Kontakt : 0221 / 93 70 18 - 0
Wir durchsuchen unsere Datenbank

BGH - Entscheidung vom 30.06.2011

V ZB 139/11

Normen:
AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4

BGH, Beschluss vom 30.06.2011 - Aktenzeichen V ZB 139/11

DRsp Nr. 2011/13274

Haftrichter hat i.R.d. Verlängerung einer auf drei Monate befristeten Haftanordnung eine Prognose bzgl. der Durchführbarkeit einer Abschiebung anzustellen; Vom Haftrichter anzustellende Prognose bzgl. der Durchführbarkeit einer Abschiebung i.R.d. Verlängerung einer auf drei Monate befristeten Haftanordnung

1. Im Abschiebungsverfahren ist nach Einlegung einer Rechtsbeschwerde ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung einer Haftanordnung in entsprechender Anwendung von § 64 III FamFG statthaft.2. Ist bei der gebotenen summarischen Prüfung davon auszugehen, dass die Rechtsbeschwerde Erfolg haben wird, weil die Verlängerung der Haft auf einer rechtsfehlerhaften Anwendung des § 62 II S. 4 AufenthG beruht, ist die weitere Vollstreckung der Haftanordnung auszusetzen.3. Die Regelung des § 62 II S. 4 AufenthG lässt erkennen, dass im Regelfall die Dauer von drei Monaten Haft nicht überschritten werden soll und eine darüber hinausgehende Haftdauer nicht ohne weiteres als verhältnismäßig angesehen werden darf. Daraus folgt, dass die Verlängerung einer auf drei Monate befristeten Haftanordnung unzulässig ist, wenn die Abschiebung aus Gründen unterblieben ist, die von dem Ausländer nicht zu vertreten sind. Dies erfordert eine Prognose, dass die Abschiebung innerhalb von drei Monaten, gerechnet ab dem Zeitpunkt der (ersten) Haftanordnung, ohne Berücksichtigung der von dem Ausländer zurechenbar veranlassten Verzögerung, hätte durchgeführt werden können.4. Diese Prognose hat der Haftrichter grundsätzlich auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Gründe, die der Abschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können, zu erstrecken. Hierzu sind konkrete Angaben zum Ablauf des Verfahrens und zu dem Zeitraum, in welchem die einzelnen Schritte unter normalen Bedingungen durchlaufen werden können, erforderlich. Hieran fehlt es, wenn schon nicht festgestellt worden ist, dass bei einer unterstellten russischen oder georgischen Staatsangehörigkeit eines Betroffenen dieser üblicherweise innerhalb von drei Monaten hätte abgeschoben werden können, wenn er Ausweispapiere seines Heimatlandes besessen hätte. Nur dann aber könnte der Umstand von Bedeutung sein, dass für den Betroffenen Passersatzpapiere beschafft werden müssen. Hierzu muss sich der Haftantrag verhalten. Soweit die Ausländerbehörde keine konkreten Tatsachen hierzu mitteilt, obliegt es gemäß § 26 FamFG dem Gericht nachzufragen. Eine Entscheidung des Beschwerdegerichts wird diesen Grundsätzen nicht gerecht, wenn Feststellungen zu der üblichen Dauer einer Abschiebung eines russischenoder georgischen Staatsangehörigen fehlen.

Tenor

Dem Betroffenen wird für das Rechtsbeschwerdeverfahren Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin Dr. Ackermann bewilligt.

Die Vollziehung der mit Beschluss des Amtsgerichts Bingen vom 6. April 2011 angeordneten und mit Beschluss der 8. Zivilkammer des Landgerichts Mainz vom 18. Mai 2011 aufrechterhaltenen Sicherungshaft wird einstweilen ausgesetzt.

Normenkette:

AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4;

Gründe

I.

Gegen den Betroffenen, nach eigenen Angaben russischer Staatsangehöriger, wurde erstmals am 27. August 2010 die Haft zur Sicherung der Abschiebung angeordnet. Er befindet sich seitdem mit Unterbrechungen zur Vollstreckung von Freiheitsstrafen in Sicherungshaft. Zuletzt hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 6. April 2011 die Verlängerung der Haft bis zum 11. Juli 2011 angeordnet.

Die Beschwerde gegen diese Haftverlängerung hat das Landgericht zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen. Im Wege der einstweiligen Anordnung beantragt er die Aussetzung der Vollziehung der Haftentscheidung.

II.

1.

Der Aussetzungsantrag ist in entsprechender Anwendung von § 64 Abs. 3 FamFG statthaft (st. Rspr. siehe nur Senat, Beschluss vom 14. April 2011 - V ZB 76/11, Rn. 5 [...]; Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 211/10, InfAuslR 2010, 440).

2.

