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BGH - Entscheidung vom 23.03.2021

XIII ZB 141/19

Normen:
AufenthG § 15 Abs. 5
Dublin-III-VO Art. 2 Buchst. n)
Dublin-III-VO Art. 28 Abs. 2

BGH, Beschluss vom 23.03.2021 - Aktenzeichen XIII ZB 141/19

DRsp Nr. 2021/7494

Rechtmäßigkeit der Anordnung von Zurückweisungshaft gegen eine nigerianische Staatsangehörige wegen Nichtnotwendigkeit eines Haftgrundes sowie des Bestehens von Fluchtgefahr

Haft nach § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG kann auch zur Sicherung einer Zurückweisung an einer Binnengrenze der Europäischen Union angeordnet werden, wenn bei einer geplanten Überstellung in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union zusätzlich zu den in § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG genannten Voraussetzungen der Haftgrund der (erheblichen) Fluchtgefahr nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO i.V.m. § 2 Abs. 14 , § 62 Abs. 3a und 3b AufenthG vorliegt.

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 2. Zivilkammer des Landgerichts Ingolstadt vom 2. Oktober 2019 wird auf Kosten der Betroffenen mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass Dolmetscherkosten nicht erhoben werden.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Normenkette:

AufenthG § 15 Abs. 5 ; Dublin-III-VO Art. 2 Buchst. n); Dublin-III-VO Art. 28 Abs. 2;

Gründe

I. Die Betroffene, eine nigerianische Staatsangehörige, reiste am 11. Januar 2019 mit einem Fernreisezug von Österreich nach Deutschland. In Höhe von Oberaudorf wurde sie durch die Beamten der Bundespolizei im Zug kontrolliert und konnte keine gültigen Einreisedokumente vorweisen. Die beteiligte Behörde erteilte ihr daraufhin mit Bescheid vom 12. Januar 2019 eine Zurückweisung nach § 15 Abs. 1 AufenthG .

Nach Anordnung einer vorläufigen Freiheitsentziehung hat das Amtsgericht auf Antrag der beteiligten Behörde am 1. Februar 2019 Haft zur Sicherung der Zurückweisung bis zum 12. Februar 2019 angeordnet. Nach weiterer Verlängerung der Haft am 8. Februar 2019 wurde die Betroffene am 21. Februar 2019 nach Italien überstellt. Die auf Feststellung ihrer Rechtsverletzung durch den Beschluss vom 1. Februar 2019 gerichtete Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Dagegen wendet sich die Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.

II. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.

1. Das Beschwerdegericht hält die nach § 15 Abs. 5 AufenthG angeordnete Haft für rechtmäßig. Unabhängig davon, dass die Anordnung von Zurückweisungshaft keinen Haftgrund voraussetze, habe Fluchtgefahr gemäß Art. 28 Abs. 2, Art. 2 Buchst. n der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (im Folgenden: Dublin-III-VO) bestanden. Die Betroffene habe sich dem behördlichen Zugriff durch Untertauchen entzogen, indem sie Italien während des laufenden Asylverfahrens verlassen habe, ohne ihren Aufenthaltsort mitzuteilen. Ferner habe sie keine Ausweisdokumente beantragt und hierdurch ihrer möglichen Rückführung aktiv entgegengewirkt. Schließlich habe die Betroffene durch ihre Erklärung, unbedingt in Deutschland bleiben zu wollen, zum Ausdruck gebracht, nicht nach Italien zurückkehren zu wollen.

2. Dies hält der rechtlichen Überprüfung im Ergebnis stand.

a) Wie der Senat bereits entschieden hat (Beschluss vom 15. Dezember 2020 - XIII ZB 133/19, juris Rn. 9), kann Haft nach § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG auch zur Sicherung einer Zurückweisung an einer Binnengrenze der Europäischen Union angeordnet werden, wenn bei einer geplanten Überstellung in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union zusätzlich zu den in § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG genannten Voraussetzungen der Haftgrund der (erheblichen) Fluchtgefahr nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO i.V.m. § 2 Abs. 14 , § 62 Abs. 3a und 3b AufenthG (bzw. in Altfällen wie hier i.V.m. § 2 Abs. 15 Satz 1 und 2 , § 2 Abs. 14 AufenthG in der bis zum 20. August 2019 gültigen Fassung, fortan: aF) vorliegt.

b) Danach erweist sich die Haftanordnung als rechtmäßig.

aa) Die materiell-rechtliche Grundlage für die nach § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG anzuordnende Sicherungshaft besteht in einer der Betroffenen mit Bescheid vom 12. Januar 2019 erteilten Zurückweisung nach § 15 Abs. 1 , Abs. 2 Nr. 3 AufenthG . Von der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung haben die Haftgerichte auszugehen.

(1) Zwar bestand im Zeitpunkt und am Ort der Kontrolle der Betroffenen keine nach Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. c Schengener Grenzkodex und § 13 AufenthG in Verbindung mit § 61 Abs. 1 BPolG zugelassene Grenzübergangsstelle, weswegen die Betroffene mit Überschreiten der Grenze nach Art. 22 Schengener Grenzkodex, § 13 Abs. 2 Satz 3 AufenthG eingereist war (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Februar 2020 - XIII ZB 65/19, InfAuslR 2020, 385 Rn. 12). Dem steht nicht entgegen, dass bei Kontrollen in einem fahrenden Zug nach Nr. 13.2.7 Satz 1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz (vom 26. Oktober 2009, GMBl. S. 878) eine Einreise erst dann erfolgt, wenn sich der Zug auf deutschem Hoheitsgebiet befindet, die grenzpolizeiliche Kontrolle im Zug beendet wurde und die Kontrollbeamten den Zug verlassen haben. Denn diese Vorschrift hat keine Rechtsnormqualität. Sie stellt lediglich eine verwaltungsinterne Richtlinie zur Anwendung des § 13 Abs. 2 AufenthG dar (vgl. BVerwG, NVwZ 2015, 827 Rn. 24). Soweit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Juni 2017 - V ZB 127/16, InfAuslR 2017, 345 Rn. 11) etwas anders zu entnehmen sein sollte, hat der nunmehr zuständige XIII. Zivilsenat bereits klargestellt, dass er daran nicht mehr festhält (BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2020 - XIII ZB 28/20, juris Rn. 10).

(2) Allerdings ist es nach der Aufgabenverteilung zwischen der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der ordentlichen Gerichtsbarkeit, von Fällen offensichtlicher Unrichtigkeit abgesehen, allein Aufgabe der Verwaltungsgerichte, die Rechtmäßigkeit einer Zurückweisung nach § 15 Abs. 1 bis 4 AufenthG oder einer Einreiseverweigerung nach § 18 Abs. 2 AsylG zu überprüfen. Die Haftgerichte haben deshalb vorbehaltlich abweichender - hier nicht gegebener - verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen von der Rechtmäßigkeit der Zurückweisung oder Einreiseverweigerung auszugehen (BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2020 - XIII ZB 28/20, juris Rn. 10).

bb) Die in den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen rechtfertigen auch die Annahme einer erheblichen Fluchtgefahr im Sinne von Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO i.V.m. § 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG aF (= heute § 2 Abs. 14 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nF).

(1) Nach § 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG aF kann ein Anhaltspunkt für das Vorliegen von erheblicher Fluchtgefahr im Sinne von Art. 28 Abs. 2, Art. 2 Buchst. n Dublin-III-VO auch gegeben sein, wenn der Ausländer einen Mitgliedstaat vor Abschluss eines dort laufenden Verfahrens zur Zuständigkeitsbestimmung oder zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz verlassen hat und die Umstände der Feststellung im Bundesgebiet konkret darauf hindeuten, dass er den zuständigen Mitgliedstaat in absehbarer Zeit nicht aufsuchen will. Diese Voraussetzungen liegen vor.

(a) Das Beschwerdegericht hat - von der Rechtsbeschwerde unbeanstandet - festgestellt, dass die Betroffene den Erstaufnahmestaat Italien trotz des noch laufenden Asylverfahrens verlassen hat, ohne ihren Aufenthaltsort den italienischen Behörden mitzuteilen. Dem steht nicht entgegen, dass der Asylantrag der Betroffenen nach den Ermittlungen der beteiligen Behörde "nicht anerkannt" wurde. Denn es ist nicht festgestellt, dass das Asylverfahren der Betroffenen beendet wurde. Das Beschwerdegericht hat lediglich festgestellt, dass für die Betroffene ein Treffer im Eurodac-Register für Italien am 26. Oktober 2016 ermittelt wurde. Zudem hat die Betroffene sowohl gegenüber der beteiligten Behörde als auch im Rahmen der ersten gerichtlichen Anhörung angegeben, dass sie in Italien Asyl beantragt habe, ihr Antrag aber noch nicht bearbeitet worden sei. Vor diesem Hintergrund durfte das Beschwerdegericht davon ausgehen, dass das Verfahren der Betroffenen in Italien noch nicht abgeschlossen war, als sie das Land verließ.

