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BGH - Entscheidung vom 08.07.2014

3 StR 287/14

Normen:
StGB § 64 S. 1

BGH, Beschluss vom 08.07.2014 - Aktenzeichen 3 StR 287/14

DRsp Nr. 2014/12943

Feststellung eines Hangs bei kurzzeitiger Abstinenz

1. Im Falle der Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit wird die Notwendigkeit einer Unterbringungsanordnung grundsätzlich nicht durch minder einschneidende Mittel außerhalb des Bereichs der strafrechtlichen Maßregeln aufgehoben , weil bei den freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung das Subsidiaritätsprinzip nur für die Frage der Aussetzung der Vollstreckung, nicht aber für die Frage ihrer Anordnung gilt.2. Eine kurzfristige Abstinenz steht der Feststellung eines Hangs nicht entgegen.

Tenor

1.

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Verden vom 28. März 2014 aufgehoben

a)

mit den zughörigen Feststellungen, soweit das Landgericht davon abgesehen hat, die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt anzuordnen,

b)

im Strafausspruch; jedoch bleiben die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Normenkette:

StGB § 64 S. 1;

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt, von der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hat es abgesehen. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet.

1. Die auf die Sachrüge veranlasste Nachprüfung des Urteils hat zum Schuldspruch keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

2. Das Urteil hat indes keinen Bestand, soweit das Landgericht von der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen hat.

a) Nach den Feststellungen trinkt der erheblich vorbestrafte Angeklagte seit dem 15. Lebensjahr regelmäßig Alkohol. Er führte eine erste Alkoholentgiftung im Jahr 1990/91 mit anschließender Entwöhnungstherapie für vier Monate durch, eine zweite folgte im Jahr 2006 mit anschließender Langzeittherapie, wobei der Angeklagte nach drei Monaten erneut rückfällig wurde. Eine dritte Entgiftung fand im Jahr 2007 statt. Im Jahr 2011 setzte der Angeklagte ihm verschriebene Antidepressiva ab, wodurch es zu einem erneuten Rückfall kam. Am Tattag, dem 4. April 2013, begann der zu dieser Zeit obdachlose Angeklagte, nach längerer Zeit der Abstinenz wieder zu trinken. Im weiteren Verlauf kam es zu dem abgeurteilten Tatgeschehen, bei dem der Angeklagte eine maximale Blutalkoholkonzentration von 2,25 ‰ aufwies. Vom 15. April bis zum 8. Mai 2013 hielt sich der Angeklagte freiwillig in der Psychiatrie in Rotenburg auf. Im Anschluss fand er eine Wohnung und besuchte ambulant aus eigenem Antrieb u.a. eine Gruppe der anonymen Alkoholiker. Am 15. oder 16. Mai 2013 wurde der Angeklagte wieder rückfällig. Es folgte eine Entgiftung im Heidekreis-klinikum Walsrode. Vom 17. bis 29. Juli 2013 befand sich der Angeklagte zum "qualifizierten Entzug" auf einer "Extra-Station" der Psychiatrie in Rotenburg. Seit dieser Zeit konsumierte der Angeklagte keinen Alkohol mehr.

Das Landgericht hat den Hang des Angeklagten, Alkohol im Übermaß zu sich zu nehmen, ebenso bejaht wie den symptomatischen Zusammenhang zwischen dem Hang und der abgeurteilten Straftat. Es hat jedoch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit von der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten abgesehen. Eine Maßnahme sei dann nicht erforderlich, wenn mildere Mittel zur Verfügung ständen. Hier sei das mildere Mittel letztlich dasjenige, "was der Angeklagte bereits seit Jahren für sich bemühe und aus eigenem Antrieb heraus umsetze". Denn er habe schon regelmäßig Entgiftungen und Langzeit-therapien durchgeführt. Darüber hinaus zeige sich, dass dieses Verhalten Früchte trage. Die Sachverständige habe insoweit überzeugend ausgeführt, dass eine weitere Verbesserung der Prognose, den Angeklagten vor einem erneuten Rückfall zu bewahren, durch die Anordnung der Maßregel nicht zu erwarten sei.

b) Diese Begründung der Strafkammer zur Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Die Ausführungen zur Unverhältnismäßigkeit der Unterbringung des Angeklagten sind nicht tragfähig. Soweit die Strafkammer die Auffassung vertritt, es beständen gegenüber der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt mildere Mittel, verkennt sie, dass im Falle der Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit die Notwendigkeit einer Unterbringungsanordnung grundsätzlich nicht durch minder einschneidende Mittel außerhalb des Bereichs der strafrechtlichen Maßregeln aufgehoben wird, weil bei den freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung das Subsidiaritätsprinzip nur für die Frage der Aussetzung der Vollstreckung, nicht aber für die Frage ihrer Anordnung gilt (vgl. BGH, Urteile vom 23. Februar 2000 - 3 StR 595/99, NStZ-RR 2000, 300 , 301; vom 14. Februar 2001 - 3 StR 455/00, [...] Rn. 8; vom 23. Juni 1993 - 3 StR 260/93, BGHR StGB § 63 Beweiswürdigung 1; vgl. zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Prüfung des § 64 StGB auch BGH, Beschluss vom 20. Juli 2010 - 4 StR 291/10, NStZ 2010, 692, 693).

