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BVerfG - Entscheidung vom 27.12.2022

1 BvR 1943/22

Normen:
BGB § 1666 Abs. 1
BGB § 1684 Abs. 4
GG Art. 6 Abs. 2 S. 1
GG Art. 6 Abs. 3
BVerfGG § 23 Abs. 1 S. 2
BVerfGG § 92
BGB § 1666 Abs. 1
BGB § 1684 Abs. 4 S. 2

BVerfG, Beschluss vom 27.12.2022 - Aktenzeichen 1 BvR 1943/22

DRsp Nr. 2023/14520

Ablehnung des Antrags auf Prozesskostenhilfe für eine Verfassungsbeschwerde wegen des Ausschluss des Umgangs zwischen den beschwerdeführenden Eltern und ihrer Tochter

Tenor

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts wird abgelehnt, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Normenkette:

BGB § 1666 Abs. 1 ; BGB § 1684 Abs. 4 ;

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft einen rund zweijährigen Ausschluss des Umgangs zwischen den beschwerdeführenden Eltern und ihrer Tochter.

I.

1. Die Beschwerdeführenden sind die Eltern einer 2013 geborenen Tochter. Das Sorgerecht unter anderem zur Aufenthaltsbestimmung wurde ihnen entzogen und auf das Jugendamt übertragen. Die Tochter lebt seit 2019 in einer Pflegefamilie und sie ist seit April 2022 in Behandlung bei einer Traumatherapeutin. Die Traumatherapeutin ist studierte Heilpädagogin und seit 1999 approbierte Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche; sie verfügt zudem über mehrere Ausbildungen in Traumatherapie.

2. Im hier zugrundeliegenden Ausgangsverfahren hatten die Beschwerdeführenden unter Abänderung der bis dahin bestehenden Umgangsregelung wöchentlich mehrstündige unbegleitete Umgangskontakte mit ihrer Tochter begehrt. Dem war das Familiengericht in seinem angegriffenen Beschluss vom 30. Mai 2022 lediglich insoweit nachgekommen, als es monatlich einstündige begleitete Umgangskontakte angeordnet hatte. Auf Beschwerde des Jugendamts als Amtspfleger und des Verfahrensbeistandes der Tochter sowie unter Zurückweisung der Beschwerde der Beschwerdeführenden schloss das Oberlandesgericht mit angegriffenem Beschluss vom 6. September 2022 die Umgangskontakte bis September 2024 aus. Bei der Tochter der Beschwerdeführenden handele es sich um ein hochtraumatisiertes, behandlungsbedürftiges Kind mit Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Umgangskontakte mit den Beschwerdeführenden gingen mit der Gefahr einer Retraumatisierung der Tochter einher und stünden daher der erforderlichen Traumatherapie entgegen. Ohne eine solche Therapie sei aber das körperliche, geistige und seelische Wohl der Tochter gefährdet. Für diese Einschätzungen und Wertungen stützte sich das Oberlandesgericht unter anderem auf eine schriftliche Stellungnahme der Traumatherapeutin, die es im Termin als sachverständige Zeugin angehört hatte, sowie auf ein 2020 in einem Vorverfahren erstelltes Gutachten einer psychologischen Sachverständigen und eine dort erfolgte Interaktionsbeobachtung.

3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführenden eine Verletzung von Art. 6 GG und von Art. 8 EMRK . Sie meinen, dass das Oberlandesgericht nicht ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens habe entscheiden dürfen und bezweifeln die Qualifikation der als sachverständige Zeugin gehörten Traumatherapeutin.

Die Beschwerdeführenden beantragen ferner, ihnen Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Bevollmächtigten zu bewilligen.

II.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die dafür nach § 93a Abs. 2 BVerfGG erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen. Sie ist insgesamt aus verschiedenen Gründen unzulässig. Soweit dies auf der Grundlage ihrer Begründung und der dazu vorgelegten Unterlagen beurteilt werden kann, hätte sie auch in der Sache keinen Erfolg.

