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BGH - Entscheidung vom 19.11.2014

4 StR 497/14

Normen:
StGB § 20
StGB § 21

Fundstellen:
NStZ-RR 2015, 161
NStZ-RR 2015, 164
NStZ-RR 2015, 71

BGH, Beschluss vom 19.11.2014 - Aktenzeichen 4 StR 497/14

DRsp Nr. 2015/74

Rechtmäßigkeit der Unterbringung eines Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus

Tenor

1.

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bochum vom 27. Juni 2014 mit den Feststellungen aufgehoben, jedoch bleiben die Feststellungen zu den rechtswidrigen Taten aufrecht erhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2.

Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Normenkette:

StGB § 20 ; StGB § 21 ;

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "versuchter gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Körperverletzung, wegen Körperverletzung in sechs Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Bedrohung und davon in einem Fall in Tateinheit mit Beleidigung, sowie wegen versuchter Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung" zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt. Außerdem hat es die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Seine hiergegen eingelegte Revision hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO .

I.

Das Landgericht hat die folgenden Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der zur Tatzeit 22 Jahre alte Angeklagte ist in ungünstigen Verhältnissen aufgewachsen und leidet an einer mittelgradigen Intelligenzminderung mit deutlichen Verhaltensstörungen gemäß ICD 10 - F 71.1. Ab dem 15. Juli 2013 war er in einer Wohneinrichtung der Lebenshilfe in H. untergebracht. Zum Schutz der Mitbewohner und des Personals war er zuletzt auf einer eigenen Etage isoliert und wurde von einem Sicherheitsdienst rund um die Uhr bewacht.

In der Zeit zwischen dem 26. September 2013 und dem 16. Januar 2014 kam es zu neun Angriffen des Angeklagten auf Mitarbeiter der Wohneinrichtung und des Sicherheitsdienstes. In sieben Fällen (Fälle 1 bis 7 der Urteilsgründe) misshandelte und verletzte er dabei eine oder mehrere Personen (Schläge, Tritte, kurzzeitiges Würgen, Verdrehen eines Fingers). In den Fällen 5 und 7 der Urteilsgründe bedrohte der Angeklagte die von ihm körperlich angegangenen Geschädigten zusätzlich mit dem Tod. Die Drohungen wurden ernst genommen. Bei der Auseinandersetzung mit zwei Mitarbeitern der Einrichtung am 14. Dezember 2013 ergriff der Angeklagte eine etwa 20 cm lange spitze Glasscherbe und stach damit in Richtung des Zeugen R. . Dieser konnte eine Verletzung nur durch ein rechtzeitiges Ausweichen vermeiden (Fall 6 der Urteilsgründe, UA 10). In einem weiteren Fall ging der Angeklagte in Angriffsabsicht mit einem in Hüfthöhe gehaltenen Tafelmesser auf den Sicherheitsdienstmitarbeiter F. zu, der ihn jedoch entwaffnen konnte (Fall 8 der Urteilsgründe). Ein weiterer Versuch des Angeklagten, den Zeugen F. zu verletzten, wurde ebenfalls abgewehrt (Fall 9 der Urteilsgründe). Außerdem beleidigte der Angeklagte in zwei Fällen seine Opfer (Fälle 7 und 9 der Urteilsgründe).

2. Das sachverständig beratene Landgericht ist davon ausgegangen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei der Begehung der Taten aufgrund einer krankhaften seelischen Störung erheblich vermindert gewesen sei (§ 21 StGB ). Die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus habe angeordnet werden müssen, weil die psychopathologische Disposition des Angeklagten auch in alltäglichen Situationen geeignet sei, eigen- und fremdaggressives Verhalten auszulösen. Weitere Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit anderer Menschen seien mit hoher Wahrscheinlichkeit zu besorgen.

II.

Die Revision hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen UmfangErfolg.

1. Die Schuldfähigkeitsprüfung des Landgerichts begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Die Urteilsgründe lassen besorgen, dass die Strafkammer bei der Entscheidung der Frage, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten im Sinne von § 20 StGB vollständig aufgehoben war, gegen den Zweifelsgrundsatz verstoßen hat.

aa) Bleiben nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht behebbare tatsächliche Zweifel bestehen, die sich auf die Art und den Grad des psychischen Ausnahmezustandes beziehen, ist zugunsten des Täters zu entscheiden (vgl. BGH, Urteil vom 26. August 1999 - 4 StR 329/99, NStZ 2000, 24 , 25; Urteil vom 18. Mai 1995 - 4 StR 698/94, BGHR StGB § 21 Ursachen, mehrere 13; Urteil vom 26. April 1955 - 5 StR 86/55, BGHSt 8, 113, 124).

