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BVerfG - Entscheidung vom 29.01.2020

2 BvR 690/19

Normen:
GG Art. 19 Abs. 4
BVerfGG § 93c Abs. 1 S. 1
§ 5 AufenthG 2004
MRK Art. 8 Abs. 1
MRK Art. 8 Abs. 2
RVG § 37 Abs. 2 S. 2
GG Art. 19 Abs. 4
BVerfGG § 93c Abs. 1 S. 1
AufenthG (2004) § 5
MRK Art. 8 Abs. 1
MRK Art. 8 Abs. 2
RVG § 37 Abs. 2 S. 2
GG Art. 19 Abs. 4
BVerfGG § 93c Abs. 1 S. 1
AufenthG 2004 § 5
MRK Art. 8 Abs. 1
MRK Art. 8 Abs. 2
RVG § 37 Abs. 2 S. 2

BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.01.2020 - Aktenzeichen 2 BvR 690/19

DRsp Nr. 2020/2832

Verletztung des Rechtsschutzanspruchs durch Versagung fachgerichtlichen Eilrechtsschutzes in einer ausländerrechtlichen Sache; Prüfung der Voraussetzungen des Art. 8 MRK im Falle einer "faktischen Inländerin"; Unzureichende Prüfung der individuellen Lebensumstände

Tenor

Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2019 - OVG 3 S. 90.18 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes . Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg zurückverwiesen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 10.000 (in Worten: zehntausend) Euro und für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 5.000 (in Worten: fünftausend) Euro festgesetzt.

Normenkette:

GG Art. 19 Abs. 4 ; BVerfGG § 93c Abs. 1 S. 1; AufenthG 2004 § 5 ; MRK Art. 8 Abs. 1 ; MRK Art. 8 Abs. 2 ; RVG § 37 Abs. 2 S. 2;

[Gründe]

I.

1. Die 1998 in Berlin geborene und seitdem dort lebende Beschwerdeführerin ist libanesische Staatsangehörige. Ihre Eltern und Geschwister halten sich ebenfalls in der Bundesrepublik Deutschland auf. Sie hat weder einen Schulabschluss erworben noch eine Ausbildung absolviert. In der Vergangenheit bestritt sie ihren Lebensunterhalt von öffentlichen Leistungen. Seit 2013 trat sie wiederholt strafrechtlich in Erscheinung. Zuletzt wurde mit Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 19. April 2017 wegen Diebstahls drei Wochen Dauerarrest gegen sie verhängt.

2. Nachdem die Ausländerbehörde der Beschwerdeführerin mehrmals - zuletzt bis zum 7. April 2004 - eine Aufenthaltsbefugnis erteilt hatte, erhielt sie danach nur noch Erfassungsbescheinigungen gemäß § 69 Abs. 3 AuslG beziehungsweise Fiktionsbescheinigungen gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG .

Mit Bescheid vom 10. April 2018 lehnte die Ausländerbehörde den - erstmals am 5. April 2004 gestellten und zuletzt am 7. Dezember 2017 erneuerten - Antrag auf Verlängerung der der Beschwerdeführerin erteilten Aufenthaltserlaubnis ab und drohte ihr, sofern sie nicht freiwillig ausreise, die Abschiebung in den Libanon an. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde für den Fall der Abschiebung auf zwei Jahre ab dem Zeitpunkt der tatsächlichen Abschiebung aus der Bundesrepublik Deutschland befristet. Die Entscheidung wurde auf § 34 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 AufenthG in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Nr. 1 , 2 und 4 AufenthG gestützt. Die Voraussetzungen eines anderweitigen Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels oder sonstige Erteilungsvoraussetzungen lägen nicht vor. Auch komme die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG nicht in Betracht. Die Entscheidung sei verhältnismäßig und verletze nicht Art. 8 EMRK .