1. Der gegen den Beschluss des Familiengerichts vom 30. Mai 2022 gerichteten Verfassungsbeschwerde fehlt es an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis. Die Entscheidung ist durch den vollumfänglichen und auf eigenen Feststellungen beruhenden Beschluss des Oberlandesgerichts vom 6. September 2022 prozessual überholt (vgl. BVerfGK 10, 134 <138>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. September 2022 - 1 BvR 1807/20 -, Rn. 35). Weder haben die Beschwerdeführenden dargelegt noch ist ersichtlich, dass sie durch den in der Beschwerdeinstanz abgeänderten Beschluss des Familiengerichts weiterhin in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt sein könnten.

2. Soweit die Beschwerdeführenden sich gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts wenden, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig, weil deren Begründung nicht den aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG folgenden Darlegungsanforderungen genügt.

a) Richtet sich eine Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen, so zählt zu den Anforderungen an die hinreichende Begründung auch die Vorlage der angegriffenen Entscheidungen und derjenigen Schriftstücke, ohne deren Kenntnis die Berechtigung der geltend gemachten Rügen sich nicht beurteilen lässt, zumindest aber deren Wiedergabe ihrem wesentlichen Inhalt nach, weil das Bundesverfassungsgericht nur so in die Lage versetzt wird, zu beurteilen, ob die Entscheidungen mit dem Grundgesetz in Einklang stehen (vgl. BVerfGE 112, 304 <314 f.>; 129, 269 <278>; stRspr). Dazu kann je nach Angriffsgegenstand auch die Vorlage von vorangegangenen Gerichtsentscheidungen oder Sachverständigengutachten gehören (vgl. BVerfGK 14, 402 <417>).

b) Dem haben die Beschwerdeführenden nicht entsprochen. Das Oberlandesgericht hat seine rechtliche Wertung, dass eine nach § 1684 Abs. 4 Satz 2 BGB für einen länger andauernden Ausschluss des elterlichen Umgangs mit dem Kind erforderliche Kindeswohlgefährdung vorliegt, maßgeblich auch auf ein in einem vorangegangenen familiengerichtlichen Verfahren eingeholtes Gutachten einer Diplom-Psychologin aus dem Jahr 2020 gestützt. Insbesondere hat das Oberlandesgericht dem Gutachten Hinweise entnommen, die nach seiner Wertung die Einschätzung der im Ausgangsverfahren als sachverständige Zeugin gehörten Traumatherapeutin über eine (behandlungsbedürftige) Traumatisierung der Tochter bestätigen. Dieses Gutachten haben die Beschwerdeführenden weder vorgelegt noch dem wesentlichen Inhalt nach wiedergegeben. Ohne Kenntnis des Gutachtens wird das Bundesverfassungsgericht aber nicht in die Lage versetzt, auf ausreichender Grundlage zu prüfen, ob dem Oberlandesgericht unter Verletzung von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 3 GG deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts unterlaufen sind, auf den es eine Gefährdung des Wohls der Tochter der Beschwerdeführenden im Fall von Umgangskontakten während der prognostizierten Dauer der Traumatherapie stützt.

3. Auf der Grundlage der Verfassungsbeschwerde und der dazu vorgelegten ‒ unvollständigen - Unterlagen ist trotz des hier anzulegenden strengen verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (dazu Rn. 15 ff.) jedenfalls nicht erkennbar, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts, den Umgang mit der Tochter bis zum 1. September 2024 auszuschließen, die Beschwerdeführenden in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzte.

a) Das Umgangsrecht eines Elternteils steht unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG . Gleiches gilt für den Umgang beider Eltern, wenn das Kind nicht bei ihnen lebt. Das Umgangsrecht ermöglicht dem umgangsberechtigten Elternteil, sich von dem körperlichen und geistigen Befinden des Kindes und seiner Entwicklung durch Augenschein und gegenseitige Absprache fortlaufend zu überzeugen, die verwandtschaftlichen Beziehungen zu ihm aufrechtzuerhalten und einer Entfremdung vorzubeugen, sowie dem Liebesbedürfnis beider Teile Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 31, 194 <206>; 64, 180 <187 f.>; stRspr). Entsprechendes gilt auch für den Fall, dass das Kind nicht bei einem Elternteil, sondern in einer Pflegefamilie lebt. Denn in der Regel entspricht es dem Kindeswohl, die familiären Beziehungen aufrechtzuerhalten und das Kind nicht vollständig von seinen Wurzeln zu trennen (vgl. BVerfGK 4, 339 <347>; 17, 407 <411>; 20, 135 <141>).

