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Bestellung von Großeltern zum Vormund ihres Enkelkindes

Entscheidungsanmerkung mit Praxishinweis: Bei der Auswahl eines Vormunds für ein minderjähriges Kind sind vorrangig betreuungsbereite Verwandte zu berücksichtigen.

BVerfG - Beschluss vom 18.12.2008 (1 BvR 2604/06)

Die Nichtbeachtung der Verwandtenstellung stellt eine Verkennung der Bedeutung und Tragweite der persönlichen Beziehungen des betreffenden Verwandten zu dem Kind und eine nicht hinreichende Berücksichtigung des Schutzes der Familie dar und verletzt folglich Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG.

Darum geht es:

Die Beschwerdeführer sind die Großeltern eines im August 2004 geborenen Kindes. Die Eltern des Kindes sind nicht erziehungsfähig. Im Wege der einstweiligen Anordnung entzog das Familiengericht der Kindesmutter die elterliche Sorge und übertrug dieses Recht dem örtlichen Jugendamt als „Pfleger“. Seit September 2004 lebt das Kind in einer Pflegefamilie.

Der im August 2005 gestellte Antrag der Beschwerdeführer auf Vormundschaft und Herausgabe des Kindes zur Pflege wurde vom Amtsgericht abschlägig beschieden. Die dagegen gerichtete Beschwerde wies das OLG im Juli 2006 mit der Begründung zurück, die Voraussetzungen nach § 1945 Abs. 1, § 1987 BGB für ein Einschreiten des Gerichts lägen nicht vor. Das Verwandtschaftsverhältnis der Beschwerdeführer zu ihrem Enkelkind sei für sich allein kein ausreichender Grund, eine bestehende Vormundschaft aus Gründen des Kindeswohls aufzuheben, nachdem es die Beschwerdeführer versäumt hätten, sich rechtzeitig und möglichst vor der Geburt des Kindes um eine Vormundschaft zu bewerben. Es diene nicht dem Wohl des Kindes, es aus seiner vertrauten Pflegefamilie herauszunehmen, in der es praktisch seit seiner Geburt gelebt habe, um es in Zukunft bei seinen Großeltern leben zu lassen, über deren Erziehungseignung keine gesicherten Erkenntnisse vorlägen. Im Übrigen eigneten sich die Pflegeeltern auch vom Alter her besser als Ersatzeltern für das Kind als die Beschwerdeführer, die immerhin schon 50 und 51 Jahre alt und damit in einem Alter seien, dass sie nicht (mehr) für die Erziehung eines Kleinkindes prädestiniere.

Die gegen die Entscheidung gerichtete Verfassungsbeschwerde ist — soweit die Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG gelten machen – zulässig und begründet. Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG und den Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG. Er ist daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.

Wesentliche Entscheidungsgründe:

Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt entschieden, dass Art. 6 Abs. 1 GG den Staat verpflichtet, die aus Eltern und Kindern bestehende Familiengemeinschaft sowohl im immateriell-persönlichen wie auch im materiell-wirtschaftlichen Bereich als eigenständig und selbstverantwortlich zu respektieren (vgl. BVerfGE 28, 104, 112). Ebenso hat es mehrfach klargestellt, dass Art. 6 Abs. 2 GG den Vorrang der Eltern bei der Verantwortung für das schutzbedürftige Kind garantiert (vgl. BVerfGE 24, 119, 138). Diese Verfassungsgrundsätze gebieten eine bevorzugte Berücksichtigung der Familienangehörigen bei der Auswahl von Pflegern und Vormündern, sofern keine Interessenkollision besteht oder der Zweck der Fürsorgemaßnahme aus anderen Gründen die Bestellung eines Dritten verlangt.

Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umfasst das Familienleben i.S.d. Art. 8 EMRK zumindest — auch — nahe Verwandte, so z.B. Großeltern und Enkel, da sie innerhalb der Familie eine beachtliche Rolle spielen können. Hieraus folgt, dass die Gerichte bei der Auswahl eines Vormunds bestehende Familienbande zwischen den Großeltern und Enkeln zu beachten haben.

Gemäß § 1779 BGB hat das Familiengericht — wie auch das Vormundschaftsgericht — bei der Auswahl mehrerer geeigneter Personen u.a. den mutmaßlichen Willen der Eltern, die persönlichen Bindungen des Mündels und die Verwandtschaft oder Schwägerschaft mit dem Mündel zu beachten.

Es gilt auch weiterhin als Selbstverständlichkeit, dass bei intakten Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen Kinder dann, wenn ihre Eltern aus welchen Gründen auch immer als Sorgeberechtigte ausscheiden, von Großeltern oder anderen nahen Verwandten aufgenommen und großgezogen werden. Dritte Personen kommen als Vormund nur in Betracht, wenn ein nach den aufgezeigten Grundsätzen geeigneter Verwandter oder Verschwägerter nicht vorhanden ist. Auch eine Bestellung des Jugendamts gem. § 1791 Abs. 1 BGB ist nur zulässig, wenn eine als Einzelvormund geeignete Person nicht vorhanden ist.