3. Die Beschwerdeführerin erhob Klage gegen diesen Bescheid und stellte einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Zur Begründung führte sie aus: Ihr werde zu Unrecht eine weitere Aufenthaltserlaubnis vorenthalten. Die Nichterfüllung der Regelerteilungserfordernisse rechtfertige deren Versagung nicht, da atypische Umstände gegeben seien. Sie sei im Bundesgebiet geboren und habe dort seitdem ihren dauernden Lebensmittelpunkt. Unter Hinweis auf Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte machte sie geltend, aufgrund des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 EMRK eine weitere Aufenthaltserlaubnis auch ohne Nachweis der Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG beanspruchen zu können. Es sei eine umfassende Prüfung der konkreten Sachlage unter Einbeziehung der aktuellen Entwicklung ihrer Person erforderlich. Des Weiteren bezog sich die Beschwerdeführerin auf Empfehlungen des Europarats zur Fortdauer des Aufenthalts junger Ausländer selbst im Falle strafgerichtlich geahndeter Verfehlungen. Ergänzend verwies sie auf die entsprechend ausgerichtete Rechtslage in Österreich. Ihre Rechtsauffassung hinsichtlich der Unterhaltssicherung bekräftigte die Beschwerdeführerin ebenfalls unter Bezugnahme auf das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. Juni 2015 - OVG 11 B 26.14 -. Darin seien besondere sozialrechtliche Sanktionen angeführt worden, von denen primär Gebrauch zu machen sei. Auch von dem Regelerteilungserfordernis gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG sei schon aus systematischen und einfachgesetzlichen Gründen abzusehen, weil die für sie maßgebliche gesetzliche Vorgabe in § 35 Abs. 3 AufenthG das Erfordernis der Erfüllung der Passpflicht nicht verlange. Die Beschwerdeführerin begründete das Fehlen eines Passes zudem damit, dass die Personenstandssache ihrer Mutter erst kurz vor Inanspruchnahme des vorläufigen Rechtsschutzes mit Beschluss des Kammergerichts vom 31. Mai 2018 abgeschlossen worden sei. Erst seitdem seien die Voraussetzungen für eine Registrierung und die Ausstellung eines Passes gegeben gewesen. Ferner erhob die Beschwerdeführerin Einwände dagegen, dass ihr das Land ihrer Staatsangehörigkeit als "Heimatland" zugeschrieben werde. Jedenfalls stehe ihr eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG zu. Hilfsweise beantragte sie die Erteilung einer Duldung und die Zulassung zu einer unselbständigen Erwerbstätigkeit. Es fehle an den Voraussetzungen für die Beschäftigungsversagung gemäß § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG , da die verlangte Kausalität nicht gegeben sei. Ihr könne nicht vorgehalten werden, dass sie nicht an der Erlangung eines Personaldokuments mitwirke und damit die Abschiebung aufhalte. Die Beschwerdeführerin fügte ihrem vorläufigen Rechtsschutzantrag einen Arbeitsvertrag vom 11. Juni 2018 bei.

4. Mit Beschluss vom 19. Oktober 2018 ordnete das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der gegen den Bescheid der Ausländerbehörde vom 10. April 2018 erhobenen Klage an. Das Suspensivinteresse der Beschwerdeführerin überwiege das gesetzlich vermutete Vollzugsinteresse, weil Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides bestünden. Zwar weise die Ausländerbehörde zutreffend darauf hin, dass es für die begehrte Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 34 Abs. 3 AufenthG an der Regelvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG fehle, weil die Beschwerdeführerin noch nie ein Erwerbseinkommen erzielt habe. Ebenfalls nicht bejaht werden könne die Regelerteilungsvoraussetzung des Nichtvorliegens eines Ausweisungsinteresses gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG , weil die Beschwerdeführerin mehrfach jugendgerichtlich in Erscheinung getreten sei und zuletzt durch Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 19. April 2017 wegen Diebstahls zu einem Dauerarrest von drei Wochen verurteilt worden sei. Jedoch erscheine es bei summarischer Prüfung durchaus möglich, dass eine Ausnahme von der gesetzlichen Regel im Hinblick auf Art. 8 EMRK zu machen wäre. Ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens aus Art. 8 Abs. 1 EMRK müsse nach Art. 8 Abs. 2 EMRK eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme darstellen, die durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und mit Blick auf das verfolgte legitime Ziel auch im engeren Sinne verhältnismäßig sei. Diese Verhältnismäßigkeit sei unter Berücksichtigung der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelten Grundsätze und Kriterien anhand des konkreten Falls zu prüfen und erfordere eine Betrachtung und konkrete Gewichtung und Abwägung der persönlichen Umstände des betroffenen Ausländers sowie des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung in ihrer Gesamtheit. Bei summarischer Prüfung sei nicht hinreichend sicher feststellbar, dass diese Gesamtgewichtung im Hauptsacheverfahren zu Lasten der Beschwerdeführerin ausgehen werde. Sie sei in Deutschland geboren und habe hier ihr gesamtes Leben zugebracht. Im Libanon, dem Land ihrer Staatsangehörigkeit, sei sie noch nie gewesen. Seit Juli 2001 habe sie über Aufenthaltstitel beziehungsweise über nach Verlängerungsanträgen ausgestellte Fiktionsbescheinigungen verfügt. Zwar sei sie mehrfach jugendgerichtlich in Erscheinung getreten, jedoch liege die letzte Tat, wegen der es zu der Verhängung eines Dauerarrestes von drei Wochen gekommen sei, mittlerweile schon zwei Jahre zurück. Gegen eine gelungene wirtschaftliche Integration spreche sicherlich, dass die Beschwerdeführerin keinen Schulabschluss erlangt habe und bisher noch keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sei. Insoweit sei aber von erheblicher Bedeutung, dass sie einen Arbeitsvertrag abgeschlossen habe, der ihr ein bedarfsdeckendes Einkommen zusichere, und sie deshalb erkannt zu haben scheine, dass sie sich in Zukunft nicht mehr auf die Finanzierung durch Sozialleistungen verlassen könne. Allerdings falle die jetzt noch offen erscheinende Rechtfertigung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK wohl zu Lasten der Beschwerdeführerin aus, wenn sie trotz der durch diesen Beschluss bekräftigten Berechtigung zur Arbeitsaufnahme (§ 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ) untätig bleiben oder sich - statt nach neuen Beschäftigungen zu suchen - im Hauptsacheverfahren darauf berufen würde, der potenzielle Arbeitgeber verlange eine Aufenthaltserlaubnis. Soweit § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG infrage stehe, sei nach dem Beschluss des Kammergerichts vom 31. Mai 2018 mit einer Registrierung im Libanon und der Ausstellung eines Passes zu rechnen.

