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BGH - Entscheidung vom 20.07.2010

5 StR 240/10

Normen:
StGB § 21
StGB § 63

BGH, Beschluss vom 20.07.2010 - Aktenzeichen 5 StR 240/10

DRsp Nr. 2010/14389

Erforderlichkeit einer eingehenden Auseinandersetzung eines Tatsachengerichts mit einer möglichen Schuldunfähigkeit i.R.e. Feststellung einer verminderten Schuldfähigkeit; Unrechtseinsichtsfähigkeit eines Schwachsinnigen bei gleichzeitig verminderter Fähigkeit eines der Einsicht entsprechenden Verhaltens

Bei Schwachsinn des Täters kann eine eingehende Prüfung seiner Verbotskenntnis im Zeitpunkt der jeweiligen Taten - wegen der Schwere seiner intellektuellen Beeinträchtigung - erforderlich sein.

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kiel vom 4. Februar 2010 nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum jeweiligen Tatgeschehen aufrecht erhalten. Insoweit wird die weitergehende Revision nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Normenkette:

StGB § 21 ; StGB § 63 ;

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Diebstahl, wegen Sachbeschädigung, Körperverletzung in zwei Fällen, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung und wegen Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die mit der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten ist im Umfang der Beschlussformel erfolgreich.

1.

Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils leidet der 27 Jahre alte Angeklagte unter Schwachsinn (IQ "von ungefähr 50") und verfügt über keine "so genannten kulturbedingten Fertigkeiten wie Rechnen, Schreiben und Lesen" (UA S. 15). Sein eigenes Alter kann er nicht nennen, die Wochentage und die Monate des Jahres nicht aufzählen. Mit der geistigen Behinderung gehen deutliche Verhaltensauffälligkeiten einher; da der Angeklagte nicht über soziale Kompetenz verfügt und kaum in der Lage ist, sich verbal verständlich zu machen, wählt er andere Kommunikationsformen, insbesondere seine Körperkraft. Er ist emotional instabil, leicht zu provozieren und reagiert auf jegliche Reize spontan und impulsiv. Er agiert intuitiv, bedürfnis- und erlebnisorientiert. "Dabei ist er nicht in der Lage, Ursache und Wirkung seines Verhaltens zu erkennen und auseinander zu halten" (UA S. 16).

In der Zeit von Juli 2008 bis März 2009 beging der Angeklagte die abgeurteilten Taten: Da er sich von ihnen provoziert fühlte, wurde er in mehreren Fällen gegen Bekannte gewalttätig, schlug sie, in einem Fall mit einem langen Stock oder einer langen Holzlatte, und trat sie; dabei trug er teilweise Sicherheitsschuhe mit Stahlkappen. Im August 2008 zündete er in einem Unterstand lagernde Strohreste an; dadurch fing der gesamte Unterstand Feuer und brannte vollständig nieder. In einem weiteren Fall brach er einen Schuppen auf, den ein Supermarkt als Warenlager nutzte, und entnahm der Tiefkühltruhe zahlreiche Pakete Tiefkühlware, die er zum Teil selbst verzehrte, zum Teil verschenkte.

Das sachverständig beratene Landgericht geht davon aus, dass der Angeklagte zwar in der Lage ist, das Unrecht seines Tuns einzusehen, jedoch seine Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln, wegen Schwachsinns erheblich vermindert ist (§ 21 StGB ).

2.

Die Revision des Angeklagten führt zur Aufhebung der Schuldsprüche und des gesamten Rechtsfolgenausspruchs.

a)

Rechtsfehlerfrei sind die Feststellungen des Landgerichts zu den Tatgeschehen, die deshalb aufrecht erhalten bleiben können. Sie beruhen auf einer schlüssigen Beweiswürdigung.

b)

Das Urteil belegt bei noch ausreichend eigenständiger Auseinandersetzung mit dem Sachverständigengutachten auch in nachvollziehbarer Weise, dass der Angeklagte seine Taten im Zustand - zumindest - sicher erheblich verminderter Schuldfähigkeit begangen hat. Indes hat das Landgericht eine mögliche Schuldunfähigkeit des Angeklagten nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen.

Zum einen belegt es nicht näher die Feststellung, dass der Angeklagte in der Lage war, das Unrecht seines Tuns einzusehen. Eine eingehende Prüfung der Verbotskenntnis des Angeklagten im Zeitpunkt der jeweiligen Taten war angesichts der Schwere seiner intellektuellen Beeinträchtigung jedoch erforderlich, auch wenn im Verlauf einzelner Taten Anhaltspunkte für eine vorhandene Unrechtseinsicht aufscheinen (Tat 3: Versuch, den Zeugen H. zum "Schmiere stehen" zu veranlassen).

Zum anderen sind die Feststellungen zur Steuerungsfähigkeit des Angeklagten widersprüchlich und weisen auf deren Ausschluss hin. Hierfür sprechen insbesondere auch die wiedergegebenen Ausführungen des Sachverständigen, der Angeklagte sei "ohne nachhaltige therapeutische und vor allem pädagogische Betreuung nicht in der Lage, seine impulsiven, unkontrollierten und auch gewaltsamen Reaktionen auf von ihm empfundene Reize Provokationen und Bedürfnisse zu steuern" (UA S. 19).

Da die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB ) rechtlich untrennbar auf der Beurteilung seiner Schuldfähigkeit beruht, war auch sie aufzuheben.

3.

Sollte das neue Tatgericht wiederum zu einem Ausschluss der völligen Schuldunfähigkeit des Angeklagten gelangen, so wird es zu beachten haben, das bei der Bildung der Einzelstrafe für die zweite Tat eine strafschärfende Berücksichtigung des hohen Gefährdungspotenzials der Tat (Anzünden trockenen Strohs in einem Holzschuppen im Hochsommer) nur in Frage kommt, wenn der Angeklagte zu einer Einsicht in die besondere Gefährlichkeit seines Handels in der Lage war.

Vorinstanz: LG Kiel, vom 04.02.2010