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BSG - Entscheidung vom 30.07.2019

B 1 KR 90/18 B

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1
BGB § 242

BSG, Beschluss vom 30.07.2019 - Aktenzeichen B 1 KR 90/18 B

DRsp Nr. 2019/13131

Grundsatzrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren Erreichen einer bestimmten Lebensaltersgrenze von Patienten als Voraussetzung einer geriatrischen frührehabilitativen Komplexbehandlung Erstattungsforderung einer Krankenkasse gegen ein Krankenhaus Voraussetzungen einer Anspruchsverwirkung

1. In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, unter welchen Voraussetzungen sich ein Krankenhaus gegenüber einer Erstattungsforderung der Krankenkasse auf Verwirkung berufen kann.2. Das Rechtsinstitut der Verwirkung als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben greift innerhalb der kurzen vierjährigen Verjährungsfrist grundsätzlich nicht und findet nur in besonderen, engen Ausnahmekonstellationen Anwendung.3. Bloßer Zeitablauf führt grundsätzlich nicht zu einer Verwirkung; ein Nichtstun, also Unterlassen, kann ein schutzwürdiges Vertrauen in Ausnahmefällen allenfalls dann begründen und zur Verwirkung des Rechts führen, wenn der Schuldner dieses als bewusst und planmäßig erachten darf.

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. September 2018 wird als unzulässig verworfen.

Die Beklagte trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 897 Euro festgesetzt.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1 ; BGB § 242 ;

Gründe:

I

Die Beklagte, Trägerin eines für die Behandlung Versicherter zugelassenen Krankenhauses, behandelte die bei der klagenden Krankenkasse (KK) versicherte, seinerzeit 59 Jahre alte S. (im Folgenden: Versicherte) in ihrer Abteilung für Akutgeriatrie und Frührehabilitation stationär (19.9. bis 5.10.2011). Sie kodierte die Prozedur nach dem 2011 geltenden Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) 8-550.1 (geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung, mindestens 14 Behandlungstage und 20 Therapieeinheiten) und berechnete hierfür ausgehend von der Fallpauschale (Diagnosis Related Group [DRG]) G52Z (geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung bei Krankheiten und Störungen der Verdauungsorgane) 5112,20 Euro. Die Klägerin beglich zunächst die Rechnung, forderte sodann aber vergeblich 897,07 Euro zurück, gestützt auf die Entscheidung des erkennenden Senats vom 23.6.2015 ( BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 46). Die nachfolgende Klage hat das SG abgewiesen. Das LSG hat auf die Berufung der Klägerin das Urteil des SG geändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin 897,07 Euro nebst Zinsen zu zahlen. Die Klägerin habe Anspruch auf Rückzahlung des geltend gemachten (Differenz-)Betrages, da die Beklagte die stationäre Behandlung der Versicherten zu Unrecht aufgrund des OPS-Kodes 8-550.1 und der DRG G52Z abgerechnet und vergütet erhalten habe. Die Anforderungen an eine geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung seien nicht erfüllt; die Versicherte sei nicht als geriatrische Patientin im Sinne der Abrechnungsvorschriften einzustufen, weil sie die als Mindestanforderung anzusehende Altersgrenze von 60 Jahren unterschreite. Unabhängig davon sei die geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung auch deswegen nicht zu kodieren, weil die Versicherte nicht aufgrund einer geriatrietypischen Hauptdiagnose behandelt worden sei, sondern wegen (chronischer) Pankreatitis (Urteil vom 20.9.2018).

Die Beklagte wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.

II

Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 S 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung des geltend gemachten Revisionszulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG ).

1. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG ) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Die Beklagte richtet ihr Vorbringen hieran nicht aus.

a) Soweit die Beklagte als Rechtsfrage formuliert,

"Ist eine Krankenkasse, die in der Vergangenheit zu keinem Zeitpunkt gegenüber dem Krankenhaus das Erreichen einer bestimmten Lebensaltersgrenze von Patienten als Voraussetzung einer geriatrischen frührehabilitativen Komplexbehandlung verlangt hat, berechtigt, nach Bekanntwerden eines erstmals eine Altersgrenze bestimmenden höchstrichterlichen Urteils, rückwirkend für vier Jahre geleistete Vergütungen für die Komplexbehandlung von einem gutgläubigen Krankenhaus in voller Höhe zurückzuverlangen?",

lässt der Senat offen, ob die Beklagte damit überhaupt eine Rechtsfrage in gehöriger Form bezeichnet.