b) Der Maßstab für die verfassungsrechtliche Überprüfung von einen Umgangsausschluss anordnenden fachgerichtlichen Entscheidungen ist nicht stets gleich. Er bestimmt sich im Grundsatz vor allem danach, ob der Ausschluss des Umgangs Lebensverhältnisse betrifft, in denen das betroffene Kind ohnehin bereits von beiden Elternteilen getrennt lebt oder nicht.

aa) Grundsätzlich hat das Bundesverfassungsgericht die von den Fachgerichten getroffenen tatsächlichen Feststellungen und die von ihnen im Einzelnen vorgenommene Abwägung nicht nachzuprüfen. Der verfassungsgerichtlichen Prüfung unterliegt jedoch, ob fachgerichtliche Entscheidungen auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>). Dieser eingeschränkte Prüfungsmaßstab gilt im Grundsatz auch für einen Umgangsausschluss, jedenfalls wenn es um den Ausgleich der Rechte zwischen den Eltern geht (vgl. BVerfGK 20, 135 <142 f.>), das Kind also bei einem Elternteil lebt und der Umgang mit dem anderen Elternteil ausgeschlossen wird. Denn insoweit liegt keine Trennung des Kindes von beiden Eltern im Sinne des Art. 6 Abs. 3 GG vor.

bb) Steht dagegen eine langfristige Trennung des Kindes von beiden Eltern im Raum - wie bei einem Umgangsausschluss der Eltern im Verhältnis zu ihrem fremduntergebrachten Kind -, ist der fachgerichtlich angeordnete Umgangsausschluss an dem strengeren Prüfungsmaßstab des Art. 6 Abs. 3 GG zu messen (vgl. BVerfGK 20, 135 <142 f.>). Es gelten dann Anforderungen, die denjenigen für einen Entzug der elterlichen Sorge gegenüber beiden Elternteilen entsprechen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Mai 2022 - 1 BvR 326/22 -, Rn. 13).

(1) Dieser strenge Prüfungsmaßstab bedeutet, dass neben der Frage, ob die angefochtene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen, auch einzelne Auslegungsfehler nicht außer Betracht bleiben (vgl. BVerfGE 42, 163 <169>; 79, 51 <63>; stRspr). Die verfassungsgerichtliche Kontrolle erstreckt sich in diesen Fällen ausnahmsweise auch auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts (vgl. BVerfGE 136, 382 <391 Rn. 28>; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats vom 5. September 2022 - 1 BvR 65/22 -, Rn. 23, und vom 16. September 2022 - 1 BvR 1807/20 -, Rn. 46; stRspr).

(2) Verfassungsrechtlich sind die Gerichte dabei gehalten, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen. Dafür ist die Einholung eines Sachverständigengutachtens auch in einem Hauptsacheverfahren nicht stets erforderlich (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>). Wenn das Gericht aber von der Beiziehung eines Sachverständigen absieht, muss es anderweit über eine möglichst zuverlässige Entscheidungsgrundlage verfügen (vgl. BVerfGK 9, 274 <279>; BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 30. August 2014 - 1 BvR 1409/14 -, Rn. 15, und vom 14. April 2021 - 1 BvR 1839/20 -, Rn. 20). Verfassungsrechtlich kommt es bei der Beurteilung eines Eingriffs in das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG insoweit darauf an, dass die Gerichte den Sachverhalt dergestalt ermittelt haben, dass eine möglichst zuverlässige Tatsachengrundlage für eine am Wohl des Kindes orientierte Entscheidung vorliegt. Deutliche Fehler bei der Feststellung des Sachverhalts liegen jedenfalls dann vor, wenn nicht hinreichend erkennbar wird, auf welche Erkenntnisgrundlage die Gerichte ihre tatsächlichen Annahmen stützen. Gleiches kommt in Betracht, wenn die Erkenntnisquellen des Gerichts zu einer entscheidungserheblichen Frage inhaltlich voneinander abweichen und das Gericht in einem solchen Fall nicht weitere Erkenntnisquellen nutzt oder nicht deutlich macht, aus welchem Grund es einer der voneinander abweichenden Erkenntnisquellen folgt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. Februar 2022 - 1 BvR 1655/21 -, Rn. 10).

