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BGH - Entscheidung vom 03.02.2011

V ZB 224/10

Normen:
FamFG § 62 Abs. 1
AufenthG § 62 Abs. 2 Satz 1
§ 72 Abs. 4 Satz 1
FamFG § 62 Abs. 1
AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1
AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1
GG Art. 2 Abs. 2 S. 2

Fundstellen:
FGPrax 2011, 148
NVwZ 2011, 767

BGH, Beschluss vom 03.02.2011 - Aktenzeichen V ZB 224/10

DRsp Nr. 2011/4308

Verletzung des Grundrechts eines Ausländers aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG durch Anordnung von Abschiebungshaft bei fehlender Zustimmung der Staatsanwaltschaft; Gesetzeslage bzw. davon abweichende Verwaltungspraxis als ausschlaggebender Maßstab für die Beurteilung der Erforderlichkeit eines Eingriffs in ein Freiheitsgrundrecht

a) Die Anordnung von Abschiebungshaft verletzt das Grundrecht des Ausländers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG , wenn eine Abschiebung wegen fehlender Zustimmung der Staatsanwaltschaft nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht durchgeführt werden darf. b) Maßstab für die Beurteilung der Erforderlichkeit des Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht ist die Gesetzeslage, welche das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft für die Abschiebung vorschreibt, und nicht eine sich darüber hinwegsetzende Verwaltungspraxis der Ausländerbehörde.

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der Zivilkammer 29 des Landgerichts Hamburg vom 20. August 2010 wird auf Kosten der Beteiligten zu 1 zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Normenkette:

FamFG § 62 Abs. 1; AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1; AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1; GG Art. 2 Abs. 2 S. 2;

Gründe

I.

Die Betroffene, eine peruanische Staatsangehörige, wurde am 22. Juni 2010 anlässlich einer Wohnungsdurchsuchung festgenommen, weil sie sich ohne Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufhielt. Sie wurde als Beschuldigte von der Polizei vernommen. Auf den Antrag der beteiligten Behörde ordnete das Amtsgericht am 22. Juni 2010 die Haft zur Sicherung der Abschiebung bis längstens 15. Juli 2010 an und verlängerte diese zunächst mit Beschluss vom 15. Juli 2010. Auf die Beschwerde der Betroffenen setzte es den Vollzug der Abschiebungshaft am 16. Juli 2010 aus. Die beteiligte Behörde schob die Betroffene danach ab. Eine Zustimmung der Staatsanwaltschaft zu einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme lag zu keiner Zeit vor.

Das Beschwerdegericht hat dem Antrag der Betroffenen festzustellen, dass die angeordnete und verlängerte Abschiebungshaft rechtswidrig war, entsprochen. Hiergegen wendet sich die beteiligte Behörde mit der von dem Landgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde und möchte die Zurückweisung des Fortsetzungsfeststellungsantrags erreichen.

II.

Das Beschwerdegericht meint, dass die Abschiebungshaft nicht hätte angeordnet werden dürfen, weil das erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft mit der Abschiebung zu keiner Zeit vorgelegen habe. Zwar sei es angesichts der mit einem Verstoß gegen das Aufenthaltsgesetz regelmäßig einhergehenden Straftat des unerlaubten Aufenthalts zweifelhaft, ob ohne das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft nach § 72 Abs. 4 AufenthG die Anordnung von Abschiebungshaft schlechthin ausscheide. Dies könne nämlich zur Folge haben, dass eine Haft zur Sicherung der Abschiebung wegen des regelmäßig gleichzeitig verwirklichten Straftatbestands überhaupt nicht mehr verhängt werden könnte. Der Haftrichter müsse aber jedenfalls rechtzeitig Erkundigungen zum Vorliegen des notwendigen Einvernehmens einholen und sich mit dieser Problematik insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit auseinandersetzen. Daran fehle es hier, weshalb die Haftanordnung rechtswidrig gewesen sei.

III.

1. Die Rechtsbeschwerde der beteiligten Behörde ist auf Grund der Zulassung durch das Beschwerdegericht nach § 70 Abs. 1 FamFG, § 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG statthaft und auch im Übrigen zulässig (§ 71 FamFG).

2. Das Rechtsmittel ist jedoch unbegründet.

a)

Das Beschwerdegericht hat zu Recht entschieden, dass die Haft zur Sicherung der Abschiebung nach § 62 Abs. 2 AufenthG ohne das nach Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft weder hätte angeordnet noch verlängert werden dürfen.

b)

In diesem Fall hätte der Haftantrag der beteiligten Behörde allerdings nicht als unbegründet, sondern mangels Darlegung der Durchführbarkeit der Abschiebung (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG) bereits als unzulässig zurückgewiesen werden müssen (vgl. Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, Rn. 8 - zur Veröff. vorgesehen). Ergibt sich aus dem Haftantrag selbst oder aus den diesem beigefügten Unterlagen (wie hier aus der von der Polizei aufgenommenen Strafanzeige) ohne weiteres, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig ist, muss sich der Haftantrag der Behörde auch dazu verhalten, ob das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG für die Abschiebung erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft vorliegt. Das Fehlen entsprechender Ausführungen ist in diesen Fällen ein Begründungsmangel, der zur Unzulässigkeit des Haftantrags führt (Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, aaO).