5. Die Ausländerbehörde stellte der Beschwerdeführerin daraufhin eine zuletzt bis zum 11. August 2019 gültige Bescheinigung L 4048 mit dem Zusatz "Erwerbstätigkeit gestattet" aus, damit sie die arbeitsvertraglich vorgesehene Beschäftigung aufnehmen konnte.

Zugleich legte sie gegen den Beschluss Beschwerde ein. Das Verwaltungsgericht stütze sich maßgeblich auf die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. Juni 2015 - OVG 11 B 26.14 -, welche hier jedoch nicht zum Erfolg verhelfen könne, da sie einen nicht verallgemeinerungsfähigen Einzelfall betroffen habe. Vorliegend nehme das Verwaltungsgericht alleine deshalb, weil es davon ausgehe, die Beschwerdeführerin könne möglicherweise aufgrund des Arbeitsvertrags für die Zukunft ihren Lebensunterhalt sichern, an, der Gesamtbetrachtung der Umstände des Einzelfalls sei mit Blick auf Art. 8 EMRK nicht hinreichend Rechnung getragen worden. Dies liege jedoch neben der Sache, da allenfalls die Eigenschaft als "faktische Inländerin" es im Einzelfall gegebenenfalls erfordern könne, vom Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung abzusehen.

6. Die Beschwerdeführerin beantragte unter Ergänzung und Vertiefung ihres bisherigen Vortrags die Abweisung der Beschwerde. Zudem versicherte sie, um die Erlangung eines Passes bemüht zu bleiben. Sie legte ferner einen neuen, vom 27. November 2018 datierenden Arbeitsvertrag vor und wies die tatsächliche Aufnahme des Beschäftigungsverhältnisses durch die Vorlage einer Lohnabrechnung für Dezember 2018 und einen Überweisungsbeleg nach. Der Nettoverdienst belief sich auf 1.283,66 Euro.

7. Mit Beschluss vom 11. März 2019 gab das Oberverwaltungsgericht der Beschwerde der Ausländerbehörde statt und lehnte den Antrag der Beschwerdeführerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 10. April 2018 unter Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 19. Oktober 2018 ab. Angesichts der durch das Fehlen von Schulabschluss, Berufsbildung oder sonstiger Berufstätigkeit, dem bisherigen Bezug von Leistungen des Jobcenters einerseits, ihre wiederholten jugendgerichtlich geahndeten Straftaten andererseits gekennzeichneten mangelnden wirtschaftlichen und sozialen Integration der Beschwerdeführerin spreche auch bei summarischer Prüfung und Berücksichtigung des von ihr vorgelegten, unter dem 11. Juni 2018 - nach Erlass des streitigen Bescheides - unterzeichneten Arbeitsvertrages, aufgrund dessen sie ein zur Deckung ihres Lebensunterhalts ausreichendes Einkommen erzielen könne, Überwiegendes dagegen, die Beschwerdeführerin als faktische Inländerin anzusehen, der mit Blick auf Art. 8 EMRK ein Aufenthaltstitel trotz fehlender Regelerteilungsvoraussetzungen zu erteilen wäre. Eine Berufstätigkeit sei nur für einen Monat nachgewiesen worden, woraus sich eine positive Prognose einer dauerhaften zukünftigen Sicherung des Lebensunterhalts nicht ableiten lasse. Dies gelte umso mehr, als die Beschwerdeführerin ihre Erwerbstätigkeit erst im Dezember 2018 aufgenommen habe, obwohl ihr jedenfalls bis zum Erlass des Bescheides vom 10. April 2018, darüber hinaus - abhängig von der Beurteilung der Rechtzeitigkeit der Klageerhebung - nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG die Erwerbstätigkeit gestattet gewesen sei. Auf die Regelerteilungserfordernisse gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AufenthG komme es nicht maßgeblich an. Allerdings habe die Beschwerdeführerin nach der Entscheidung des Kammergerichts vom 31. Mai 2018 unternommene konkrete Schritte zur Registrierung im Libanon und Ausstellung eines Nationalpasses nicht vorgebracht.

