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BGH - Entscheidung vom 12.05.2020

X ZR 82/18

Normen:
PatG § 1
PatG § 3

BGH, Urteil vom 12.05.2020 - Aktenzeichen X ZR 82/18

DRsp Nr. 2020/10732

Patentfähigkeit des Streitpatents mit der Bezeichnung "Spiegelersatzsystem für Nutzfahrzeuge"

Tenor

Die Berufung gegen das Urteil des 7. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts vom 1. März 2018 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

Normenkette:

PatG § 1 ; PatG § 3 ;

Tatbestand

Die Beklagte ist Inhaberin des deutschen Patents 10 2011 010 624 (Streitpatent), das am 8. Februar 2011 angemeldet wurde. Patentanspruch 1, auf den 31 weitere Ansprüche zurückbezogen sind, lautet:

Anzeigeeinrichtung (100) für gesetzlich vorgeschriebene Sichtfelder (210, 220, 230, 235, 240, 250) eines Nutzfahrzeugs in einem Fahrerhaus des Nutzfahrzeugs, enthaltend mindestens eine Anzeigeeinheit (110), wobei die Anzeigeeinrichtung (100) dazu angepasst ist, mindestens zwei der im Fahrbetrieb zur permanenten Anzeige gesetzlich vorgeschriebenen Sichtfelder (210, 220, 230, 235, 240, 250) dauerhaft und in Echtzeit auf der Anzeigeeinheit (110) im Fahrerhaus anzuzeigen, wobei die mindestens zwei Sichtfelder (210, 220, 230, 235, 240, 250) in einer gemeinsamen Darstellung gezeigt werden.

Die Klägerinnen haben geltend gemacht, der Gegenstand des Streitpatents sei nicht patentfähig. Die Beklagte hat das Streitpatent in der erteilten Fassung und mit zwei Hilfsanträgen verteidigt.

Das Patentgericht hat das Streitpatent für nichtig erklärt. Mit ihrer dagegen gerichteten Berufung, deren Zurückweisung die Klägerinnen beantragen, verfolgt die Beklagte ihr erstinstanzliches Begehren weiter.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

I. Das Streitpatent betrifft ein Spiegelersatzsystem für Nutzfahrzeuge.

1. Nach den Ausführungen in der Streitpatentschrift mussten Nutzfahrzeuge im Stand der Technik zwei Hauptspiegel aufweisen, mit denen ein Streifen von geringer Breite einsehbar ist, der kurz hinter den Augenpunkten des Fahrzeugführers beginnt. Weiterhin mussten beidseitig Weitwinkelspiegel vorhanden sein, die einen breiteren Bereich erfassen. Bei einigen Nutzfahrzeugen wurden daneben Nahbereichs-, Anfahr- und Frontspiegel verlangt.

Trotz dieser vorgeschriebenen Spiegel oder Einrichtungen für indirekte Sicht sei es für einen Fahrzeugführer sehr schwierig, die unfallkritischen Bereiche jederzeit vollständig und ausreichend im Auge zu behalten. Eine Vielzahl von Spiegeln erhöhe sogar die Anforderungen an den Fahrer. Zudem beeinflussten Spiegel die Luftumströmung des Fahrzeugs in einer für den Kraftstoffverbrauch ungünstigen Weise.

2. Das Streitpatent betrifft vor diesem Hintergrund das technische Problem, eine Anzeigeeinrichtung für Nutzfahrzeuge zur Verfügung zu stellen, mit der der Fahrer die einzusehenden Sichtfelder übersichtlich und einfach beobachten kann und die nur geringen Einfluss auf die Umströmung des Fahrzeugs hat.

3. Zur Lösung schlägt Patentanspruch 1 eine Vorrichtung vor, deren Merkmale sich wie folgt gliedern lassen [die Nummerierung wurde an diejenige aus dem Verfahren X ZR 83/18 angeglichen]:

1.  Anzeigeeinrichtung (100) für gesetzlich vorgeschriebene Sichtfelder (210, 220, 230, 235, 240, 250) eines Nutzfahrzeugs in einem Fahrerhaus des Nutzfahrzeugs, enthaltend 
4.  mindestens eine Anzeigeeinheit (110). 
5.  Die Anzeigeeinrichtung (100) ist dazu angepasst, mindestens zwei der im Fahrbetrieb zur permanenten Anzeige gesetzlich vorgeschriebenen Sichtfelder (210, 220, 230, 235, 240, 250) dauerhaft und in Echtzeit auf der Anzeigeeinheit (110) im Fahrerhaus anzuzeigen. 
6.  Die mindestens zwei Sichtfelder werden in einer gemeinsamen Darstellung gezeigt. 

4. Zur Definition des Fachmanns und zur Auslegung der Merkmale nimmt der Senat Bezug auf die Ausführungen in seinem am gleichen Tag ergangenen Urteil in dem Verfahren X ZR 83/18. Dieses betrifft das europäische Patent 2 484 558, das die Priorität des Streitpatents in Anspruch nimmt.

II. Das Patentgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

Der Gegenstand von Patentanspruch 1 sei in der Regelung Nr. 46 der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UN/ECE, ABl. EU 2010 L 177 S. 211, NK3) vollständig offenbart. Unter Nr. 15.2.2.2.1 sei eine gemeinsame Darstellung von zwei gesetzlichen Sichtfeldern, nämlich diejenigen eines Frontspiegels und eines Nahbereichsspiegels vorgesehen. Unabhängig davon sei der Gegenstand durch die deutsche Offenlegungsschrift 199 00 498 (NK4) sowie die US-Patentschrift 5 670 935 (NK6) und die im Wesentlichen inhaltsgleiche Übersetzung des europäischen Patents 830 267 (DE 696 18 192 T3, NK7) nahegelegt. Letzteres gelte auch für die mit den Hilfsanträgen verteidigten Gegenstände.

III. Dies hält der Nachprüfung im Berufungsverfahren stand.

Auch insoweit nimmt der Senat Bezug auf seine Ausführungen im Verfahren X ZR 83/18. Der Gegenstand des dort zu beurteilenden europäischen Patents 2 484 558 ist enger als derjenige des Streitpatents und ebenfalls nicht patentfähig.

IV. Die Verteidigung des Streitpatents mit den Hilfsanträgen hat ebenfalls keinen Erfolg.

1. Die nach den Hilfsanträgen I und II zusätzlich vorgesehenen Merkmale entsprechen den Merkmalen nach den Hilfsanträgen I und III im Verfahren X ZR 83/18. Auch insoweit gelten die Ausführungen in dem dort ergangenen Urteil entsprechend.

2. Die gesondert verteidigte Merkmalskombination aus den Patentansprüchen 1, 2, 23 und 25 ist ebenfalls nicht patentfähig.

a) Der verteidigte Gegenstand enthält im Vergleich zu Patentanspruch 1 folgende zusätzliche Merkmale:

2.  Die Anzeigeeinrichtung (100) enthält mindestens eine Aufnahmeeinheit (130) zur Aufnahme von Sichtfeldinformationen [Patentanspruch 23]. 
2.1  Die Auflösung der mindestens einen Aufnahmeeinheit (130) ist größer als die Auflösung der mindestens einen Anzeigeeinheit (110) [Unteranspruch 25]. 
7.3  Die gesetzlich vorgeschriebenen Sichtfelder (210, 220, 230, 235, 240, 250), die in der gemeinsamen Darstellung angezeigt werden, beinhalten das Sichtfeld (210, 230) eines Hauptspiegels und das Sichtfeld (220, 235) eines Weitwinkelspiegels [Unteranspruch 2]. 

b) Dieser Gegenstand ist ausgehend von NK4 ebenfalls nahegelegt.