(b) Nicht zu prüfen brauchte das Beschwerdegericht, ob die Betroffene von den italienischen Behörden darüber belehrt wurde, dass sie vor Abschluss des Verfahrens im Erstaufnahmestaat nicht in einen anderen Mitgliedstaat reisen darf. Die Vorschrift des § 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG aF setzt eine solche Belehrung nicht voraus (BGH, Beschluss vom 11. Januar 2018 - V ZB 28/17, InfAuslR 2018, 184 Rn. 16 ff.).

(c) Die Rechtsbeschwerde weist zutreffend darauf hin, dass das Verlassen des Erstaufnahmestaats trotz laufenden Asylverfahrens für sich genommen lediglich ein Indiz dafür darstellt, dass im konkreten Fall Fluchtgefahr besteht. Welches Gewicht diesem Indiz zukommt und ob tatsächlich von einer Fluchtgefahr ausgegangen werden kann, ist aufgrund einer Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Januar 2018 - V ZB 53/17, FGPrax 2018, 135 Rn. 9 mwN). Eine solche Gesamtbetrachtung hat das Beschwerdegericht zwar nicht ausdrücklich vorgenommen; sie ist dem Zusammenhang seiner Ausführungen aber mit noch ausreichender Deutlichkeit zu entnehmen.

Das Beschwerdegericht hat aus dem Umstand, dass die Betroffene Italien trotz laufenden Verfahrens verlassen hat, ohne ihren Aufenthaltsort kundzutun, sowie dem Umstand, dass die Betroffene durch die österreichischen Behörden auf die italienische Zuständigkeit sowohl für sie selbst als auch für ihren Ehemann hingewiesen worden sei, den möglichen und daher im Rechtsbeschwerdeverfahren hinzunehmenden Schluss gezogen, dass die Betroffene sich behördlichen Zugriffen entziehen werde. Schließlich hat das Beschwerdegericht die Erklärung der Betroffenen, sich für Rückführmaßnahmen zur Verfügung zu halten, für unglaubhaft ("unglaubwürdig") gehalten, und in diesem Zusammenhang angeführt, dass die Betroffene erklärt habe, unbedingt in Deutschland bleiben zu wollen. Dabei hat es erkennbar auf die bei der polizeilichen Vernehmung und die bei der amtsgerichtlichen Anhörung protokollierte Erklärung der Betroffenen Bezug genommen, wenn sie nach Italien zurück müsse, dann nur zusammen mit ihrem Ehemann; sie möchte aber auch wegen ihrer Schwangerschaft in Deutschland bleiben und nicht nach Italien zurück und ebenso wenig nach Nigeria. Damit hat das Beschwerdegericht die Gesichtspunkte berücksichtigt, die nach Lage des Falles zu berücksichtigen waren. Die Rechtsbeschwerde unternimmt demgegenüber den unzulässigen Versuch, die tatrichterliche Würdigung durch eine andere, ihr vorzugswürdig erscheinende Bewertung des festgestellten Sachverhalts zu ersetzen.

(2) Der Berücksichtigung des Haftgrundes des Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO i.V.m. § 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG aF stehen keine verfahrensrechtlichen Hindernisse entgegen. Die Überstellungshaft darf zwar durch das Beschwerdegericht nicht ohne erneute persönliche Anhörung auf einen neuen Haftgrund gestützt werden. Weil es sich bei Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO jedoch um einen einheitlichen Haftgrund handelt, muss das Beschwerdegericht den Betroffenen grundsätzlich nicht erneut anhören, wenn es die angeordnete Sicherungshaft auf einen anderen der in § 2 Abs. 15 Satz 1 i.V.m. Abs. 14 oder Abs. 15 Satz 2 AufenthG aF festgelegten Anhaltspunkte für Fluchtgefahr stützen will. Anders verhält es sich nur, wenn dabei ein neuer Sachverhalt eingeführt wird, zu dem sich der Betroffene noch nicht persönlich äußern konnte (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Januar 2018 - V ZB 28/17, InfAuslR 2018, 184 Rn. 10; Beschluss vom 23. Januar 2018 - V ZB 53/17, FGPrax 2018, 135 Rn. 13). Da der Haftantrag von Anfang an auf den Anhaltspunkt für Fluchtgefahr nach § 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG aF gestützt war und die Betroffene hierzu vom Amtsgericht persönlich angehört wurde, war eine erneute Anhörung entbehrlich.

3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.

Vorinstanz: AG Ingolstadt, vom 01.02.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 7 XIV 34/19
Vorinstanz: LG Ingolstadt, vom 02.10.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 22 T 1802/19