Er ist auch begründet. Bei der gebotenen summarischen Prüfung ist davon auszugehen, dass die Rechtsbeschwerde Erfolg haben wird, weil die Verlängerung der Haft auf einer rechtsfehlerhaften Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG beruhen dürfte. Daher ist die weitere Vollstreckung der Haftanordnung auszusetzen (vgl. Senat, Beschluss vom 14. April 2011 - V ZB 76/11, Rn. 6 [...]; Senat, Beschluss vom 5. Oktober 2010 - V ZB 222/10, InfAuslR 2011, 25).

a)

Die Regelung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG lässt erkennen, dass im Regelfall die Dauer von drei Monaten Haft nicht überschritten werden soll und eine darüber hinausgehende Haftdauer nicht ohne weiteres als verhältnismäßig angesehen werden darf (Senat, Beschluss vom 14. April 2011 - V ZB 76/11, Rn. 7 [...]; Beschluss vom 25. März 2010 - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175 , 1176, Rn. 19). Daraus folgt, dass die Verlängerung einer auf drei Monate befristeten Haftanordnung unzulässig ist, wenn die Abschiebung aus Gründen unterblieben ist, die von dem Ausländer nicht zu vertreten sind (Senat, Beschluss vom 14. April 2011 - ZB 76/11, Rn. 7 [...]; Beschluss vom 25. März 2010 - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175 , 1176 Rn. 19; Beschluss vom 11. Juli 1996 - V ZB 14/96, BGHZ 133, 235 , 238 f. zu § 57 Abs. 2 AuslG ). Dies

erfordert eine Prognose, dass die Abschiebung innerhalb von drei Monaten, gerechnet ab dem Zeitpunkt der (ersten) Haftanordnung (Senat, Beschluss vom 14. April 2011 - V ZB 76/11, Rn. 7, [...]; Beschluss vom 10. Juni 2010 - V ZB 204/09, NVwZ 2010, 1172 Rn. 18; Beschluss vom 25. März 2010 - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175 , 1176 Rn. 18), überhaupt, also ohne Berücksichtigung der von dem Ausländer zurechenbar veranlassten Verzögerung, hätte durchgeführt werden können (Senat, Beschluss vom 14. April 2011 - V ZB 76/11, Rn. 7, [...]).

b)

Diese Prognose hat der Haftrichter grundsätzlich auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Gründe, die der Abschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können, zu erstrecken (Senat, Beschluss vom 14. April 2011 - V ZB 76/11, Rn. 8, [...]; Beschluss vom 25. März 2010 - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175 , 1176 Rn. 17). Hierzu sind konkrete Angaben zum Ablauf des Verfahrens und zu dem Zeitraum, in welchem die einzelnen Schritte unter normalen Bedingungen durchlaufen werden können, erforderlich (Senat, Beschluss vom 14. April 2011 - V ZB 76/11 Rn. 8, [...]; Beschluss vom 25. März 2010 - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175 , 1176 Rn. 17). Hieran fehlt es. Das Beschwerdegericht hat schon nicht festgestellt, dass bei einer unterstellten russischen bzw. georgischen Staatsangehörigkeit des Betroffenen dieser üblicherweise innerhalb von drei Monaten (§ 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG ) hätte abgeschoben werden können, wenn er Ausweispapiere seines Heimatlandes besessen hätte. Nur dann aber könnte der Umstand von Bedeutung sein, dass für den Betroffenen Passersatzpapiere beschafft werden müssen. Hierzu muss sich der Haftantrag verhalten. Soweit die Ausländerbehörde keine konkreten Tatsachen hierzu mitteilt, obliegt es gemäß § 26 FamFG dem Gericht nachzufragen (Senat, Beschluss vom 14. April 2011 - V ZB 76/11 Rn. 8, [...]; Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 193/09, InfAuslR 2010, 361, 363). Die Entscheidung des Beschwerdegerichts wird diesen Grundsätzen nicht gerecht. Feststellungen zu der üblichen Dauer einer Abschiebung eines russischen bzw.

georgischen Staatsangehörigen fehlen. Solche Angaben lassen sich auch nicht dem Antrag der Beteiligten zu 2 vom 31. März 2011 entnehmen. Ob die früheren in Bezug genommenen Haftanträge der Beteiligten zu 2 vom 26. August 2010 und vom 21. Januar 2011 diesen Anforderungen genügen, kann nicht überprüft werden, da sie dem jetzigen Haftantrag - soweit ersichtlich - nicht beigefügt waren.

Vorinstanz: AG Bingen am Rhein, vom 06.04.2011 - Vorinstanzaktenzeichen 110 XIV 12/11
Vorinstanz: LG Mainz, vom 18.05.2011 - Vorinstanzaktenzeichen 8 T 85/11