Kontakt : 0221 / 93 70 18 - 0
Wir durchsuchen unsere Datenbank

BVerwG - Entscheidung vom 06.05.2020

1 C 14.19

Normen:
RL 2008/115/EG Art. 2 Abs. 2 Buchst. b)
AufenthG § 11
AufenthG § 50 Abs. 1
AufenthG § 53 Abs. 1
AufenthG § 59 Abs. 1 S. 1

Fundstellen:
ZAR 2020, 435

BVerwG, Beschluss vom 06.05.2020 - Aktenzeichen 1 C 14.19

DRsp Nr. 2020/10589

Stellungnahme des Bundesverwaltungsgerichts zu einem Auskunftsersuchen des Gerichtshofs der Europäischen Union; Bestätigung der fehlenden Entziehung von infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtigen Drittstaatsangehörigen gemäß Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2008/115/EG dem Anwendungsbereich der Richtlinie; Möglichkeit einer lediglich punktuellen Abweichung

1. Die Bundesrepublik Deutschland hat nicht gemäß Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2008/115/EG beschlossen, Drittstaatsangehörige, die infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind, dem Anwendungsbereich der Richtlinie insgesamt zu entziehen.2. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG ist durch die Behörde zu erlassen.

Tenor

Das Bundesverwaltungsgericht nimmt zu dem unter dem 24. April 2020 übermittelten Auskunftsersuchen des Gerichtshofs der Europäischen Union wie in den Gründen dieses Beschlusses ausgeführt Stellung.

Normenkette:

RL 2008/115/EG Art. 2 Abs. 2 Buchst. b); AufenthG § 11 ; AufenthG § 50 Abs. 1 ; AufenthG § 53 Abs. 1 ; AufenthG § 59 Abs. 1 S. 1;

Gründe

1. Der Gerichtshof der Europäischen Union ersucht das vorlegende Gericht zu bestätigen, ob die Darstellung der deutschen Rechtslage seitens der deutschen Regierung in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen und die dort vertretene Auffassung, die Bundesrepublik Deutschland habe von der Option des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2008/115/EG Gebrauch gemacht, zutreffen.

Das Bundesverwaltungsgericht hält an seiner - bereits in dem Vorlagebeschluss vertretenen - Auslegung der deutschen Rechtslage fest, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht gemäß Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2008/115/EG beschlossen hat, Drittstaatsangehörige, die infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind, dem Anwendungsbereich der Richtlinie insgesamt zu entziehen. Das gilt auch nach der nach Ergehen des Vorlagebeschlusses etwas geänderten Rechtslage, die nunmehr auf den Rechtsstreit Anwendung findet.

§ 11 AufenthG ist mit dem Zweiten Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 (BGBl. I S. 1294 ) mit Wirkung vom 21. August 2019 wie folgt gefasst worden:

§ 11 Einreise- und Aufenthaltsverbot

(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden.

(2) Im Falle der Ausweisung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen. Ansonsten soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Abschiebungsandrohung oder Abschiebungsanordnung nach § 58a unter der aufschiebenden Bedingung der Ab- oder Zurückschiebung und spätestens mit der Ab- oder Zurückschiebung erlassen werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Frist beginnt mit der Ausreise. ....

(3) Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten.

(4) ...

(5) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.

...

Weder in § 11 AufenthG (alter wie neuer Fassung) noch in anderen Regelungen des Aufenthaltsgesetzes findet sich ein - ausdrücklicher oder doch sonst hinreichend klarer - Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber Drittstaatsangehörige, die infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind, (insgesamt) vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausnehmen wollte.

