BSG, Beschluss vom 17.01.2024 - Aktenzeichen B 1 KR 32/23 B
Übernahme der Kosten eines Versicherten für die Versorgung mit einer inhalativen Cannabinoid-Therapie (hier: Sativex-Spray)
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 3. April 2023 wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der 1998 geborene und bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich versicherte Kläger leidet ua an einer rezividierenden depressiven und dissoziativen Störung mit Muskelverspannungssyndromen und spastischen Lähmungen/katatonen Zuständen, deren Ursache trotz umfangreicher Diagnostik nicht geklärt werden konnte. Dabei kommt es immer wieder zu einer völligen Versteifung des Körpers bis zur Bewegungsunfähigkeit.
Der Kläger hatte mit seinem Begehren auf Übernahme der Kosten für die Versorgung mit einer inhalativen Cannabinoid-Therapie (Sativex-Spray), hilfsweise Dronabinol-Tropfen bei der Beklagten und in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung auf das erstinstanzliche Urteil und den die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren ablehnenden Beschluss vom 9.3.2023 verwiesen. In Letzterem hat es ausgeführt, bezüglich des Hilfsantrags fehle es an einem vorgeschalteten Verwaltungsverfahren. Für eine Versorgung mit Sativex-Spray fehle es jedenfalls an der nach der Rechtsprechung des BSG erforderlichen begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, aus der sich ergeben müsse, warum zur Verfügung stehende Standardmethoden unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes nicht zur Anwendung kommen könnten. Eine solche begründete Einschätzung habe der Kläger auch im Berufungsverfahren nicht vorgelegt. Sie könne entgegen seiner Ansicht auch nicht durch ein Konglomerat von Arztbriefen ersetzt werden. Vielmehr bedürfe es einer Auswertung der verschiedenen medizinischen Unterlagen durch den (einen) behandelnden Vertragsarzt, der dann auf dieser Grundlage eine Einschätzungsprärogative abgebe (Beschluss vom 3.4.2023).
Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG.
II
Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 i.V.m. § 169 Satz 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung des allein geltend gemachten Revisionszulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung.
Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG vom 17.4.2012 - B 13 R 347/11 B - SozR 4-2600 § 72 Nr 5 RdNr 17 mwN; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs BVerfG vom 14.4.2010 - 1 BvR 2856/07 - SozR 4-1500 § 160a Nr 24 RdNr 5 ff mwN). Dem wird das Beschwerdevorbringen nicht gerecht.
1. Der Kläger formuliert folgende Frage:
"Liegt eine begründete Einschätzung des Vertragsarztes, dem die Erforderlichkeit für die Versorgung mit dem Arzneimittel Dronabinol zu entnehmen ist, auch vor, wenn die Einschätzung auf eine Mehrzahl von Arztbriefen beruht."
2. Es kann dahingestellt bleiben, ob es sich hierbei um eine der höchstrichterlichen Klärung zugängliche abstrakte Rechtsfrage handelt oder die Frage - wie die Beklagte meint - letztlich allein auf eine Überprüfung der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung des LSG in dem vorliegenden Einzelfall abzielt (vgl dazu, dass die Behauptung, die Berufungsentscheidung sei inhaltlich unrichtig, nicht zur Zulassung der Revision führen kann, BSG vom 17.7.2020 - B 1 KR 34/19 B - juris RdNr 6 mwN). Denn es fehlt jedenfalls an ausreichenden Darlegungen zur Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit der Rechtsfrage.
3. Klärungsbedürftig sind solche entscheidungserheblichen Rechtsfragen, auf die sich eine Antwort noch nicht ohne Weiteres aus dem Gesetz ergibt, die durch die höchstrichterliche Rechtsprechung noch nicht unmittelbar geklärt sind und auf die sich eine Antwort auch nicht zumindest mittelbar aus bereits vorhandenen höchstrichterlichen Entscheidungen finden lässt. Die Beschwerdebegründung hat deshalb auszuführen, inwiefern die Rechtsfrage nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre nicht ohne Weiteres zu beantworten ist, und den Schritt darzustellen, den das Revisionsgericht zur Klärung der Rechtsfrage im allgemeinen Interesse vornehmen soll (vgl BSG vom 22.2.2017 - B 1 KR 73/16 B - juris RdNr 8 mwN; vgl zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit eines entsprechenden Maßstabs BVerfG <Kammer> vom 12.9.1991 - 1 BvR 765/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 6 S 10 f = juris RdNr 4). Daran fehlt es vorliegend.
Das BSG hat die Anforderungen an die von § 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst b SGB V geforderte begründete Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes (ua) in der Entscheidung vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - näher konkretisiert. Erforderlich hierfür ist insbesondere die Darlegung der bestehenden und der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankungen und zu lindernden Symptome (Behandlungsziel), der bisher angewandten Behandlungskonzepte und der noch verfügbaren Standardtherapien sowie der Gründe, weshalb diese nach der vertragsärztlichen Abwägung aller Gesichtspunkte im konkreten Fall nicht zur Anwendung kommen können ( BSG , aaO, RdNr 32 ff). Ob eine den Anforderungen entsprechende begründete Einschätzung des Vertragsarztes vorliegt, bestimmt sich nach den vorliegenden Stellungnahmen des behandelnden Vertragsarztes zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz. Der Versicherte hat die begründete Einschätzung als Voraussetzung des Versorgungs- und Genehmigungsanspruchs beizubringen. Es ist ihm nicht verwehrt, auch im gerichtlichen Verfahren in Reaktion auf die bisherigen Erkenntnisse eine Ergänzung der bisher abgegebenen Einschätzung durch den Vertragsarzt noch vorzulegen ( BSG , aaO, RdNr 39).
Der Kläger legt nicht dar, inwiefern die von ihm aufgeworfene Frage, ob die begründete Einschätzung auch auf einer Mehrzahl von Arztbriefen beruhen könne, hierdurch nicht geklärt sein sollte.
4. Klärungsfähig ist eine Rechtsfrage nur dann, wenn das BSG im angestrebten Revisionsverfahren überhaupt hierüber entscheiden müsste, die Frage also entscheidungserheblich ist (vgl BSG vom 13.1.2017 - B 12 R 23/16 B - juris RdNr 20; vgl zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs BVerfG vom 18.12.1991 - 1 BvR 1411/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 7 S 14 = juris RdNr 8). Wie das Vorliegen grundsätzlicher Bedeutung insgesamt, ist dies auf der Tatsachengrundlage der Vorinstanz zu beurteilen. Auch Darlegungen zur Klärungsfähigkeit müssen sich also auf die Tatsachen beziehen, die das LSG in der angegriffenen Entscheidung mit Bindungswirkung für das BSG (§ 163 SGG ) festgestellt hat (vgl BSG vom 12.8.2020 - B 1 KR 46/19 B - juris RdNr 10 mwN). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung ebenfalls nicht.
Der Kläger legt insbesondere nicht substantiiert dar, dass nach den Feststellungen des LSG die von ihm vorgelegten Arztbriefe in ihrer Gesamtschau den oben genannten Anforderungen an das Vorliegen einer begründeten ärztlichen Einschätzung - vor allem mit Blick auf die erforderliche vertragsärztliche Abwägung - genügen.
5. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG ).
6. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG .