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BVerfG - Entscheidung vom 24.03.2022

1 BvR 2000/21

Normen:
GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 20 Abs. 3
BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1
ZPO § 924 Abs. 1
ZPO § 935
ZPO § 936
ZPO § 937 Abs. 2
GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 20 Abs. 3
BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1
ZPO § 924 Abs. 1
ZPO § 935
ZPO § 936
ZPO § 937 Abs. 2
GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 20 Abs. 3
BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1
ZPO § 924 Abs. 1
ZPO § 935
ZPO § 936
ZPO § 937 Abs. 2

Fundstellen:
GRUR 2022, 1088
NJW 2022, 2099
WRP 2022, 975

BVerfG, Beschluss vom 24.03.2022 - Aktenzeichen 1 BvR 2000/21

DRsp Nr. 2022/7607

Ohne vorherige Anhörung erlassene einstweilige Verfügung in einem kartellrechtlichen Eilverfahren; Subsidiarität bei unterbliebenem Widerspruch gem §§ 936 , 924 Abs. 1 ZPO

Gegen eine unter Verletzung der prozessualen Waffengleichheit erlassene einstweilige Verfügung stellt der Widerspruch das fachgerichtliche Rechtsmittel dar.

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Normenkette:

GG Art. 3 Abs. 1 ; GG Art. 20 Abs. 3 ; BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1; ZPO § 924 Abs. 1 ; ZPO § 935 ; ZPO § 936 ; ZPO § 937 Abs. 2 ;

[Gründe]

I.

Der Verfassungsbeschwerde liegt ein kartellrechtliches Eilverfahren zugrunde. Die Beschwerdeführerin wendet sich unter Berufung auf ihr Recht auf prozessuale Waffengleichheit gegen eine einstweilige Verfügung, die ohne ihre Anhörung im gerichtlichen Verfahren erlassen wurde.

1. Die Beschwerdeführerin betreibt einen Online-Marktplatz. Über diese Plattform können Dritthändler im eigenen Namen und auf eigene Rechnung Produkte an ihre Endkunden vertreiben. Voraussetzung hierfür ist die Eröffnung eines Verkäuferkontos.

2. Im Juni 2021 sperrte die Beschwerdeführerin das Verkäuferkonto der Antragstellerin des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Antragstellerin) unter Hinweis darauf, dass diese in missbräuchliche Rückabwicklungen von Zahlungen zu Lasten der Beschwerdeführerin involviert sei. Nachdem ihre außergerichtliche Aufforderung, ihr Verkäuferkonto zu entsperren, erfolglos geblieben war, beantragte die Antragstellerin den Erlass einer entsprechenden einstweiligen Verfügung. Zur Begründung führte sie aus, ihr lägen keine Anhaltspunkte für die Gründe der Kontosperrung vor; insbesondere habe sie keine Kenntnis von unlauteren Verkaufsprozessen. Ihre Bemühungen, mit der Beschwerdeführerin Kontakt aufzunehmen, um die Hintergründe in Erfahrung zu bringen und auf die Vorwürfe einzugehen, seien erfolglos geblieben.

3. Vor Erlass der einstweiligen Verfügung wies der zuständige Richter den Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin in zwei Fällen auf rechtliche Bedenken hinsichtlich des Antrags hin. Daraufhin ergänzte die Antragstellerin ihren Antrag um weiteren Vortrag sowie um einen Hilfsantrag. Mit Beschluss vom 22. Juli 2021 gab das Landgericht dem Antrag ohne mündliche Verhandlung oder anderweitige Gelegenheit der Beschwerdeführerin zur Stellungnahme im Umfang des Hilfsantrags statt. Die Antragstellerin habe einen Anspruch auf Rückgängigmachung der Deaktivierung ihres Verkäuferkontos gemäß §§ 33 Abs. 1 Alternative 2, 19 Abs. 2 Nr. 1 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen ( GWB ), §§ 3 , 3a , 12 Abs. 2 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb ( UWG ) in Verbindung mit dem zwischen den Parteien geschlossenen Vertriebsvertrag. Gegen die einstweilige Verfügung legte die Beschwerdeführerin keinen Widerspruch ein.

4. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG . Das Landgericht habe bewusst ein einseitiges Geheimverfahren durchgeführt und bis zu dem Erlass des angegriffenen Beschlusses von der Gewährung rechtlichen Gehörs an die Beschwerdeführerin abgesehen.

5. Das Niedersächsische Justizministerin und die Antragstellerin hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens lagen der Kammer vor.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG für eine zwingende Annahme liegen nicht vor. Der Sache kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.

1. Zwar ist der Rechtsweg erschöpft (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ), da sich die Rüge auf eine Rechtsverletzung unmittelbar durch die Handhabung des Prozessrechts im Verfahren über den Erlass der einstweiligen Verfügung selbst bezieht.

Die insoweit geltend gemachte Grundrechtsverletzung kann vor den Fachgerichten nicht wirksam angegriffen werden. Zwar kann die einstweilige Verfügung wegen anderer Rechtsverletzungen - auch wegen Verstoßes gegen das rechtliche Gehör - fachgerichtlich angegriffen werden. Hier wendet sich die Beschwerdeführerin jedoch gegen ein ihrem Vorbringen nach bewusstes und systematisches Übergehen ihrer prozessualen Rechte. Diesbezüglich besteht kein fachgerichtlicher Rechtsbehelf. Insbesondere können eine Aufhebung der einstweiligen Verfügung oder eine einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nicht allein aufgrund des Verstoßes gegen das Recht auf prozessuale Waffengleichheit erreicht werden, wenn die einstweilige Verfügung nicht auf dem Verfahrensfehler beruht. Es besteht auch keine Möglichkeit, im Wege einer Feststellungsklage eine formelle Feststellung des Verstoßes gegen das Recht auf prozessuale Waffengleichheit durch das Fachgericht zu erreichen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 10).

Die Verfassungsbeschwerde kann damit ausnahmsweise unmittelbar gegen die einstweilige Verfügung selbst erhoben werden.

2. Dagegen wahrt die Verfassungsbeschwerde nicht den in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Subsidiarität.

a) Dieser erfordert, dass ein Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus alle nach der Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um die Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung durch die Fachgerichte zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. BVerfGE 73, 322 <325>; 81, 22 <27>; 95, 163 <171>; 140, 229 <232 f. Rn. 10>). Der Grundsatz der materiellen Subsidiarität verpflichtet einen Beschwerdeführer zwar nicht, fachgerichtlichen Rechtsschutz zu suchen, wenn dieser offensichtlich aussichtslos wäre (vgl. BVerfGE 55, 154 <157>; 102, 197 <208>; 150, 309 <327 f. Rn. 45>). Er greift aber ein, wenn eine anderweitige Möglichkeit besteht, den geltend gemachten Grundrechtsverstoß zu beseitigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Januar 2022 - 2 BvR 75/22 -, Rn. 8).

b) Eine solche Möglichkeit bestand hier im Wege der Einlegung eines Widerspruchs gegen die einstweilige Verfügung gemäß §§ 936 , 924 Abs. 1 ZPO .

aa) Für den Fall, dass die einstweilige Verfügung auf der Verletzung des Rechts auf prozessuale Waffengleichheit beruht, so dass bei einer frühzeitigen Beteiligung des Antragsgegners im gerichtlichen Verfahren die einstweilige Verfügung nicht oder jedenfalls nicht so erlassen worden wäre, eröffnet das Widerspruchsverfahren die Möglichkeit einer fachgerichtlichen Korrektur der aufgrund der Verletzung der prozessualen Waffengleichheit ergangenen Entscheidung für die Zukunft.

Durch die erstmalige Berücksichtigung des Vorbringens des Antragsgegners im Widerspruchsverfahren wird die Verletzung des Rechts auf prozessuale Waffengleichheit zwar nicht beseitigt. Denn der Mangel, der in der fehlenden Beteiligung des Antragsgegners im einstweiligen Verfügungsverfahren besteht, kann im Unterschied zu einer (reinen) Verletzung rechtlichen Gehörs (vgl. BVerfGE 107, 395 <412>) gerade nicht mehr beseitigt werden. Räumt das Fachgericht den error in procedendo auf den Widerspruch hin jedoch ein und hebt die einstweilige Verfügung aufgrund des Vorbringens des Antragsgegners auf, wird die fehlerhafte Handhabung des Prozessrechts damit festgestellt, so dass je nach den konkreten Umständen des Einzelfalls die Intensität der erlittenen Grundrechtsverletzung gemindert sein kann. Das gilt jedenfalls dann, wenn über den Widerspruch zeitnah nach Erlass der einstweiligen Verfügung verhandelt und entschieden wird.

bb) Selbst wenn aber die einstweilige Verfügung auch nach der im Widerspruchsverfahren nachgeholten Beteiligung des Antragsgegners im fachgerichtlichen Verfahren Bestand haben sollte, eröffnet die Entscheidung über den Widerspruch dem Fachgericht jedenfalls die Möglichkeit, wenn auch nicht formell, so doch in den Gründen der Entscheidung den error in procedendo einzuräumen. Damit könnte es dem mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Interesse an der Feststellung der Verletzung des Rechts auf prozessuale Waffengleichheit in der Sache Rechnung tragen. Legt der Antragsgegner gegen die unter Verletzung der prozessualen Waffengleichheit erlassene einstweilige Verfügung hingegen keinen Widerspruch ein, hat er damit regelmäßig nicht alle Möglichkeiten genutzt, eine solche Feststellung durch die Fachgerichte zu erwirken.

cc) Räumt das Fachgericht im Rahmen der Entscheidung über den Widerspruch den error in procedendo ein, wird in der Regel auch keine Wiederholungsgefahr mehr gegeben sein. Denn es darf angenommen werden, dass ein Fachgericht einen einmal als solchen erkannten Verstoß gegen das Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG in der Zukunft vermeiden wird. Dies schließt nicht aus, dass umgekehrt in Fällen, in denen ein Fachgericht wiederholt das Recht auf prozessuale Waffengleichheit im einstweiligen Verfügungsverfahren verletzt, obwohl es zuvor in einem vergleichbaren Fall den error in procedendo eingeräumt hatte, ein hinreichend gewichtiges Interesse an der bundesverfassungsgerichtlichen Feststellung des Verstoßes gegeben sein kann. In einem solchen Fall wird regelmäßig ein bewusstes und systematisches Übergehen der prozessualen Rechte des Antragsgegners im einstweiligen Verfügungsverfahren vorliegen, das die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen die einstweilige Verfügung selbst ermöglicht (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. Dezember 2021 - 1 BvR 2708/19 -, Rn. 18).

3. Im Übrigen fehlt es hier an einem Feststellungsinteresse bereits deswegen, weil weder vorgetragen noch ersichtlich ist, dass das Landgericht zukünftig generell das Recht der Beschwerdeführerin auf prozessuale Waffengleichheit nicht beachten wird. Die Feststellung von Verstößen gegen das Prozessrecht im Einzelfall ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 27. Juli 2020 - 1 BvR 1379/20 -, Rn. 10; vom 23. September 2020 - 1 BvR 1617/20 -, Rn. 6; vom 4. Februar 2021 - 1 BvR 2743/19 -, Rn. 17 und vom 1. Dezember 2021 - 1 BvR 2708/19 -, Rn. 21 m.w.N.).

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Vorinstanz: LG Hannover, vom 22.07.2021 - Vorinstanzaktenzeichen 25 O 221/21
Fundstellen
GRUR 2022, 1088
NJW 2022, 2099
WRP 2022, 975