Dieses Darlegungserfordernis beruht darauf, dass nach Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung des Ausländers ausscheidet, solange die Staatsanwaltschaft der Abschiebung nicht zugestimmt hat (Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 93/10, NVwZ 2010, 1574, 1575). Daran ist festzuhalten.

aa)

Nach der in § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zum Ausdruck kommenden Wertung hat das von der Staatsanwaltschaft wahrzunehmende Interesse an der Verfolgung einer von dem Ausländer begangenen Straftat grundsätzlich Vorrang vor dem von den Ausländerbehörden zu wahrenden Interesse an der Durchsetzung der Ausreisepflicht der sich illegal im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländer (Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 93/10, aaO). Dieser Vorrang wird durch das Erfordernis des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft mit der Ausweisung oder Abschiebung eines Ausländers gesichert (Senat, Beschlüsse vom 17. Juni 2010 - V ZB 93/10, NVwZ 2010, 1574, 1575; vom 18. August 2010 - V ZB 211/10, InfAuslR 2010, 440).

bb)

Darüber setzt sich die beteiligte Behörde hinweg, wenn sie auch nach der Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens - wofür die Vernehmung des Betroffenen als Beschuldigter durch die Polizei wegen des Verdachts einer Straftat ausreicht (vgl. BGH, Urteil vom 24. Juli 2003 - 3 StR 212/02, NJW 2003, 3142, 3143) - Ausländer abschiebt, ohne die Staatsanwaltschaft zu beteiligen, und zu diesem Zweck bei den Gerichten die Anordnung der Abschiebungshaft zur Sicherung einer rechtswidrigen Abschiebung beantragt. Nicht das Beschwerdegericht verletzt § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG , wenn es die Rechtswidrigkeit einer dieser Abschiebungspraxis dienenden Sicherungshaft feststellt, vielmehr handelt die beteiligte Behörde dieser Vorschrift zuwider, wenn sie unter bewusster Verletzung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandels (Art. 20 Abs. 3 GG ) das Erfordernis zur Einholung des staatsanwaltschaftlichen Einvernehmens umgeht, indem sie - nach ihrem eigenen Vorbringen - die Staatsanwaltschaft erst nach der Abschiebung informiert.

c)

Die Inhaftierung hat die Betroffene in ihrem Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ) verletzt.

aa)

Gegenstand der richterlichen Feststellung nach § 62 Abs. 1 FamFG ist zwar nicht die Rechtswidrigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung (hier der Haftanordnung), sondern nur eine daraus folgende Verletzung des Beschwerdeführers in seinen Rechten (vgl. OLG München, FGPrax 2010, 269; Keidel/Budde, FamFG, 16. Aufl.; § 62 Rn. 11 f.). Die Abschiebungshaft stellt jedoch einen schwerwiegenden Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen dar (vgl. BVerfG, NJW 2002, 2456, 2457). Dieser ist daher auch in seinen Rechten verletzt, wenn der Richter die Abschiebungshaft angeordnet hat, die er bei Beachtung der einschlägigen Rechtsvorschriften nicht hätte anordnen dürfen. Das ist hier der Fall.

bb)

Der hier zugrunde gelegten Rechtsauffassung steht nicht das Argument der Rechtsbeschwerde entgegen, dass das Bundesverwaltungsgericht die früher das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft regelnde Vorschrift des § 64 Abs. 3 AuslG als eine verfahrensrechtliche, allein dem Strafverfolgungsinteresse des Staates dienende, jedoch nicht dem Schutz des Ausländers vor ausländerbehördlichen Maßnahmen bezweckende Bestimmung angesehen hat (so die nicht tragende Erwägung in BVerwGE 106, 351 , 356). Ob diesem Verständnis der Norm zu folgen ist, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn Gegenstand der Feststellung des Beschwerdegerichts nach § 62 Abs. 1 FamFG ist nicht die - einer Prüfung durch die Zivilgerichte ohnehin entzogene - Verletzung von Rechten des Ausländers durch die von der Ausländerbehörde verfügte Abschiebung (vgl. Senat, Beschluss vom 16. Dezember 2009 - V ZB 148/09, FGPrax 2010, 50 , mwN), sondern die Rechtmäßigkeit des Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht des Ausländers durch die von dem Richter veranlasste Inhaftierung.

cc)

Die richterliche Haftanordnung verletzt das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG , wenn sie zur Sicherung einer Abschiebung angeordnet wird, die (hier wegen fehlender Zustimmung der Staatsanwaltschaft) nicht durchgeführt werden darf.

