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BSG - Entscheidung vom 17.01.2024

B 1 KR 33/23 B

Normen:
SGB V § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. b

BSG, Beschluss vom 17.01.2024 - Aktenzeichen B 1 KR 33/23 B

DRsp Nr. 2024/5713

Beruhen der Einschätzung des Vertragsarztes zur Erforderlichkeit für die Versorgung eines Versicherten mit dem Arzneimittel Dronabinol auf eine Mehrzahl von Arztbriefen

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 3. April 2023 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Normenkette:

SGB V § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. b;

Gründe

I

Der 1998 geborene und bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich versicherte Kläger leidet ua an einer rezividierenden depressiven und dissoziativen Störung mit Muskelverspannungssyndromen und spastischen Lähmungen/katatonen Zuständen. Dabei kommt es immer wieder zu einer völligen Versteifung des Körpers bis zur Bewegungsunfähigkeit.

Einen im Jahr 2020 gestellten Antrag auf Versorgung mit Dronabinol-Tropfen lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 27.10.2020, Widerspruchsbescheid vom 16.12.2020). Mit dem im Jahr 2021 gestellten Antrag auf Überprüfung und Rücknahme des ablehnenden Bescheides sowie auf Übernahme der Kosten für die Versorgung mit Dronabinol-Tropfen hatte der Kläger bei der Beklagten und in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung auf das erstinstanzliche Urteil und den die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren ablehnenden Beschluss verwiesen. In Letzterem hat es ausgeführt, der Kläger habe keine neuen Tatsachen oder Beweismittel vorgelegt, die zu einer anderen Beurteilung führen könnten. Die vorgelegte ärztliche Bescheinigung erfülle nicht die Voraussetzungen einer begründeten Einschätzung als Voraussetzung einer Genehmigung nach § 31 Abs 6 Satz 1 SGB V . Sie könne entgegen seiner Ansicht auch nicht durch die Schilderungen des Krankheitsverlaufs durch die Mutter ersetzt werden (Beschluss vom 3.4.2023).

Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG.

II

Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung des allein geltend gemachten Revisionszulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung.

Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG vom 17.4.2012 - B 13 R 347/11 B - SozR 4-2600 § 72 Nr 5 RdNr 17 mwN; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs BVerfG vom 14.4.2010 - 1 BvR 2856/07 - SozR 4-1500 § 160a Nr 24 RdNr 5 ff mwN). Dem wird das Beschwerdevorbringen nicht gerecht.

1. Der Kläger formuliert folgende Frage:

"Liegt eine begründete Einschätzung des Vertragsarztes, dem die Erforderlichkeit für die Versorgung mit dem Arzneimittel Dronabinol zu entnehmen ist, auch vor, wenn die Einschätzung auf eine Mehrzahl von Arztbriefen beruht."

2. Es kann dahingestellt bleiben, ob es sich hierbei um eine der höchstrichterlichen Klärung zugängliche abstrakte Rechtsfrage handelt oder die Frage - wie die Beklagte meint - letztlich allein auf eine Überprüfung der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung des LSG in dem vorliegenden Einzelfall abzielt (vgl dazu, dass die Behauptung, die Berufungsentscheidung sei inhaltlich unrichtig, nicht zur Zulassung der Revision führen kann, BSG vom 17.7.2020 - B 1 KR 34/19 B - juris RdNr 6 mwN). Denn es fehlt jedenfalls an ausreichenden Darlegungen zur Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit der Rechtsfrage.

3. Klärungsbedürftig sind solche entscheidungserheblichen Rechtsfragen, auf die sich eine Antwort noch nicht ohne Weiteres aus dem Gesetz ergibt, die durch die höchstrichterliche Rechtsprechung noch nicht unmittelbar geklärt sind und auf die sich eine Antwort auch nicht zumindest mittelbar aus bereits vorhandenen höchstrichterlichen Entscheidungen finden lässt. Die Beschwerdebegründung hat deshalb auszuführen, inwiefern die Rechtsfrage nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre nicht ohne Weiteres zu beantworten ist, und den Schritt darzustellen, den das Revisionsgericht zur Klärung der Rechtsfrage im allgemeinen Interesse vornehmen soll (vgl BSG vom 22.2.2017 - B 1 KR 73/16 B - juris RdNr 8 mwN; vgl zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit eines entsprechenden Maßstabs BVerfG <Kammer> vom 12.9.1991 - 1 BvR 765/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 6 S 10 f = juris RdNr 4). Daran fehlt es vorliegend.

Das BSG hat die Anforderungen an die von § 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst b SGB V geforderte begründete Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes (ua) in der Entscheidung vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - näher konkretisiert. Erforderlich hierfür ist insbesondere die Darlegung der bestehenden und der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankungen und zu lindernden Symptome (Behandlungsziel), der bisher angewandten Behandlungskonzepte und der noch verfügbaren Standardtherapien sowie der Gründe, weshalb diese nach der vertragsärztlichen Abwägung aller Gesichtspunkte im konkreten Fall nicht zur Anwendung kommen können ( BSG , aaO, RdNr 32 ff). Ob eine den Anforderungen entsprechende begründete Einschätzung des Vertragsarztes vorliegt, bestimmt sich nach den vorliegenden Stellungnahmen des behandelnden Vertragsarztes zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz. Der Versicherte hat die begründete Einschätzung als Voraussetzung des Versorgungs- und Genehmigungsanspruchs beizubringen. Es ist ihm nicht verwehrt, auch im gerichtlichen Verfahren in Reaktion auf die bisherigen Erkenntnisse eine Ergänzung der bisher abgegebenen Einschätzung durch den Vertragsarzt noch vorzulegen ( BSG , aaO, RdNr 39).

