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BGH - Entscheidung vom 03.05.2007

IX ZR 189/02

Normen:
GG Art. 103 Abs. 1

BGH, Beschluß vom 03.05.2007 - Aktenzeichen IX ZR 189/02

DRsp Nr. 2007/9467

Umfang des rechtlichen Gehörs im Zivilverfahren

1. In einem Anwaltsregress der vormals auf zahlung von Unterhalt klagenden Ehefrau trifft die Darlegungs- und Beweislast für einen Unterhaltsverzicht den beklagten Rechtsanwalt.2. Im Anwaltsregress kommt es ausschließlich darauf an, wie das Urteil im Vorprozess richtigerweise hätte ergehen müssen. Der materiellen Gerechtigkeit gebührt der Vorrang. Daher sind neuer Sachvortrag und neue Beweismittel zu berücksichtigen, es sei denn, diese Erkenntnisse hätten im Vorprozess unter keinen Umständen gewonnen werden können.3. Das rechtliche Gehör ist verletzt, wenn das Gericht einen Unterhaltsverzicht der klagenden Ehefrau als unstreitig zugrunde legt, obwohl diese einen Verzicht bestritten hat.

Normenkette:

GG Art. 103 Abs. 1 ;

Gründe:

I. Die Klägerin begehrt von den Beklagten Schadensersatz wegen Verletzung von Anwaltspflichten. Sie erbringt für E. S. Sozialhilfeleistungen. Frau S. war seit dem 25. Januar 1954 verheiratet mit B.. Aus der Ehe gingen zwei Söhne hervor. Die Eheleute lebten in Rumänien. Am 25. März 1959 wurde die Ehe aus alleinigem Verschulden des Ehemannes geschieden. Am 25. Juli 1965 gebar Frau S. einen weiteren Sohn des geschiedenen Ehemannes, W.. B. wollte aus Rumänien ausreisen und benötigte dafür eine Erklärung seiner geschiedenen Ehefrau, dass diese keine finanziellen Forderungen gegen ihn habe. Gegen Zahlung von 25.000 Lei gab die geschiedene Ehefrau eine Erklärung ab, die B. für die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1979 verwendete. Im Mai 1990 folgte ihm die geschiedene Ehefrau nach.

Die Klägerin verlangte aus übergegangenem Recht der Frau S. von dem geschiedenen Ehemann Unterhalt. Die beim Amtsgericht erhobene Klage blieb erfolglos. Die Klägerin beauftragte daraufhin die Beklagten, gegen das Urteil Berufung einzulegen. Der für die Beklagten tätige Rechtsanwalt versäumte die Frist zur Begründung der Berufung. Die Klägerin nahm deshalb die Berufung zurück und verlangt von den Beklagten Schadensersatz. Das Landgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, ein Unterhaltsanspruch habe nicht bestanden. Die Aussicht auf ein durch Arbeit in Deutschland verdientes erhöhtes Renteneinkommen des Ehemannes habe die ehelichen Lebensverhältnisse nicht geprägt. Die hiergegen eingelegte Berufung ist ohne Erfolg geblieben. Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil richtet sich die vorliegende Beschwerde der Klägerin.

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Sie führt wegen der Verletzung des rechtlichen Gehörs der Klägerin zur Aufhebung und Zurückverweisung, § 544 Abs. 7 ZPO .

1. Die Revision ist gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO zuzulassen. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert ein Eingreifen des Bundesgerichtshofs, wenn die angefochtene Entscheidung sich als objektiv willkürlich darstellt oder Verfahrensgrundrechte einer Partei verletzt und die Entscheidung darauf beruht (BGHZ 151, 221 , 226 ff.; 154, 288, 296; BGH, Beschl. v. 11. Mai 2004 - XI ZB 39/03, WM 2004, 1407 , 1408 f.). Dies ist vorliegend der Fall, weil das Berufungsgericht den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG dadurch verletzt hat, dass es deren Vorbringen zum Inhalt der Verzichtserklärung unbeachtet gelassen hat.

a) Das Berufungsgericht hat als unstreitig angenommen, dass E. S. gegenüber ihrem geschiedenen Ehemann eine Erklärung folgenden Inhalts abgegeben hat: "Ich, E. S., wohnhaft ..., bestätige hiermit, dass ich keinerlei Ansprüche finanziell/materiell mehr gegenüber meinem geschiedenen Ehemann B., ... habe. Diese Bescheidung dient zum Erhalt eines Reisepasses."

Es hat diese Erklärung dahin ausgelegt, dass die Ehefrau darin erklärt, selbst keine finanziellen Ansprüche gegen den geschiedenen Ehemann mehr zu haben, sowohl für die Vergangenheit wie für die Zukunft. Damit hat es rechtserheblichen Sachvortrag der Klägerin unberücksichtigt gelassen. Diese hat unter Beweisantritt ausgeführt, dass Frau S. lediglich auf Unterhaltsansprüche des dritten Sohnes W. gegen seinen Vater verzichtet habe, nicht aber auf eigene Unterhaltsansprüche; eine Verzichtserklärung des von den Beklagten behaupteten Inhalts habe sie niemals abgegeben.