Allerdings enthielten auch die vorherigen Fassungen der nunmehr in § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG getroffenen Regelung bereits die Ermächtigung zu einer über fünf Jahre hinausgehenden Dauer des Einreiseverbots und wurde in den Begründungen der jeweiligen Gesetzentwürfe in diesem Zusammenhang auf Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2008/115/EG Bezug genommen (BT-Drs. 17/6053 S. 7 i.V.m. BT-Drs. 17/5470 S. 21; BT-Drs. 18/4097 S. 36). In der Stellungnahme der deutschen Regierung wird insbesondere die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 12. April 2011 (BT-Drucks. 17/5470 S. 21) zutreffend wiedergegeben, der zufolge "[d]ie in dem neuen Satz 4 [des § 11 Abs. 1 AufenthG a.F.] vorgesehenen Ausnahmen von der regelmäßigen Höchstfrist von 5 Jahren ... auf Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe b - gegenüber verurteilten Straftätern wird der Anwendungsbereich der Richtlinie insoweit eingeschränkt- und Artikel 11 Absatz 2 Satz 2 (schwerwiegende Gefahr für die Sicherheit und Ordnung) der Rückführungsrichtlinie [beruhen]".

Aus dieser Begründung ergibt sich aber lediglich, dass der Gesetzgeber in Bezug auf Drittstaatsangehörige, die wegen strafgerichtlicher Verurteilungen ausgewiesen worden und deshalb "infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig" sind, unter Berufung auf Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2008/115/EG punktuell ("insoweit") von einer bestimmten Regelung der Richtlinie abweichen wollte: Drittstaatsangehörige, die nach einzelstaatlichem Recht infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind, sollten von dem personellen Anwendungsbereich des Art. 11 Abs. 2 RL 2008/115/EG, der die Geltungsdauer des Einreiseverbots im Grundsatz auf die Höchstdauer von fünf Jahren beschränkt und Ausnahmen nur bei schwerwiegender Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit zulässt, ausgenommen werden. Es fehlen indes Anhaltspunkte für eine darüber hinaus gehende Absicht, Drittstaatsangehörige, die wegen strafgerichtlicher Verurteilungen ausgewiesen worden sind, dem gesamten Anwendungsbereich der Richtlinie zu entziehen.

Im Ergebnis nicht entscheidungserheblich ist, ob Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2008/115/EG den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einer lediglich punktuellen Abweichung eröffnet; wäre dies nicht der Fall, so wäre Rechtsfolge die Nichtanwendbarkeit der verlängerten Fristen.

Etwas anderes ergibt sich nach Ansicht des vorlegenden Gerichts auch nicht aus dem Urteil des Gerichtshofs vom 19. September 2013 - C-297/12, Filev und Osmani - (vgl. insbesondere Rn. 54), in dem der Gerichtshof hinsichtlich der - dort nicht entscheidungserheblichen - Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland zu einem späteren als dem dort maßgeblichen Zeitpunkt von der in Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2008/115/EG vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, die Beurteilung des vorlegenden Amtsgerichts zugrunde gelegt hat.

2. Der Gerichtshof ersucht weiter um Klarstellung der Verbindung, die nach dem nationalen Recht zwischen der gegen den Kläger des Ausgangsverfahrens verhängten strafrechtlichen Sanktion und den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden verwaltungsrechtlichen Maßnahmen besteht. Diese Verbindung wird - anknüpfend an die Ausführungen im Vorlagebeschluss (Rn. 13 ff., 25, 26, 29) - nochmals wie folgt erläutert:

Strafgerichtliche Verurteilungen können nach nationalem Recht zu einer Ausweisung führen. Ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, wird nach § 53 Abs. 1 AufenthG ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. §§ 54 und 55 AufenthG präzisieren und gewichten die hierbei zu berücksichtigenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen. Eine solche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung kann aus strafgerichtlichen Verurteilungen in der Vergangenheit folgen, wenn entweder Wiederholungsgefahr besteht (spezialpräventive Ausweisung) oder die Ausweisung zur Abschreckung anderer Ausländer von der Begehung vergleichbarer Straftaten auch unter Berücksichtigung des zwischenzeitlichen Zeitablaufs (noch) erforderlich erscheint (generalpräventive Ausweisung). Eine solche Ausweisung ist gegenüber dem Kläger hier mit Ordnungsverfügung vom 24. Februar 2014 erlassen worden (Vorlagebeschluss Rn. 4). Sie ist maßgeblich auf die Verurteilungen des Klägers wegen von ihm begangener Straftaten (Vorlagebeschluss Rn. 3) und das daraus folgende Interesse gestützt worden, andere Ausländer von der Begehung vergleichbarer Straftaten abzuhalten (generalpräventive Erwägungen). Das Bundesverwaltungsgericht hat die Rechtmäßigkeit dieser Ausweisung durch Urteil vom 9. Mai 2019 - 1 C 21.18 - bestätigt, wodurch diese bestandskräftig geworden ist (Vorlagebeschluss Rn. 8).

