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BVerwG - Entscheidung vom 01.10.2020

8 B 39.20

Normen:
VermG § 1 Abs. 1 Buchst. a)
VwGO § 108 Abs. 1 S. 2

BVerwG, Beschluss vom 01.10.2020 - Aktenzeichen 8 B 39.20

DRsp Nr. 2020/16652

Darstellen der Anordnung der staatlichen Treuhandverwaltung, Festsetzung von Steuerforderungen oder Liquidation der Gesellschaft als eine entschädigungslose Enteignung; Rückgabe oder Entschädigung für den Verlust der Spielwarenfabrik und Sportgerätefabrik wegen staatlicher Verwaltung i.R.d. wirtschaftlichen Betätigung Privater in der DDR

Pauschale Kritik an der tatsächlichen und rechtlichen Bewertung des Gerichts begründet keine Verletzung des Verfahrensrechts.

Tenor

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 4. März 2020 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 17. April 2020 wird zurückgewiesen.

Die Klägerinnen tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Normenkette:

VermG § 1 Abs. 1 Buchst. a); VwGO § 108 Abs. 1 S. 2;

Gründe

Die Klägerinnen sind Rechtsnachfolger von Herrn W. B. Dieser war Komplementär der am 1. Januar 1947 gegründeten W. B. KG in Kamenz. Er trat mit Wirkung zum 1. Juli 1951 aus der Gesellschaft aus. Zwischen W. B. und den Finanzbehörden der DDR kam es in der Folgezeit zu Auseinandersetzungen über die steuerrechtlichen Folgen dieses Austritts und weiterer gesellschaftsrechtlicher Vorgänge. Am 15. Mai 1957 verließ W. B. das Gebiet der DDR. Mit Wirkung vom 1. Januar 1959 wurde das Unternehmen in staatliche Verwaltung genommen und zunächst der VEB Bau- und Möbeltischlerei Kamenz, später die Deutsche Investitionsbank Berlin als Treuhänder bestellt. 1969 wurde das Unternehmen liquidiert. Der Beklagte lehnte den Antrag der Klägerinnen auf Rückgabe oder Entschädigung für den Verlust der Spielwaren- und Sportgerätefabrik in Firma W. B. KG sowie in deren Vermögen stehender Lizenzen und Schutzrechte ab. Die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 VermG lägen nicht vor. Insbesondere sei keine entschädigungslose Enteignung im Sinne des § 1 Abs. 1 Buchst. a VermG erfolgt.

Das Verwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

1. Die entscheidungstragende Erwägung des Verwaltungsgerichts, weder die Anordnung der staatlichen Treuhandverwaltung noch die Festsetzung von Steuerforderungen oder die Liquidation der Gesellschaft stellten eine entschädigungslose Enteignung dar, leidet nicht an den von den Klägerinnen geltend gemachten Verfahrensfehlern.

a) Ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO wird insoweit nicht dargetan. Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Fehler in der Sachverhalts- oder Beweiswürdigung sind revisionsrechtlich grundsätzlich dem sachlichen Recht und nicht dem Verfahrensrecht zuzuordnen. Eine Ausnahme kommt nur bei Mängeln in Betracht, die allein die Tatsachenfeststellung und nicht auch die Subsumtion unter die materiell-rechtliche Norm betreffen. Das ist der Fall, wenn das Gericht seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt, sondern nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt, oder wenn die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen gegen die Denkgesetze verstoßen oder sonst von objektiver Willkür geprägt sind. Diese Verstöße gegen den Überzeugungsgrundsatz können als Verfahrensmängel gerügt werden (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 29. Juli 2010 - 8 B 106.09 - Buchholz 428 § 3 VermG Nr. 77 = juris Rn. 31 und vom 3. Juni 2020 - 8 B 14.20 - juris Rn. 7). Verfahrensmängel in diesem Sinne legt die Beschwerde indessen nicht dar.