c) Die Entscheidung des Landgerichts erweist sich entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts auch nicht deshalb im Ergebnis als rechts-fehlerfrei, weil die Feststellungen keinen Hang des Angeklagten im Sinne des § 64 Satz 1 StGB belegen. Zwar ergibt sich aus diesen, dass der Angeklagte seit Sommer 2013 keinen Alkohol mehr trank. Jedoch steht eine kurzfristige Abstinenz der Feststellung eines Hangs nicht entgegen (BGH, Beschluss vom 11. Februar 2009 - 5 StR 13/09, NStZ-RR 2009, 184 ). Sie lässt gerade in Fällen wie dem vorliegenden, die durch eine über viele Jahre hinweg erworbene, tief verwurzelte Neigung, Alkohol im Übermaß zu sich zu nehmen, sowie eine hohe Blutalkoholkonzentration des Täters zur Tatzeit gekennzeichnet sind, nicht

ohne weiteres den Schluss zu, dass ein Hang nicht mehr besteht.

d) Dass die Unterbringung als nicht erforderlich anzusehen wäre, weil von dem Angeklagten keine Gefahr weiterer erheblicher rechtswidriger Taten ausgeht, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen. Diese verhalten sich zu der Gefahrenprognose nicht. Entsprechendes gilt für die Frage der Erfolgs-aussichten einer Behandlung des Angeklagten im Wege des Maßregelvollzuges. Diese hat das Landgericht nur in ihrer relativen Beziehung zu außerstrafrechtlichen Maßnahmen erörtert.

e) Über die Frage der Unterbringung des Angeklagten in einer Ent-ziehungsanstalt muss deshalb neu verhandelt und entschieden werden. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht (BGH, Beschluss vom 11. Juli 2013 - 3 StR 193/13, [...] Rn. 6; Urteil vom 10. April 1990 - 1 StR 9/90, BGHSt 37, 5 , 9 f.). Der Beschwerdeführer hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch den Tatrichter auch nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen (vgl. BGH, Urteil vom 7. Oktober 1992 - 2 StR 374/92, BGHSt 38, 362 , 363).

3. Der aufgezeigte Fehler führt auch zur Aufhebung des Strafaus-spruches. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht bei Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt eine mildere Freiheitsstrafe verhängt hätte. Der Aufhebung der dem Strafausspruch zugrunde liegenden Feststellungen bedarf es nicht.

4. Mit Blick auf die Strafzumessungserwägungen des Landgerichts bemerkt der Senat ergänzend:

Nach ständiger Rechtsprechung ist in den Fällen, in denen das Gesetz bei einer Straftat einen minderschweren Fall vorsieht und im Einzelfall ein gesetzlicher Milderungsgrund im Sinne von § 49 StGB gegeben ist, bei der Strafrahmenwahl vorrangig zu prüfen ist, ob ein minderschwerer Fall vorliegt. Dabei ist im Rahmen einer Gesamtwürdigung zunächst zu prüfen, ob die allgemeinen Milderungsgründe allein schon zur Annahme eines minderschweren Falls führen, da die vertypten Milderungsgründe dann für eine Strafrahmenmilderung nach § 49 StGB noch nicht verbraucht sind. Ist nach einer Abwägung aller allgemeinen Strafzumessungstatsachen das Vorliegen eines minderschweren Falles abzulehnen, sind bei der weitergehenden Prüfung, ob der mildere Sonderstrafrahmen zur Anwendung kommt, gesetzlich vertypte Strafmilderungsgründe zusätzlich heranzuziehen. Erst wenn das Tatgericht danach weiterhin die Annahme eines minderschweren Falles nicht für gerechtfertigt hält, darf es seiner konkreten Strafzumessung den wegen des gegebenen gesetzlich vertypten Milderungsgrundes gemilderten Regelstrafrahmen zugrunde legen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2011 - 2 StR 218/11, NStZ 2012, 271 , 272). Vorliegend hat das Landgericht den Strafrahmen des § 224 Abs. 1 StGB gemäß §§ 21 , 49 Abs. 1 StGB gemildert; dass es den vertypten Milderungsgrund auch bei der vorangegangen Prüfung, ob die Tat als minder schwer zu qualifizieren ist, im Blick gehabt hat, ergibt sich aus den Urteilsgründen indes nicht.

Vorinstanz: LG Verden, vom 28.03.2014