c) Auf der Grundlage der vorgelegten Unterlagen und der Begründung der Verfassungsbeschwerde sind im Sinne des strengen Prüfungsmaßstabs deutliche Fehler des Oberlandesgerichts bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts nicht erkennbar.

Ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass das Oberlandesgericht von Verfassungs wegen gehalten gewesen sein könnte, im Ausgangsverfahren ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen, sind nicht ersichtlich. Mit der im Bereich der Kinder-Traumatherapie spezialisierten und langjährig praktizierenden sachverständigen Zeugin, ihrer schriftlichen Stellungnahme sowie ihrer mündlichen Aussage verfügte das Oberlandesgericht über aussagekräftige und belastbare Nachweise für eine Traumatisierung des Kindes im elterlichen Haushalt und für eine konkrete Gefährdung des Kindes bei jedweden Umgangskontakten mit den Eltern während der Traumatherapie. Die Tragfähigkeit der auf die Einschätzung der sachverständigen Zeugin gestützten Feststellungen und Wertungen wird nicht durch die seitens der Beschwerdeführenden behauptete mangelnde Qualifikation der Therapeutin in Frage gestellt. Soweit aus den vorgelegten Unterlagen zu entnehmen, verfügt die sachverständige Zeugin über Qualifikationen, die den nach § 163 Abs. 1 Satz 1 FamFG an Sachverständige zu stellenden Anforderungen genügen. Angesichts dessen ist nicht ersichtlich, dass dem Oberlandesgericht deutliche Fehler bei der Sachverhaltsfeststellung unterlaufen wären, wenn es sich bei seiner Einschätzung einer drohenden Kindeswohlgefährdung auf Angaben der sachverständigen Zeugin stützt. Dass es sich dabei um die Therapeutin der Tochter handelt, stellt die Tragfähigkeit der Sachverhaltsfeststellungen ebenfalls nicht in Frage. Ausschlussgründe für die Bestellung von Behandlern als Sachverständige, wie sie etwa § 329 Abs. 2 Satz 2 FamFG für Unterbringungssachen vorsieht, kommen hier bei einer sachverständigen Zeugin nicht in Betracht.

Ausweislich der Gründe des angegriffenen Beschlusses hat das Oberlandesgericht zudem mit dem psychologischen Sachverständigengutachten aus dem früheren familiengerichtlichen Verfahren, den Stellungnahmen von Verfahrensbeistand und Jugendamt sowie dem Ergebnis der persönlichen Anhörung des Kindes über weitere Erkenntnisquellen für die Bewertung des Vorliegens einer Kindeswohlgefährdung verfügt. Soweit ohne Kenntnis des genannten Gutachtens beurteilbar, stand dem Oberlandesgericht damit eine dem strengen Prüfungsmaßstab genügende hinreichende Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zur Verfügung. Auch hat das Oberlandesgericht in seiner Entscheidung nachvollziehbar dargelegt, warum es von der Einholung eines Gutachtens im Ausgangsverfahren abgesehen hat.

4. Aufgrund der fehlenden Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde war den Beschwerdeführenden keine Prozesskostenhilfe zu bewilligen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Vorinstanz: AG Verden, vom 30.05.2022 - Vorinstanzaktenzeichen 5 F 96/22
Vorinstanz: OLG Celle, vom 06.09.2022 - Vorinstanzaktenzeichen 19 UF 92/22