Kläger jedenfalls mit diesem Begehren obsiegt. Der Tatbestand der arglistigen Täuschung erfüllt zugleich die Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch unter dem Gesichtspunkt des Verschuldens bei Vertragsschluss. Dieser Anspruch kann unabhängig davon geltend gemacht werden, ob das Anfechtungsrecht ausgeübt worden ist. Die Vorschriften des Anfechtungsrechts stellen gegenüber dem Schadensersatzanspruch keine diesen ausschließenden Spezialregelungen dar (vgl. Senat, Urteil vom 21. Juni 1974 - V ZR 15/73, NJW 1974, 1505 , 1506; Urteil vom 12. Mai 1995 - V ZR 34/94, NJW 1995, 2361 , 2362; BGH, Urteil vom 18. September 2001 - X ZR 107/00, NJW-RR 2002, 308 , 309). Der Käufer ist so zu stellen, wie er bei Offenbarung der für seinen Vertragsentschluss maßgeblichen Umstände stünde. Da in aller Regel anzunehmen ist, dass der Vertrag bei der gebotenen Aufklärung nicht oder mit einem anderen Inhalt zustande gekommen wäre, ist der Geschädigte in erster Linie berechtigt, sich von diesem zu lösen und Ersatz seiner im Vertrauen auf den Vertragsschluss getätigten Aufwendungen zu verlangen (vgl. Senat, Urteil vom 11. Juni 2010 - V ZR 144/09, WuM 2011, 524 Rn. 8; Urteil vom 4. Dezember 2015 - V ZR 142/14, NZM 2016, 582 Rn. 18; BGH, Urteil vom 28. März 1990 - VIII ZR 169/89, BGHZ 111, 75 , 82). Mit dieser Frage und der Bedeutung und Tragweite des Zwischenvergleichs hat sich das Berufungsgericht nicht befasst. Es hat dazu keine Feststellungen getroffen. Deshalb hält auch die Zurückweisung der Berufung des Klägers hinsichtlich des mit dem Antrag zu 2 geltend gemachten Anspruchs auf Ersatz vorgerichtlicher Anwaltskosten nebst Zinsen und hinsichtlich der Widerklage nicht stand.

IV.

Der Verstoß gegen den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO entsprechend den Anträgen der Nichtzulassungsbeschwerde zur Aufhebung des Berufungsurteils, soweit die Anträge zu 1c) und 2 aus der Klageschrift abgewiesen worden sind und der Widerklage stattgegeben worden ist.

Vorinstanz: LG Frankenthal, vom 07.03.2018 - Vorinstanzaktenzeichen 3 O 37/17
Vorinstanz: OLG Zweibrücken, vom 21.11.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 4 U 40/18