(1)

Das ist eine Folge der von dem Haftrichter bei der Anordnung einer Freiheitsentziehung zu beachtenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen. Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG kann die Freiheit der Person nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und unter Beachtung der darin vorgesehenen Formen beschränkt werden. Hieraus ergibt sich eine strikte Gesetzesbindung jeder Freiheitsentziehung. Danach darf die Abschiebungshaft dem in § 62 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bestimmten Zweck gemäß nur zur Sicherung der Abschiebung des Ausländers angeordnet werden (BVerfG, NVwZ 2007, 1296 , 1297; Senat, Beschluss vom 10. Juni 2010 - V ZB 204/09, NVwZ 2010, 1172 , 1173 Rn. 21). Die von dem Richter angeordnete Inhaftierung muss sich als eine dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechende Maßnahme zur Sicherung des gesetzlich bestimmten Zwecks darstellen (vgl. BVerfG, InfAuslR 1994, 342, 343). Das ist sie jedoch nur dann, wenn die Inhaftierung des Ausländers zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet und erforderlich ist und der mit ihr verbundene Eingriff nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache steht (BVerfG, InfAuslR 2008, 358, 359; Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 9/10, InfAuslR 2010, 384, 387). Von der Anordnung der Sicherungshaft ist daher abzusehen, wenn die Abschiebung nicht durchführbar und die Freiheitsentziehung deshalb nicht erforderlich ist (BVerfG, Beschlüsse vom 28. November 1995 - 2 BvR 91/95, [...] Rn. 75 und vom 29. Februar 2000 - 2 BvR 347/00, [...] Rn. 15 = DVBl 2000, 695 , 696).

(2)

Daran gemessen entspricht die Inhaftierung eines Ausländers zum Zwecke seiner Abschiebung regelmäßig nur dann dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn der Abschiebung keine tatsächlichen oder rechtlichen Hindernisse entgegenstehen. Das ist indes nicht der Fall, wenn die Abschiebung nicht durchgeführt werden darf, weil die Staatsanwaltschaft ihr für die Abschiebung nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG notwendiges Einvernehmen nicht erteilt hat. Für die Beurteilung der Erforderlichkeit eines Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht des Ausländers ist es dagegen ohne Bedeutung, ob die Staatsanwaltschaft ihr Einvernehmen ausdrücklich versagt oder aber deshalb nicht erteilt, weil sie gar keine Kenntnis von dem ihre Zustimmung erfordernden Sachverhalt hat, weil die Ausländerbehörde es für opportun hält, sie trotz Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens durch die Polizeibehörden von der beabsichtigten Abschiebung nicht zu unterrichten. Das der Inhaftierung entgegenstehende rechtliche Abschiebungshindernis besteht in beiden Fällen gleichermaßen.

(3)

Maßstab für die Beurteilung der Erforderlichkeit des Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht ist die Gesetzeslage, welche hier das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft für die Abschiebung vorschreibt, und nicht die sich (bewusst) darüber hinwegsetzende Verwaltungspraxis der beteiligten Behörde. Dem Haftrichter ist es - unabhängig davon, ob dem Ausländer von den Verwaltungsgerichten ein Rechtsmittel gegen seine Abschiebung wegen des Nichtvorliegens des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft zuerkannt wird oder nicht -schon wegen der aus Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG folgenden strikten Gesetzesbindung jeder Freiheitsentziehung untersagt, eine Haft zur Sicherung einer Abschiebung anzuordnen, wenn feststeht, dass diese wegen Fehlens der Zustimmung der Staatsanwaltschaft nicht durchgeführt werden darf.

dd)

Zu keiner anderen Beurteilung führt schließlich der Einwand der Rechtsbeschwerde, dass es in der Verwaltungspraxis gar nicht möglich sei, schon vor der Beantragung von Abschiebungshaft gegen Ausländer, die sich in aller Regel nach § 95 Abs. 1 AufenthG strafbar gemacht hätten, das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft zu deren Abschiebung einzuholen. Was diese Bedenken gegen die Praktikabiliät der Rechtsprechung des Senats angeht, genügt der Hinweis, dass die Staatsanwaltschaft ihr Einvernehmen nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG auch generell vorab für bestimmte Fallgruppen erklären kann, wie sie etwa in der Entscheidung des Beschwerdegerichts angesprochen sind (Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, Rn. 25).

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG; die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO .

Vorinstanz: LG Hamburg, vom 20.08.2010 - Vorinstanzaktenzeichen 329 T 71/10
Vorinstanz: LG Hamburg, vom 20.08.2010 - Vorinstanzaktenzeichen 329 T 75/10
Fundstellen
FGPrax 2011, 148
NVwZ 2011, 767