bb) Nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. L. , denen sich die Strafkammer ohne Einschränkung angeschlossen hat, war die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgrund der bei ihm festgestellten erheblichen Verhaltensstörung und der erkennbar herabgesetzten Intelligenzleistung im Sinne von § 21 StGB deutlich vermindert. "Eindeutige Hinweise darauf, dass die Steuerungsfähigkeit sogar im Sinne von § 20 StGB aufgehoben gewesen sei, hätten sich nicht gefunden" (UA 11). Diese Wendung deutet darauf hin, dass durchaus tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Sachverhalts gegeben waren, der zu einer vollständigen Aufhebung der Steuerungsfähigkeit geführt haben kann, das Landgericht aber eine Schuldunfähigkeit des Angeklagten schon deshalb für ausgeschlossen erachtet hat, weil dafür kein eindeutiger Nachweis erbracht werden konnte.

b) Die Ausführungen, mit denen das Landgericht die Annahme einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit begründet hat, weisen nicht die für eine revisionsgerichtliche Nachprüfung erforderliche Begründungstiefe auf.

aa) Die Frage, ob die Steuerungsfähigkeit bei Tatbegehung aufgrund der festgestellten Störung im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert war, ist eine Rechtsfrage, die der Tatrichter unter Darlegung der fachwissenschaftlichen Beurteilung durch den Sachverständigen, aber letztlich ohne Bindung an dessen Äußerungen, in eigener Verantwortung zu entscheiden hat (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Juni 2010 - 5 StR 171/10, NStZ-RR 2011, 4 mwN). Schließt er sich dabei der Beurteilung des Sachverständigen an, muss er dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 17. Juni 2014 - 4 StR 171/14, NStZ-RR 2014, 305 , 306; Beschluss vom 2. Oktober 2007 - 3 StR 412/07, NStZ-RR 2008, 39 mwN).

bb) Daran fehlt es hier. Das Landgericht beschränkt sich darauf, die knappe Beurteilung des Sachverständigen zu übernehmen, wonach die "Erkrankung" des Angeklagten in sozialen Situationen geeignet sei, eigen- und fremdaggressives Verhalten zu forcieren und sich bei den Tathandlungen dahingehend ausgewirkt habe, dass die Steuerungsfähigkeit im Sinne von § 21 StGB deutlich vermindert gewesen sei (UA 11). Soweit in der rechtlichen Würdigung davon die Rede ist, dass die Verminderung der Steuerungsfähigkeit "aufgrund der hohen Intensität der Verhaltensstörung, namentlich der aggressiven Impulsivität des Angeklagten, im normativen Sinne erheblich sei" (UA 13), fehlt es an den dafür erforderlichen Belegen. Denn die Urteilsgründe legen nicht näher dar, welcher Art die diagnostizierten Verhaltensstörungen sind und welchen Einfluss das Störungsbild auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in den konkreten Tatsituationen hatte. Der Senat kann daher nicht überprüfen, ob die Annahme einer sicher gegebenen erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit auf einer tragfähigen Grundlage beruht.

2. Da in Betracht kommt, dass der Angeklagte bei Begehung der Taten schuldunfähig war, bedarf die Sache schon aus diesem Grund neuer tatrichterlicher Prüfung und Entscheidung. Die Feststellungen zu den rechtswidrigen Taten bleiben hiervon unberührt und können deshalb bestehen bleiben. Die Maßregelanordnung war aufzuheben, weil sie zu der Schuldfähigkeitsbeurteilung in einem untrennbaren Zusammenhang steht.

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass eine Intelligenzminderung ohne nachweisbaren Organbefund, wie sie bei dem Angeklagten festgestellt worden ist, dem Eingangsmerkmal des "Schwachsinns" unterfällt und damit eine besondere Erscheinungsform schwerer anderer seelischer Abartigkeiten ist (vgl. BGH, Beschluss vom 5. September 1996 - 1 StR 416/96, NStZ 1997, 199 ; Fischer, StGB , 61. Aufl., § 20 Rn. 35; Schöch in: Leipziger Kommentar zum StGB , 12. Aufl., § 20 Rn. 150 mwN).

Vorinstanz: LG Bochum, vom 27.06.2014
Fundstellen
NStZ-RR 2015, 161
NStZ-RR 2015, 164
NStZ-RR 2015, 71