aa) Die Merkmale 2 und 7.3 sind auch in Patentanspruch 1 des europäischen Patents 2 484 558 vorgesehen. Für sie gelten die Ausführungen im Verfahren X ZR 83/18 entsprechend.

bb) Die zusätzliche Ausgestaltung entsprechend Merkmal 2.1 beruht nach den Feststellungen des Patentgerichts auf Überlegungen rein fachmännischer Art. Konkrete Anhaltspunkte, die Zweifel an der Vollständigkeit und Richtigkeit dieser Feststellungen begründen, zeigt die Berufung nicht auf.

3. Die zusätzliche Einbeziehung von Patentanspruch 24 führt nicht zu einer abweichenden Beurteilung.

a) Patentanspruch 24 sieht zusätzlich vor, dass mehrere Aufnahmeeinheiten (130) vorgesehen sind und die Anzahl der Aufnahmeeinheiten größer ist als die Anzahl der Anzeigeeinheiten (110).

b) Dieses Merkmal ist in NK4 offenbart. Dort werden die Bilder von zwei Kameras nebeneinander auf einem Monitor angezeigt.

4. Für die Merkmalskombination aus den Patentansprüchen 1, 2, 23 und 26 ergibt sich keine abweichende Beurteilung.

a) Patentanspruch 26 sieht zusätzlich vor, dass die Auflösung mindestens einer der Aufnahmeeinheiten (130), vorzugsweise derjenigen für das Sichtfeld (210, 230) eines Hauptspiegels, mindestens 2 Megapixel beträgt.

b) Nach den Feststellungen des Patentgerichts geht diese Ausgestaltung über das fachübliche Wissen und Können ebenfalls nicht hinaus. Auch insoweit zeigt die Berufung keine Anhaltspunkte auf, die Zweifel an der Vollständigkeit und Richtigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen begründen.

5. Die gesondert verteidigte Merkmalskombination aus den Patentansprüchen 1, 2, 23 und 11 ist ebenfalls nicht patentfähig.

a) Patentanspruch 11 sieht ergänzend vor, dass die Anzeigeeinrichtung (100) angepasst ist, die Sichtfelder (210, 220, 230, 235, 240, 250) an sich verändernder Position und/oder mit sich verändernder Größe auf der Anzeigeeinheit (110) dauerhaft darzustellen.

b) Eine solche Ausgestaltung war, wie das Patentgericht zutreffend ausgeführt hat, ausgehend von NK4 durch NK7 nahegelegt.

NK7 offenbart eine Darstellung, in der der Abstand zwischen den Grenzen (50, 52), die die drei dargestellten Bildabschnitte (44, 48 und 46) voneinander trennen, in Abhängigkeit von der Fahrzeuggeschwindigkeit variiert wird (Abs. 43). Hieraus ergab sich für den Fachmann die Anregung, die Größe der Darstellung in Abhängigkeit von der Fahrzeuggeschwindigkeit zu variieren.

Dass NK7 kein gesetzlich vorgeschriebenes Sichtfeld betrifft, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Anlass zur Einbeziehung solcher Sichtfelder ergab sich aus NK4. Ausgehend davon hatte der Fachmann Anlass, die in NK7 offenbarte besondere Darstellung auch für diese Sichtfelder in Betracht zu ziehen.

6. Die zusätzlichen Merkmale des erstmals in der Berufungsinstanz selbständig verteidigten Patentanspruchs 29 entsprechen denjenigen von Anspruch 13 des europäischen Patents 2 484 558. Insoweit gelten die Ausführungen im Verfahren X ZR 83/18 wiederum entsprechend.

V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG und § 97 Abs. 1 ZPO .

Von Rechts wegen

Verkündet am: 12. Mai 2020

Vorinstanz: BPatG, vom 01.03.2018 - Vorinstanzaktenzeichen 7 Ni 13/16