Der Kläger legt nicht dar, inwiefern die von ihm aufgeworfene Frage, ob die begründete Einschätzung auch auf einer Mehrzahl von Arztbriefen beruhen könne, hierdurch nicht geklärt sein sollte.

4. Klärungsfähig ist eine Rechtsfrage nur dann, wenn das BSG im angestrebten Revisionsverfahren überhaupt hierüber entscheiden müsste, die Frage also entscheidungserheblich ist (vgl BSG vom 13.1.2017 - B 12 R 23/16 B - juris RdNr 20; vgl zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs BVerfG vom 18.12.1991 - 1 BvR 1411/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 7 S 14 = juris RdNr 8). Wie das Vorliegen grundsätzlicher Bedeutung insgesamt, ist dies auf der Tatsachengrundlage der Vorinstanz zu beurteilen. Auch Darlegungen zur Klärungsfähigkeit müssen sich also auf die Tatsachen beziehen, die das LSG in der angegriffenen Entscheidung mit Bindungswirkung für das BSG 163 SGG ) festgestellt hat (vgl BSG vom 12.8.2020 - B 1 KR 46/19 B - juris RdNr 10 mwN). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung ebenfalls nicht.

Der Kläger legt bereits nicht substantiiert dar, dass nach den Feststellungen des LSG die von ihm vorgelegten Arztbriefe in ihrer Gesamtschau den oben genannten Anforderungen an das Vorliegen einer begründeten ärztlichen Einschätzung - vor allem mit Blick auf die erforderliche vertragsärztliche Abwägung - genügen.

Insbesondere fehlt es aber auch an einer Darlegung, dass in der hier vorliegenden Situation eines sog Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X überhaupt eine Verpflichtung der Beklagten zum Eintritt in eine Sachprüfung bestand, innerhalb derer es auf das Vorliegen einer begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes angekommen wäre. Nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Ein Verwaltungsakt ist im Sinne des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X anfänglich rechtswidrig, wenn er nicht der im Zeitpunkt seiner Bekanntgabe gegebenen Sach- und Rechtslage entspricht ( BSG vom 1.12.1999 - B 5 RJ 20/98 R - BSGE 85, 151 , 153 = SozR 3-2600 § 300 Nr 15 S 72; BSG vom 12.9.2019 - B 11 AL 19/18 R - SozR 4-4300 § 330 Nr 8 RdNr 15). Die Rechtslage ist aus heutiger Sicht zu beurteilen ( BSG vom 14.11.2002 - B 13 RJ 47/01 R - BSGE 90, 136 , 138 = SozR 3-2600 § 300 Nr 18 S 86; BSG vom 26.10.2017 - B 2 U 6/16 R - SozR 4-2200 § 547 Nr 1 RdNr 17). In einer dreistufigen Prüfung ist zunächst zu entscheiden, ob vom Antragsteller hinreichende Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Rechtsanwendung oder unrichtige Tatsachengrundlage des Verwaltungsaktes vorgetragen sind oder hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen. Nur wenn dies der Fall ist, muss der Sozialleistungsträger in eine Sachprüfung eintreten, anderenfalls kann er den Antrag ohne weitere Sachprüfung ablehnen. Ergibt die Sachprüfung, dass die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Verwaltungsaktes vorliegen, erfolgt diese auf der dritten Verfahrensstufe (vgl BSG vom 3.2.1988 - 9/9a RV 18/86 - BSGE 63, 33 , 35 f = SozR 1300 § 44 Nr 33 S 90; BSG vom 3.4.2001 - B 4 RA 22/00 R - BSGE 88, 75 , 79 = SozR 3-2200 § 1265 Nr 20 S 134). Die Beklagte hatte den Antrag des Klägers ohne Sachprüfung abgelehnt. Der Kläger legt nicht dar, dass er mit dem gestellten Überprüfungsantrag hinreichende Anhaltspunkte für die Rechtswidrigkeit des ablehnenden Verwaltungsaktes vom 27.10.2020 und des Widerspruchsbescheides vom 16.12.2020 vorgetragen hatte oder solche Anhaltspunkte für die Beklagte anderweitig erkennbar sein mussten und damit die Beklagte zur erneuten Sachprüfung verpflichtet war. Es ist damit aus der Beschwerdebegründung nicht erkennbar, dass es auf die Frage, ob sich die von § 31 Abs 6 Satz 1 SGB V geforderte begründete Einschätzung auch aus einer Mehrzahl von Arztbriefen ergeben kann, entscheidungserheblich ankommt.

5. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG ).

6. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG .

Vorinstanz: SG Hildesheim, vom 30.11.2022 - Vorinstanzaktenzeichen S 54 KR 572/21
Vorinstanz: LSG Niedersachsen-Bremen, vom 03.04.2023 - Vorinstanzaktenzeichen L 16 KR 7/23