Im Berufungsverfahren hat die Klägerin auf einen Hinweis des Berufungsgerichts, dass der Inhalt der Erklärung im Vorprozess unstreitig gewesen sei, mit Schriftsatz vom 23. April 2002 ihren Standpunkt bekräftigt, dass Frau S. niemals einen Verzicht erklärt habe und dass auch im Vorprozess eine Abfindung für eigene Unterhaltsansprüche der Frau S. bestritten worden sei.

b) Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass das Gericht dieser Pflicht genügt hat, selbst wenn es sich nicht mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich befasst hat. Anders liegt es jedoch, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist. Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war (BVerfGE 47, 182 , 189; 65, 293, 295; 70, 288, 293; 86, 133, 145 f.).

c) Das Berufungsgericht hat seiner Entscheidung maßgeblich die von den Beklagten behauptete Verzichtserklärung zugrunde gelegt. Dies lässt den Schluss zu, dass es das Bestreiten der Klägerin bei seiner Entscheidung außer Acht gelassen hat. Nach seinem Rechtsstandpunkt kam es darauf an, dass sich die Verzichtserklärung auch auf eigene Ansprüche der Frau S. erstreckte.

Darlegungs- und beweispflichtig für einen Verzicht der Frau S. auch auf eigene Unterhaltsansprüche war im Unterhaltsprozess der Ehemann. Im Regressprozess trifft deshalb die Darlegungs- und Beweislast für den Verzicht die Beklagten; denn die Regeln des Ausgangsrechtsstreits sind auch im Regressprozess anzuwenden (BGHZ 72, 328, 330; 133, 110, 115; BGH, Beschl. v. 4. März 2004 - IX ZR 180/02, FamRZ 2004, 779 , 780; st. Rspr.; Fischer in Zugehör/Fischer/Sieg/Schlee, Handbuch der Anwaltshaftung, 2. Aufl. Rn. 1078).

Entscheidend ist nicht, wie das Urteil im Vorprozess tatsächlich gelautet hätte, sondern vielmehr, wie es richtigerweise hätte ergehen müssen. Der materiellen Gerechtigkeit gebührt der Vorrang. Deshalb sind neuer Sachvortrag und neue Beweismittel zu berücksichtigen (BGHZ 30, 226, 232; 133, 110, 115; Fischer, aaO. Rn. 1073 ff.), es sei denn, diese Erkenntnis hätte im Vorprozess unter keinen Umständen gewonnen werden können (vgl. BGHZ 163, 223 , 229 ff.).

Nachdem die Klägerin die von dem Beklagten behauptete Verzichtserklärung hinsichtlich der eigenen Unterhaltsansprüche bestritten hatte, durfte das Berufungsgericht die Verzichtserklärung insoweit nicht als unstreitig ansehen, sondern musste den von den Beklagten angebotenen Beweis, gegebenenfalls auch den von der Klägerin angebotenen Gegenbeweis erheben.

Das Berufungsgericht durfte auch nicht davon ausgehen, dass die Klägerin lediglich den von den Beklagten behaupteten Sinn der Verzichtserklärung, nicht aber den Wortlaut bestreiten wollte. Aus dem Vorbringen der Klägerin ergab sich zweifelsfrei, dass die Existenz einer Verzichtserklärung des von dem Beklagten behaupteten Inhalts und damit auch ein entsprechender Wortlaut bestritten wurde.

d) Auf diesem Verstoß des Berufungsgerichts gegen das Grundrecht der Klägerin auf rechtliches Gehör beruht das Berufungsurteil. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die erforderliche Beweisaufnahme zu einem anderen als dem vom Berufungsgericht angenommenen Ergebnis geführt hätte.

2. Danach kommt es nicht mehr darauf an, dass das Berufungsurteil verfahrensfehlerhaft die Berufungsanträge nicht wiedergibt und somit nicht erkennen lässt, welches Ziel die Klägerin mit ihrer Berufung verfolgt hat (vgl. BGHZ 158, 60 , 62).

3. Da das Berufungsgericht das rechtliche Gehör der Klägerin in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat, macht der Senat gemäß § 544 Abs. 7 ZPO von der seit 1. Januar 2005 gemäß Art. 22 des Anhörungsrügengesetzes vom 9. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3220) auch für Altfälle geschaffenen Möglichkeit Gebrauch, das Urteil durch Beschluss aufzuheben und den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Können die Beklagten nicht beweisen, dass eine Verzichtserklärung der Ehefrau hinsichtlich ihres eigenen Unterhaltsanspruchs vorlag, wird das Berufungsgericht die Voraussetzungen des Unterhaltsanspruchs im Einzelnen zu prüfen haben.

Vorinstanz: OLG Hamburg, vom 21.06.2002 - Vorinstanzaktenzeichen 12 U 83/99
Vorinstanz: LG Hamburg, vom 12.06.1998 - Vorinstanzaktenzeichen 303 O 56/98