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Gefährdung des Wohls der Kinder einer Aussteigerin aus der rechtsextremen Szene

Eine Einschränkung oder ein Ausschluss des Umgangsrechts ist dann veranlasst, wenn nach den Umständen des Einzelfalls der Schutz des Kindes dies erfordert, um eine Gefährdung seiner seelischen oder körperlichen Entwicklung abzuwehren. Das Wohl des in der Obhut der Mutter aufwachsenden Kindes ist von der körperlichen Unversehrtheit seiner Mutter abhängig, hinter deren Schutz das Umgangsrecht des Vaters ggf. zurücktreten muss.

Darum geht es

Seit der Trennung der Eltern leben die drei gemeinsamen Kinder bei der Mutter, der auch die elterliche Sorge übertragen wurde. Eine getroffene Umgangsvereinbarung setzte sie allerdings nicht um. Der Vater ist in der rechtsradikalen Szene aktiv. Die hier ebenfalls engagierte Beschwerdeführerin hat sich 2005 abgewandt und an einem Aussteigerprogramm teilgenommen. Sie hat ihren Namen und die Namen ihrer Kinder ändern lassen und mehrfach ihren Wohnsitz gewechselt.

Anordnungen zum Umgangsrecht des Vaters

Im November 2008 wurde die Ehe der Eltern geschieden und das Umgangsrecht des Vaters mit den Kindern bis Ende 2009 ausgeschlossen. Auf seine Beschwerde wurde dem Vater nach Einholung eines Sachverständigengutachtens begleiteter Umgang von zwei Stunden monatlich gewährt und zur Sicherstellung der Durchführung eine Umgangspflegschaft angeordnet.

Verlauf des Verfassungsbeschwerdeverfahrens

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG durch die angegriffene Entscheidung, da eine Gefährdung vorliege. Aus dem Umgangsrecht ergebe sich eine Gefährdung der Familie, denn bei Bekanntwerden des Aufenthaltsortes wären Racheakte aus der rechten Szene zu befürchten. Am 29.08.2012 hat das BVerfG im Wege einer einstweiligen Anordnung die Wirksamkeit der Umgangsregelung bis zur Entscheidung in der Hauptsache bis zum 31.01.2013 ausgesetzt. Im Hauptsacheverfahren gibt es der Verfassungsbeschwerde statt.

Wesentliche Entscheidungsgründe

Durch die angegriffene Entscheidung wird die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt. Allerdings steht beiden Elternteilen das gegenseitig zu respektierende Elternrecht zu. Grundsätzlich muss auch der Umgang mit dem anderen Elternteil ermöglicht werden (BVerfG, Beschl. v. 15.06.1971 - 1 BvR 192/70, DRsp-Nr. 1996/8019 = BVerfGE 31, 194, 206 f.).

Konkordanz der verschiedenen Grundrechte

Können sich Eltern nicht einigen, entscheidet das Gericht unter Berücksichtigung der Grundrechtspositionen der Eltern und des Kindeswohls. Eine Einschränkung oder ein Ausschluss des Umgangsrechts ist dann veranlasst, wenn nach den Umständen des Einzelfalls der Schutz des Kindes dies erfordert, um eine Gefährdung seiner seelischen oder körperlichen Entwicklung abzuwehren (BVerfG, a.a.O., 209 f.). Das OLG ist den Anforderungen des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG angesichts des Ausmaßes der dem Kindeswohl durch die Umgangsregelung drohenden Gefahren nicht gerecht geworden. Bei der Entscheidung über die Ausübung des Umgangsrechts hat es dem mit dem Wohl der Kinder in engem Zusammenhang stehenden Schutz der Beschwerdeführerin vor Gefahren für Leib und Leben nicht ausreichend Rechnung getragen.

Konkrete Gefährdung der Mutter gefährdet Kindeswohl

Das OLG hat der Gefährdung der Mutter und damit auch der Kinder durch die rechtsextreme Szene zu geringes Gewicht beigemessen. Aus den vorliegenden Unterlagen ergeben sich Anhaltspunkte für eine konkrete Gefährdung der Beschwerdeführerin, durch Rechtsextremisten erheblichem seelischem und körperlichem Druck ausgesetzt zu werden. Ob die Kinder derselben Gefahr unmittelbar und eigenständig ausgesetzt sind, kann dahinstehen. Das Wohl der in der Obhut der Mutter aufwachsenden Kinder ist von der körperlichen Unversehrtheit ihrer Mutter abhängig, hinter deren Schutz das Umgangsrecht des Vaters hier zurücktreten muss.