Diesen Anforderungen genügt die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts nicht. Das OLG stellt in seiner Entscheidung darauf ab, dass der Antrag der Beschwerdeführer auf einen Wechsel des Vormunds zielt. Ein solcher Wechsel ist aber nur dann anzunehmen, wenn ein Vormund bereits endgültig bestellt ist. Die Entscheidung über die Entziehung der elterlichen Sorge und Übertragung der Vormundschaft für ein Kind im Wege der einstweiligen Anordnung ist jedoch eine vorläufige Regelung. Liegt der Bestellung des Vormunds wie hier eine nur vorläufige Entziehung der elterlichen Sorge zugrunde, teilt die Bestellung des Vormunds das rechtliche Schicksal dieser „Grundlagenentscheidung“. Jedenfalls in dem Verfahren über die endgültige Entziehung der elterlichen Sorge und der endgültigen Bestellung eines Vormunds für das Kind sind aber die berechtigten Interessen Dritter — etwa Verwandter — zu berücksichtigen. Das OLG hat in seiner Entscheidung verkannt, dass Grundlage der Vormundbestellung nur eine vorläufige Sorgerechtsentziehung ist, somit die erstmalige endgültige Bestellung eines Vormunds — noch — zu erfolgen hat und in dessen Rahmen gerade die Verwandtenstellung der Beschwerdeführer als Großeltern Berücksichtigung finden muss. Das Oberlandesgericht hat damit die Bedeutung und Tagweite der persönlichen Beziehungen der Beschwerdeführer als Großeltern zu ihrem Enkelkind verkannt, den Schutz der Familie nicht hinreichend berücksichtigt und folglich Art. 2 Abs. 1 GG verletzt.

Soweit das OLG darauf abstellt, dass über die Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführer keine gesicherten Erkenntnisse vorlägen und sich die Pflegeeltern auch vom Alter her besser als Ersatzeltern für das Kind eigneten als die Beschwerdeführer, die in einem Alter seien, dass sie nicht (mehr) für die Erziehung eine Kleinkindes prädestiniere, ist darauf hinzuweisen, dass zur Schaffung einer vollständigen Erkenntnislage bislang kein Sachverständigengutachten eingeholt worden ist und angesichts des Altersunterschieds zwischen den Beschwerdeführern und den Pflegeeltern von 2 und 3 Jahren das Argument, ihr Alter prädestiniere die Beschwerdeführer nicht mehr für die Erziehung eines Kleinkindes, wenig tragfähig erscheint.

Anmerkung

Es häufen sich die Fälle, in denen Kindeseltern nicht erziehungsfähig sind oder keine Bereitschaft zeigen bzw. außerstande sind, ihrer Elternverantwortung zu entsprechen. Insbesondere von Großeltern wird dann der Wunsch geäußert, die Betreuung und Versorgung ihres Enkelkindes zu übernehmen. Die Entscheidungspraxis der Familiengerichte war in diesen Fällen bei der Frage der Vormundsbestellung von Großeltern erkennbar restriktiv. Auffällig ist dies insbesondere in den neuen Bundesländern. In vielen Fällen wurden die Jugendämter bevorzugt. Die Unterbringung der betroffenen Kinder in Heimen oder Pflegefamilien ist hier fast die Regel.

Die jetzige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sollte allen Großeltern, aber auch sonstigen Verwandten, Mut machen, sich um die Vormundschaft zu bemühen. Der erforderliche Antrag auf Sorgerechtsentziehung kann mit dem Antrag auf Bestellung einer Vormundschaft verbunden werden. Bei der Auswahl des Vormunds sind nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sodann die Verwandten des Kindes bevorzugt zu berücksichtigen. Dem geäußerten oder mutmaßlichen Elternwunsch ist bei der Abwägung besonderes Gewicht beizumessen.

Ob die Familiengerichte im Einzelfall die notwendigen Feststellungen ohne die Einholung eines Sachverständigengutachtens bereits auf der Grundlage der Verwandtenstellung zu treffen bereit sind, bleibt abzuwarten. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dürfte jedoch geeignet sein, betroffenen Kindern zukünftig verstärkt den i.d.R. dem Kindeswohl entsprechenden Verbleib im Familienkreis zu sichern.

Praxishinweis

Scheiden die Eltern eines Kindes als Sorgeberechtigte aus, so muss es von den Großeltern — oder sonstigen Verwandten — nicht hingenommen werden, dass das ein Dritter — so auch das Jugendamt — zum Vormund bestellt wird, wie es häufige Praxis der Familiengerichte ist. Bei der Auswahl des Vormunds sind vorzugsweise Verwandte zu berücksichtigen. Dritte kommen als Vormund erst dann in Betracht, wenn kein geeigneter Verwandter oder Verschwägerter vorhanden ist, der sich für die dem Kindeswohl entsprechende Betreuung und Erziehung des Kindes eignet. Bei der Gesamtabwägung ist auch der geäußerte oder mutmaßliche Wunsch der Eltern des Kindes zu berücksichtigen.

Um zu verhindern, dass die betroffenen Kinder vorläufig in Pflegefamilien oder Heimen untergebracht werden, erscheint es empfehlenswert, den Hauptsacheantrag mit einer einstweiligen Anordnung des Inhalts zu verbinden, das vorläufige Aufenthalts- und Bestimmungsrecht im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 621g ZPO auf den antragstellenden Verwandten zu übertragen.

Weiterführende Informationen finden Sie unter www.rechtsportal.de :

Bibliothek, Prüfschemata, Familienrecht per Mausklick "Vormund oder Pfleger?“ (Schnellsuche: So/94)
Bibliothek, Prüfschemata, Familienrecht per Mausklick, "Verfahrensregeln bei Übertragung der Sorge auf Dritte“ (Schnellsuche: So/96)