Das Einreiseverbot, das den Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens bildet, war nach dem im Vorlagebeschluss zugrunde gelegten nationalen Recht (dort Rn. 13) kraft Gesetzes nicht nur mit jeder Abschiebung, sondern auch mit einer jeden Ausweisung verbunden. Es brauchte von der Behörde nicht gesondert angeordnet zu werden, musste durch diese jedoch von Amts wegen befristet werden. Diese Rechtslage ist durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 (BGBl. I S. 1294 ), das auf den Rechtsstreit Anwendung findet, dahin geändert worden, dass das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG nunmehr (in allen dort vorgesehenen Fällen) durch die Behörde zu erlassen ist.

Hintergrund der Gesetzesänderung war eine Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, nach der ein allein auf einer Anordnung des Gesetzgebers beruhendes Einreise- und Aufenthaltsverbot, jedenfalls soweit es an eine Abschiebung anknüpft, nicht im Einklang mit der Richtlinie 2008/115/EG (insbesondere mit deren Art. 3 Nr. 6) steht. Das Bundesverwaltungsgericht ist in diesen Fällen aber davon ausgegangen, dass die behördliche Befristung eines (vermeintlich) kraft Gesetzes eintretenden Einreiseverbots regelmäßig so ausgelegt werden kann, dass damit ein Einreiseverbot von bestimmter Dauer angeordnet wird (BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - Leitsatz 1). Dementsprechend kann auch hier die durch die Behörde vorgenommene Befristung als Erlass eines befristeten Einreiseverbots verstanden werden (siehe auch Vorlagebeschluss Rn. 27).

Nichts geändert hat sich durch die neue Rechtslage daran, dass das Einreiseverbot in Ausweisungsfällen nach nationalem Recht bereits mit der Ausweisung einhergeht (s.o. § 11 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 AufenthG ), unabhängig davon, ob zugleich auch eine Abschiebungsandrohung erlassen wird (s. a. Vorlagebeschluss Rn. 29, 35). Die Ausweisung bewirkt allerdings regelmäßig zunächst nur die Beendigung des legalen Aufenthalts im Sinne von Art. 6 Abs. 6 RL 2008/115/EG. Denn gemäß § 51 Abs. 1 Halbs. 1 Nr. 5 AufenthG erlischt ein dem Ausländer erteilter Aufenthaltstitel im Falle seiner Ausweisung (Vorlagebeschluss Rn. 32). Dadurch wird der Ausländer nach § 50 Abs. 1 AufenthG kraft Gesetzes ausreisepflichtig.

Gemäß § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung unter Bestimmung einer angemessenen Frist für die freiwillige Ausreise anzudrohen. In dieser Abschiebungsandrohung sieht das vorlegende Gericht die Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115/EG (näher Vorlagebeschluss Rn. 31 f.). Sie ergeht bei Ausweisungen in der Regel zeitgleich mit der Ausweisung. Das nationale Recht knüpft den Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots in § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG aber bereits an die Ausweisung, verpflichtet also zu seinem Erlass auch dann, wenn keine Abschiebungsandrohung ergeht oder diese - wie hier - später durch die Behörde wieder aufgehoben wird.

Fundstellen
ZAR 2020, 435