Denn die Beklagte legt zum einen die Entscheidungserheblichkeit der aufgeworfenen Frage nicht dar. Sie verdeutlicht nicht, wieso sich das BSG in einem Revisionsverfahren mit dieser Frage überhaupt auseinandersetzen müsste: Werden von einem Gericht mehrere selbstständige Begründungen gegeben, die den Urteilsausspruch schon jeweils für sich genommen tragen, muss der Beschwerdeführer in der Beschwerde für jede der Begründungen einen Revisionszulassungsgrund darlegen (stRspr, vgl zB BSG Beschluss vom 25.4.2006 - B 1 KR 97/05 B - Juris RdNr 5 mwN). Daran fehlt es. Die Beklagte geht nicht darauf ein, dass das LSG den Anspruch der Klägerin auch darauf gestützt hat, dass die geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung auch deswegen nicht zu kodieren gewesen sei, weil die Versicherte nicht aufgrund einer geriatrietypischen Hauptdiagnose behandelt worden sei. Für diese den Urteilsspruch eigenständig tragende Begründung legt die Beklagte keine Revisionszulassungsgründe dar.

Zum anderen legt die Beklagte nicht dar, wieso die von ihr aufgeworfene Frage überhaupt klärungsbedürftig ist. Das Bedürfnis für die Klärung einer Rechtsfrage in einem Revisionsverfahren fehlt, wenn ihre Beantwortung nach der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rspr keinem vernünftigen Zweifel unterliegt, die Frage also "geklärt" ist (vgl zB BSG Beschluss vom 21.10.2010 - B 1 KR 96/10 B - RdNr 7 mwN). Dies gilt auch für die letztlich von der Beklagten aufgeworfene Frage, unter welchen Voraussetzungen Einwendungen und Einreden gegen Erstattungsforderungen von KKn begründet sind.

Soweit sich die Beklagte auf Gründe des Vertrauensschutzes sowie den Grundsatz von Treu und Glauben beruft, hat der erkennende Senat in einer Vielzahl von Entscheidungen die Voraussetzungen präzisiert, deren Vorliegen Krankenhäuser dazu berechtigt, Erstattungsforderungen von KKn entgegenzutreten.

So ist in der Rspr des Senats insbesondere geklärt, unter welchen Voraussetzungen sich ein Krankenhaus gegenüber einer Erstattungsforderung der KK auf Verwirkung berufen kann: Danach passt das Rechtsinstitut der Verwirkung als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB ) innerhalb der kurzen vierjährigen Verjährungsfrist grundsätzlich nicht und findet deshalb nur in besonderen, engen Ausnahmekonstellationen Anwendung (vgl BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 4 RdNr 15; BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37 mwN; BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 10 RdNr 23; BSGE 119, 150 = SozR 4-5560 § 17c Nr 3, RdNr 45). Der bloße Zeitablauf stellt kein die Verwirkung begründendes Verhalten dar (vgl BSGE 119, 150 = SozR 4-5560 § 17c Nr 3, RdNr 48; BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 10 RdNr 25; BSG SozR 4-7610 § 242 Nr 8 RdNr 19). Nichtstun, also Unterlassen, kann ein schutzwürdiges Vertrauen in Ausnahmefällen allenfalls dann begründen und zur Verwirkung des Rechts führen, wenn der Schuldner dieses als bewusst und planmäßig erachten darf (vgl BSGE 119, 150 = SozR 4-5560 § 17c Nr 3, RdNr 48; BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 10 RdNr 25 mwN).

Die Verwirkung setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts dem Verpflichteten gegenüber nach Treu und Glauben als illoyal erscheinen lassen. Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (stRspr; vgl zB BSGE 119, 150 = SozR 4-5560 § 17c Nr 3, RdNr 46; BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37).

Die Beklagte hätte sich deshalb in der Beschwerdebegründung näher damit auseinandersetzen müssen, wieso unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rspr noch Klärungsbedarf verblieben ist. Die Beschwerdebegründung genügt diesen Anforderungen nicht. Die Beklagte legt nicht dar, aus welchen Gründen bzw zu welchen Gesichtspunkten diese Rspr der Ergänzung bedürfte. Vielmehr kritisiert sie im Ergebnis lediglich die rechtliche Würdigung des Berufungsgerichts.

Soweit die Beklagte geltend macht, vor der Entscheidung des erkennenden Senats vom 23.6.2015 ( BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 46) sei niemand ernsthaft von einer fixen Altersgrenze ausgegangen, sodass insofern dieser Rspr rechtsetzender Charakter und gesetzesgleiche Rückwirkung zukomme, legt sie schon nicht dar, welchen rechtlichen Grundsätzen sie die geltend gemachte "gesetzesgleiche" Rückwirkung höchstrichterlicher Entscheidungen entnehmen will. Soweit sie sich auf die Grundsätze des Vertrauensschutzes bei Rechtsprechungsänderungen beruft, ist bereits nicht erkennbar, inwiefern diese Grundsätze vorliegend überhaupt Anwendung finden können, weil der erkennende Senat mit seiner Entscheidung vom 23.6.2015 keine (höchstrichterliche) Rspr geändert, sondern erstmalig entschieden hat, dass eine geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung das Vorliegen eines bestimmten Mindestalters voraussetzt. Wie aus einer höchstrichterlich nicht geklärten Rechtslage entsprechendes Vertrauen entstehen kann, führt die Beklagte nicht näher aus. Letztlich stellt sich die von der Beklagten monierte "Rückwirkung" von Urteilen als Ausdruck dessen dar, dass (Erstattungs-)Ansprüche innerhalb der Verjährungsfristen - von Ausnahmefällen der Verwirkung abgesehen - grundsätzlich unbegrenzt geltend gemacht werden können.