Folgerungen aus der Entscheidung

Die konkrete Gefährdung der Beschwerdeführerin ist auf ihren Ausstieg aus der rechtsextremistischen Szene zurückzuführen. Der Verfassungsschutz Sachsen hat erläutert, dass, je prominenter ein Aussteiger in dieser Szene war, das Bedürfnis umso ausgeprägter sei, den Ausstieg zu sanktionieren. Da die Beschwerdeführerin damals zur Szeneprominenz gehörte, ist nicht auszuschließen, dass möglicherweise auch durch spontane Einzelhandlungen an ihr ein Exempel statuiert werden soll. Auch wenn dem Verfassungsschutz keine konkret geplanten Aktionen bekannt sind, wird doch von einer spezifischen Gefährdungssituation ausgegangen. Diese Bewertung bestätigen auch das Landeskriminalamt Niedersachsen und die Aussteigerorganisation EXIT.

Schutzmaßnahmen gegen drohende Übergriffe

Die Tatsache, dass bislang keine Übergriffe auf sie erfolgt sind, resultiert daraus, dass die Beschwerdeführerin jeweils unmittelbar nach Bekanntwerden ihres Wohnortes diesen ebenso wie ihren Namen gewechselt hat. Im Rahmen einer Gefährdungsanalyse ist zu bedenken, dass die Beschwerdeführerin in den letzten Jahren aufgrund der zu ihren Gunsten eingeleiteten Schutzmaßnahmen unter einer verdeckten Identität gelebt hat und diese allenfalls kurzfristig in der rechtsextremen Szene bekannt war. Es bestanden daher kaum Gelegenheiten für Aktionen gegen sie.

Angeordneter Umgang gefährdet Schutzmaßnahmen

Der angeordnete Umgang kann aber die Aufdeckung der Identität und des Wohnortes zur Folge haben. Denn selbst bei begleitetem Umgang besteht die Möglichkeit, dass die Kinder unbeabsichtigt Hinweise auf ihren Wohnort geben. Ebenso besteht die Gefahr, dass die Beschwerdeführerin beim Bringen oder Abholen der Kinder beobachtet wird und dadurch ihr Aufenthaltsort bekannt wird. Durch diese Möglichkeit des Bekanntwerdens ihres Wohnortes und daraus resultierender Angriffe sind die körperliche Unversehrtheit und das Leben der Beschwerdeführerin im Fall der Aufrechterhaltung des Umgangsrechts in unmittelbarer Gefahr. Da die Beschwerdeführerin die Kinder betreut und ihre Hauptbezugsperson ist, bedeutet dies auch eine konkrete Kindeswohlgefährdung, die der Durchführung von Umgangskontakten entgegensteht.

Nachteilige Folgen der angeordneten Umgangskontakte für die Kinder

Ferner hätte das OLG der Frage nachgehen müssen, welche Auswirkungen die Durchführung von Umgangskontakten unter ihren alten Identitäten auf die Kinder haben kann und ob ihr Umgang mit dem Vater gegen ihren Willen eine seelische Schädigung hervorrufen könnte.

Praxishinweis

Gerade bei Vereinigungen wie z.B. von Rechtsextremisten oder auch bei Sekten stellt Unterordnung ein wesentliches Instrument zur Bindung an die Gruppe dar. Mit ihrem Ausstieg stellt die Beschwerdeführerin indirekt die Ziele der gesamten Gruppe infrage. Nur durch behördlichen Schutz und zugesicherte Anonymität kann sie mit ihren Kindern außerhalb der Gruppe leben. Bei der Abwägung der Interessen beider Elternteile ist hier insbesondere aufgrund der erschwerten und sogar bedrohlichen Situation dem Wohl der Kinder die höchste Aufmerksamkeit zu widmen. Auch wenn die Kinder dieser Bedrohung nicht selbst ausgesetzt sind, wäre ein Angriff auf ihre Mutter mittelbar auch als Angriff auf sie selbst zu werten. Darüber hinaus ist auf den eigenen Willen der Kinder und ihre Sensibilität für die aktuelle Situation abzustellen.

Weiter zum Volltext BVerfG, Beschl. v. 13.12.2012 – 1 BvR 1766/12, DRsp-Nr. 2013/8337