aa) Die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Liquidation des Unternehmens sei nicht entgegen seiner betriebswirtschaftlichen Lage erfolgt, ist nicht willkürlich. Das Verwaltungsgericht hat insoweit den Vortrag der Klägerinnen zugrunde gelegt, dass die Auftragslage gut gewesen sei und der Betrieb Gewinne erwirtschaftet habe, ist aber wegen erheblicher Steuerrückstände des Herrn W. B. und der daraus folgenden Zahlungspflichten des Unternehmens von einer gleichwohl eingetretenen faktischen Überschuldung ausgegangen. Die Berücksichtigung dieser Steuerrückstände ist nicht verfahrensfehlerhaft. Zwar existieren nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts keine Steuerbescheide oder sonstigen Unterlagen, denen sich die exakte Höhe der Steuerrückstände entnehmen ließe. Doch hat die Vorinstanz den Verwaltungsvorgängen, die teilweise von den Klägerinnen selbst im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgelegt wurden, entnommen, dass die staatlichen Organe der DDR von erheblichen Steuerrückständen des Herrn W. B. ausgingen. Die Finanzbehörden der DDR zogen aus den nach 1947 vorgenommenen Änderungen im Gesellschafterbestand der W. B. KG andere rechtliche Konsequenzen als W. B. selbst und nahmen insoweit - wie zuletzt in der Entscheidung des Ministeriums der Finanzen der DDR vom 28. Dezember 1954 - einen Missbrauch steuerlicher Gestaltungsmöglichkeiten an. Der in dem angefochtenen Bescheid erwähnte Beschluss des Kreisgerichts Kamenz vom 7. November 1957 ging von Steuerforderungen gegen Herrn W. B. in Höhe von 218 000 Mark der DDR aus. Dessen frühere Ehefrau hat in ihrem Bericht vom 17. August 1958 ausgeführt, ihr geschiedener Mann habe "fast eine Viertelmillion Steuerschulden" gehabt. Laut dem Schreiben der Industrie- und Handelsbank der DDR an den Rat des Kreises Kamenz vom 29. Dezember 1972 wurde der Erlös aus der Liquidation des Unternehmens von 74 122,98 Mark der DDR vollständig zur Begleichung von Steuerschulden verwendet. Vor diesem Hintergrund ist die Erwägung des Verwaltungsgerichts, dass das Unternehmen faktisch überschuldet gewesen sei, weder aktenwidrig noch objektiv willkürlich.

bb) Die Klägerinnen machen insoweit außerdem geltend, das Verwaltungsgericht habe ihr Vorbringen, insbesondere die von ihnen vorgelegten Akten, nicht hinreichend gewürdigt. Daraus lässt sich nicht entnehmen, dass das Verwaltungsgericht entscheidungserheblichen Akteninhalt übergangen oder selektiv gewürdigt hätte. Die Beschwerde legt bereits nicht dar, welche nach der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung der Vorinstanz für die Klägerinnen günstigen Umstände sich aus den von ihnen bezeichneten Unterlagen ergeben könnten.

cc) Mit dem Hinweis der Klägerinnen, im Grunde habe gar keine Liquidation des Unternehmens stattgefunden, wird kein Verfahrensfehler aufgezeigt, sondern lediglich eine von dem verwaltungsgerichtlichen Urteil abweichende materiell-rechtliche Bewertung vorgenommen.

dd) Die Erwägung des Verwaltungsgerichts, mittelbares Ziel der Steuererhebung und der Anordnung der staatlichen Verwaltung dürfte letztlich die Verstaatlichung des Unternehmens und der Produktionsmittel gewesen sein, steht nicht im Widerspruch zu der Annahme, es habe keine zielgerichtete Maßnahme der Vermögensentziehung im Sinne des § 1 Abs. 1 VermG vorgelegen. Das Verwaltungsgericht differenziert insoweit ausdrücklich zwischen den allgemeinen wirtschaftspolitischen Zielsetzungen der DDR und den im Einzelfall getroffenen Maßnahmen und führt aus, die wirtschaftliche Betätigung Privater in der DDR sei insgesamt - unter anderem durch die Erhebung von Steuern - erschwert worden. Doch sehe § 1 VermG keine allgemeine Rückabwicklung von wirtschaftlichen Vorgängen in der DDR, sondern nur in bestimmten, besonders schwerwiegenden Fällen staatlichen Unrechts einen Ausgleich für den erlittenen Vermögensverlust vor. Ein derartiger Fall sei hier nicht gegeben, da nicht ersichtlich sei, dass die in Rede stehenden Steuern gänzlich rechtsgrundlos eingefordert worden seien. Diese Erwägung stellt keine gegen die Denkgesetze verstoßende oder sonst im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO verfahrensfehlerhafte Sachverhaltswürdigung dar.