b) Auch bezüglich der Rechtsfrage,

"Stellt die Festsetzung einer starren Altersgrenze von 60 Jahren als Voraussetzung der geriatrischen frührehabilitativen Komplexbehandlung einen rechts- und verfassungswidrigen Eingriff in die Planungshoheit der Länder dar?",

ist die Beschwerde unzulässig, weil es - aus den unter a) dargestellten Gründen - an Darlegungen zur Entscheidungserheblichkeit der Frage fehlt.

Darüber hinaus setzt sich die Beklagte auch nicht mit der Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Frage unter Würdigung der Rspr des erkennenden Senats auseinander (Senatsurteile vom 19.6.2018 - B 1 KR 39/17 R - Juris, zur Veröffentlichung in SozR 4-5562 § 9 Nr 10 vorgesehen und - B 1 KR 38/17 R - Juris, jeweils RdNr 13). Danach hat das in das DRG-Vergütungssystem inkorporierte Klassifikationssystem OPS keine den Ländern vorbehaltenen Krankenhausplanungsregelungen zum Gegenstand. Soweit der OPS in den Komplexziffern auch strukturelle Anforderungen definiert, regelt er kraft Rezeption in Normenverträgen auf Bundesebene lediglich Vergütungsvoraussetzungen, über die sich die Vertragspartner auf Bundesebene verständigt haben. Diese Voraussetzungen beschreiben vorgefundene medizinische Erfordernisse und bilden zugleich die sich daraus ergebenden erforderlichen Ressourcen ab, um die vergütungsrechtliche Gleichbehandlung der Krankenhäuser zu gewährleisten. Hingegen steht der OPS den Ländern nicht im Wege, infrastrukturelle Planungs- und Investitionsentscheidungen über die von ihnen für erforderlich gehaltene Versorgung zu treffen ( BSG aaO). Die Beklagte legt nicht dar, wieso ungeachtet dessen die von ihr aufgeworfene Frage erneut der Klärung in einem Revisionsverfahren bedürfte.

c) Soweit die Beklagte schließlich die Rechtsfrage formuliert,

"Besteht eine demokratische Legitimation für das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information in den von diesem herausgegebenen OPS-Schlüsseln Voraussetzungen an die Leistungserbringung zugelassener Krankenhäuser in Form von Qualitäts- und Strukturanforderungen aufzustellen?",

setzt sich die Beklagte nicht mit der Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Frage unter Würdigung der Rspr des erkennenden Senats auseinander. Auch insoweit legt die Beklagte nicht dar, weshalb diese Frage der Klärung in einem Revisionsverfahren bedürfte. Die Beklagte geht nicht auf die stRspr ein, wonach die Verbindlichkeit des OPS (wie auch der anderen in dem jeweiligen Vertragswerk über die Krankenhausvergütung angesprochenen Klassifikationssysteme) nicht auf ihrer Veröffentlichung durch das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) beruht, sondern allein auf dem Umstand, dass sie durch Vertragsrecht in die zertifizierten Grouper einbezogen sind; die Rezeption der Klassifikationen richtet sich nach den jeweils für die zertifizierten Grouper geltenden Regelungen (stRspr, grundlegend BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 24; BSG Urteil vom 19.6.2018 - B 1 KR 39/17 R - Juris RdNr 13, zur Veröffentlichung in SozR 4-5562 § 9 Nr 10 vorgesehen; dies nicht zur Kenntnis nehmend Phieler, KH 2018, 784 ). Die Beklagte legt nicht dar, wieso es für in Normenverträgen rezipierte Klassifikationssysteme einer demokratischen Legitimation ihres Herausgebers bedürfen könnte. Sie legt zugleich nicht dar, wieso es bei Verneinung der Frage zum erstrebten Anspruch kommen könnte, sie also entscheidungserheblich ist. Es fehlt an Ausführungen dazu, wieso die Frage nach der demokratischen Legitimation des DIMDI für die Wirksamkeit des OPS als Rezeptionsgegenstand der Fallpauschalenvereinbarung und für einen Rechtsgrund für die streitgegenständliche Vergütung überhaupt bedeutsam sein könnte.

2. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG ).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO , diejenige über den Streitwert auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2 S 1, § 52 Abs 1 und 3 , § 47 Abs 1 und 3 GKG .

Vorinstanz: LSG Nordrhein-Westfalen, vom 20.09.2018 - Vorinstanzaktenzeichen L 5 KR 154/18
Vorinstanz: SG Köln, vom 29.11.2017 - Vorinstanzaktenzeichen S 9 KR 1249/15