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BGH - Entscheidung vom 26.01.2017

V ZB 144/15

Normen:
AufenthG § 62 Abs. 1 S. 2
AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5
GG Art. 2 Abs. 2 S. 2
GG Art. 20 Abs. 3
GG Art. 104 Abs. 1
GG Art. 104 Abs. 2 S. 1
FamFG § 26

BGH, Beschluss vom 26.01.2017 - Aktenzeichen V ZB 144/15

DRsp Nr. 2018/3171

Anordnung von Sicherungshaft; Umfassende Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungshaft in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht durch die Haftgerichte

Die Haftgerichte sind verpflichtet, das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungshaft in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend zu prüfen. Hat die beteiligte Behörde die Beschaffung von Passersatzpapieren beantragt, mit denen die Abschiebung nach Vietnam vollzogen werden kann, so darf das Amtsgericht unter Berücksichtigung des erforderlichen Vorbereitungszeitraums und eines zeitlichen Puffers für allfällige Verzögerungen keine Haft anordnen, die über 5 Woche hinausgeht.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird unter Zurückweisung der Rechtsmittel im Übrigen der Beschluss der 2. Zivilkammer des Landgerichts Meiningen vom 23. September 2015 aufgehoben, soweit die Beschwerde für den Zeitraum ab dem 23. Oktober 2015 zurückgewiesen worden ist. Es wird festgestellt, dass dieser Beschluss und der Beschluss des Amtsgerichts Sonneberg vom 18. September 2015 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben, soweit Sicherungshaft für den Zeitraum nach dem 23. Oktober 2015 angeordnet worden ist.

Von den gerichtlichen Kosten trägt der Betroffene 63 %. Weitere gerichtliche Kosten werden nicht erhoben. Der Salzlandkreis trägt 37 % der außergerichtlichen Kosten des Betroffenen. Im Übrigen trägt sie dieser selbst.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Normenkette:

AufenthG § 62 Abs. 1 S. 2; AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 ; GG Art. 2 Abs. 2 S. 2; GG Art. 20 Abs. 3 ; GG Art. 104 Abs. 1 ; GG Art. 104 Abs. 2 S. 1; FamFG § 26 ;

Gründe

I.

Der Betroffene, ein vietnamesischer Staatsangehöriger, reiste 1992 ohne gültige Papiere in das Bundesgebiet ein. Sein Asylantrag wurde abgelehnt und die Abschiebung angedroht. Der Anhörung zur Feststellung seiner Personenidentität und Ausstellung eines Passersatzpapiers entzog er sich. Er wurde bei einer im September 2015 in einem vietnamesischen Textilgeschäft durchgeführten Überprüfung durch die zuständige Polizeiinspektion angetroffen und machte falsche Angaben zu seiner Identität. Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 18. September 2015 Haft zur Sicherung der Abschiebung nach Vietnam bis zum 11. November 2015 angeordnet. Die Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde. Der Senat hat die Vollziehung der Sicherungshaft am 29. Oktober 2015 einstweilen ausgesetzt. Der Betroffene beantragt nunmehr, die Rechtswidrigkeit der Haft festzustellen.

II.

Das Beschwerdegericht hält die Anordnung der Sicherungshaft für rechtmäßig. Der Haftgrund nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG liege vor. Die Anordnung der Haft entspreche auch den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit.

III.

Die gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG mit dem Feststellungsantrag nach § 62 FamFG statthafte und auch im Übrigen (§ 71 FamFG ) zulässige Rechtsbeschwerde ist teilweise begründet.

1. Die festgestellten Tatsachen tragen die Haftanordnung durch das Amtsgericht und ihre Aufrechterhaltung durch das Beschwerdegericht für den Zeitraum vom 23. Oktober 2015 bis zum 11. November 2015 nicht.

a) Die Haftgerichte sind auf Grund von Art. 20 Abs. 3 und Art. 104 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich und auf Grund von § 26 FamFG einfachrechtlich verpflichtet, das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungshaft in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend zu prüfen. Die Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt auch insoweit Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für die Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (BVerfGK 15, 139, 144 f.; Senat, Beschluss vom 16. Juni 2016 - V ZB 12/15, InfAuslR 2016, 429 Rn. 14; Beschluss vom 20. Oktober 2016 - V ZB 167/14, [...] Rn. 9 mwN). Der Richter hat nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG die Verantwortung für das Vorliegen der Voraussetzungen der von ihm angeordneten oder bestätigten Haft zu übernehmen. Dazu muss er die Tatsachen feststellen, die die Freiheitsentziehung rechtfertigen (Senat, Beschluss vom 16. Juni 2016 - V ZB 12/15, InfAuslR 2016, 429 Rn. 14; Beschluss vom 20. Oktober 2016 - V ZB 167/14, [...] Rn. 9 mwN).

b) Hiernach hätte die Haft bis längstens 23. Oktober 2015 angeordnet bzw. aufrechterhalten werden dürfen.

aa) Die beteiligte Behörde hatte zwar Haft bis zum 11. November 2015 beantragt, aber dargelegt, dass sie für die Beschaffung der Passersatzpapiere, die am 18. September 2015 veranlasst werde, einen Zeitraum von drei Wochen benötige und dass nach Vorliegen der Ausreisedokumente unverzüglich die Abschiebung nach Vietnam vollzogen werden könne. Im Hinblick auf die Verpflichtung zur Begrenzung der Haft auf den kürzest möglichen Zeitraum (§ 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ) durfte das Amtsgericht unter Berücksichtigung des erforderlichen Vorbereitungszeitraums und eines zeitlichen Puffers für allfällige Verzögerungen keine Haft über den 23. Oktober 2015 hinaus anordnen. Dass das Amtsgericht zusätzliche Erkenntnisse gewonnen hätte, die eine längere Haft gerechtfertigt hätten, lässt sich seinem Beschluss nicht entnehmen. Es referiert dort lediglich den Vortrag der Behörde, der keine ausreichende tatsächliche Grundlage für die Anordnung einer längeren Haft bot.

bb) Das Beschwerdegericht hätte die über den 23. Oktober 2015 hinaus angeordnete Haft nicht aufrechterhalten dürfen, sondern hätte sie nach § 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG , § 426 Abs. 1 FamFG von Amts wegen für den Zeitraum danach aufheben müssen. Es hat nämlich lediglich Bezug auf den Beschluss des Amtsgerichts genommen, ohne die erforderlichen Feststellungen zur Dauer der Haft nachzuholen. Durch dieses Vorgehen wurde die angeordnete Haft für diesen Zeitraum zu einer Vorratshaft, die das Gesetz nicht zulässt (vgl. Senat, Beschluss vom 9. Juni 2011 - V ZB 26/11, [...] Rn. 8; Beschluss vom 4. Dezember 2014 - V ZB 77/14, BGHZ 203, 323 Rn. 6).

2. Im Übrigen hat die Rechtsbeschwerde keinen Erfolg. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 74 Abs. 7 FamFG ).

Vorinstanz: AG Sonneberg, vom 18.09.2015 - Vorinstanzaktenzeichen XIV 37/15
Vorinstanz: LG Meiningen, vom 23.09.2015 - Vorinstanzaktenzeichen 2 T 238/15