Aus entsprechenden Gründen liegt auch keine widersprüchliche oder aus anderen Gründen verfahrensfehlerhafte Sachverhaltswürdigung vor, soweit das Verwaltungsgericht ausführt, es gebe keine sonstigen Anhaltspunkte dafür, dass die Steuerschulden des Herrn W. B. konstruiert seien. Die Erwägung, dass im konkreten Fall keine zielgerichtete Maßnahme der Vermögensentziehung durch lediglich vorgeschobene oder aus der Luft gegriffene Steuerforderungen gegeben war, steht nicht im Widerspruch zu der Annahme, dass eine Verstaatlichung des Unternehmens mit den wirtschaftspolitischen Zielen der DDR im Einklang gestanden habe.

b) Ein Verstoß gegen die Begründungspflicht (§ 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO ) ist nicht dargelegt. Das Verwaltungsgericht hat sich ausführlich mit der Entstehung der Steuerschulden und den Gründen für die Liquidation des Unternehmens auseinandergesetzt. Dass es sich der tatsächlichen und rechtlichen Bewertung dieser Umstände durch die Klägerinnen nicht angeschlossen hat, begründet weder eine Verletzung des § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO noch sonstigen Verfahrensrechts.

c) Soweit die Beschwerde mehrfach darauf hinweist, die entscheidungstragenden Auffassungen des Verwaltungsgerichts seien "völlig überraschend", folgt daraus kein Verfahrensfehler. Eine gerichtliche Entscheidung stellt sich nach ständiger Rechtsprechung nur dann als eine das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG ) verletzende Überraschungsentscheidung dar, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten. Das legt die Beschwerde nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise dar. Das Verwaltungsgericht hat sich bei seiner tatsächlichen und rechtlichen Würdigung des Sachverhalts dem ausführlich begründeten angefochtenen Bescheid angeschlossen; hiermit mussten die Klägerinnen rechnen. Im Übrigen muss ein Gericht die Beteiligten grundsätzlich nicht vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffs hinweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung ergibt (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 24. Juli 2018 - 8 B 46.17 - juris Rn. 11 m.w.N.).

2. Zu Unrecht sind die Klägerinnen der Auffassung, es hätte eines vorherigen Hinweises bedurft, soweit das Urteil ausführt, dass die Entscheidungen der Finanzbehörden der DDR bislang nicht aufgehoben worden seien. Eine derartige Pflicht ergab sich für das Verwaltungsgericht weder aus § 86 Abs. 3 VwGO noch aus dem Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG ). Vielmehr mussten die Klägerinnen damit rechnen, dass das Verwaltungsgericht diesen Gesichtspunkt heranziehen würde, weil er bereits Element der Begründung des angefochtenen Bescheids (S. 15) sowie der Klageerwiderung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren war.

3. Die Erwägung des Verwaltungsgerichts, das Unternehmen sei nicht in Volkseigentum überführt worden, ist nicht verfahrensfehlerhaft. Die Klägerinnen wenden sich in der Sache lediglich gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Liquidation des Unternehmens wegen der Steuerrückstände erfolgt sei. Insoweit hat das Verwaltungsgericht namentlich keine einander widersprechenden Tatsachenfeststellungen getroffen. Es hat lediglich darauf hingewiesen, dass eine auf eine Vermögensentziehung im Sinne des § 1 Abs. 1 VermG gerichtete hoheitliche Maßnahme allenfalls dann angenommen werden könnte, wenn sie zielgerichtet dazu gedient hätte, den Betrieb dem Inhaber zu entziehen und in einen volkseigenen Betrieb zu überführen. Eine derartige Zwecksetzung hat das Gericht im vorliegenden Fall aber - anders, als die Beschwerde unterstellt - gerade verneint. Eines Hinweises (§ 86 Abs. 3 VwGO ) auf diese Rechtsauffassung bedurfte es nicht, da sie bereits dem angefochtenen Bescheid zugrunde liegt.

4. Frei von Verfahrensfehlern hat das Verwaltungsgericht schließlich auch davon abgesehen, die Einsichtnahme der Klägerinnen beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik in dort vorhandene Unterlagen über Herrn W. B. und die W. B. KG abzuwarten. Die darauf bezogene Aufklärungsrüge hat keinen Erfolg. Wird die Verletzung des § 86 Abs. 1 VwGO geltend gemacht, muss der Rechtsmittelführer substantiiert darlegen, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären, welche tatsächlichen Feststellungen bei der Durchführung der vermissten Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern das unterstellte Ergebnis zu einer ihm günstigeren Entscheidung hätte führen können (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 27. Februar 2020 - 8 C 13.19 - juris Rn. 26). Daran fehlt es hier. Die Beschwerde legt nicht im Einzelnen dar, welche Ergebnisse die Beiziehung der genannten Akten hätte erbringen können. Auch ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist nicht dargelegt, da das Verwaltungsgericht sich mit der angekündigten Akteneinsicht der Klägerinnen und der Frage, ob sie weitere entscheidungserhebliche Erkenntnisse zu Tage zu fördern könne, befasst hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO . Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG .

Vorinstanz: VG Dresden, vom 04.03.2020 - Vorinstanzaktenzeichen 6 K 1436/18