8. Die Ausländerbehörde wies die Beschwerdeführerin anschließend darauf hin, dass sie aufgrund des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts wieder sofort vollziehbar ausreisepflichtig sei. Die ihr ausgestellte Bescheinigung L 4048 habe ihre Gültigkeit verloren. Ihr sei ab sofort die Erwerbstätigkeit nicht mehr gestattet.

II.

1. Die Beschwerdeführerin hat am 15. April 2019 Verfassungsbeschwerde erhoben und zugleich einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt.

a) Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts verletze sie in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit ihrem durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Privatleben. Als faktische Inländerin nehme sie eine die einfachgesetzliche Regelung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 , 2 und 4 AufenthG verdrängende höherrangige Ausnahmeregelung in Anspruch. Erforderlich sei eine umfassende Einzelfallprüfung. Jedenfalls sei es rechtsfehlerhaft, einseitig auf fehlende wirtschaftliche Bindungen abzustellen. Vorliegend sei insbesondere auch zu berücksichtigen, dass sie ihren Lebensunterhalt bis zur angegriffenen Entscheidung eigenständig habe sichern können. Bei den vorgelegten Arbeitsverträgen vom 11. Juni 2018 und 27. November 2018 habe es sich um unbefristete Verträge gehandelt. Des Weiteren seien bei faktischen Inländern verschärfte Anforderungen an ein Ausweisungsinteresse zu stellen. Schließlich fehle eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Der fehlende Schulabschluss und ein verspäteter Eintritt ins Arbeitsleben könnten kein derart bestimmendes Gewicht erlangen. Zudem verkenne die angegriffene Entscheidung die Beschwerdeführerin in ihren angestammten persönlichen Verhältnissen.

b) Darüber hinaus sei sie durch die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in ihrem Justizgewährungsanspruch gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzt, weil eine umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes unterblieben sei. Mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes sei vielmehr bereits eine Vorentscheidung über das auch noch mit einer Klage verfolgte Aufenthaltsbegehren insgesamt getroffen worden. Es sei ihr dadurch insbesondere eine Fortsetzung ihrer Erwerbstätigkeit nicht länger möglich, sodass ihr nun auch im Hauptsacheverfahren das Fehlen des Regelerteilungserfordernisses gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG entgegengehalten werden könne.

2. Die Akten des Ausgangsverfahrens, der zugehörigen Hauptsacheverfahren und die Ausländerakte haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen. Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, die Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung des Landes Berlin sowie das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin hatten Gelegenheit zur Stellungnahme; sie haben davon keinen Gebrauch gemacht.

III.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin aus Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt.

1. Der in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgten Garantie eines umfassenden und effektiven Rechtsschutzes kommt wesentliche Bedeutung bereits für den vorläufigen Rechtsschutz zu, dessen Versagung vielfach irreparable Folgen hat. Die nach § 80 Abs. 1 VwGO für den Regelfall vorgeschriebene aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage ist insoweit eine adäquate Ausprägung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie. Andererseits gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG die aufschiebende Wirkung der Rechtsbehelfe im Verwaltungsprozess nicht schlechthin. Überwiegende öffentliche Belange können es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit eines Verwaltungsakts ist daher ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt. Der Rechtsschutzanspruch des Bürgers ist dabei umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt (vgl. BVerfGE 35, 382 <401 f.>; 69, 220 <227 f.>; BVerfGK 5, 328 <334>; 11, 179 <186 f.>).

2. Die angegriffene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts im einstweiligen Rechtsschutzverfahren wird diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen auch dann nicht gerecht, wenn man hier den in § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG normierten grundsätzlichen Vorrang des Vollziehungsinteresses in Rechnung stellt und daraus folgert, dass die Gerichte - neben der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache - zu einer Einzelfallbetrachtung grundsätzlich nur im Hinblick auf solche Umstände angehalten sind, die von den Beteiligten vorgetragen werden und die Annahme rechtfertigen können, dass im konkreten Fall von der gesetzgeberischen Grundentscheidung ausnahmsweise abzuweichen ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. Oktober 2003 - 1 BvR 2025/03 -). Ausgehend von der Erkenntnis, dass der Fall womöglich im Hauptsacheverfahren zu klärende Sach- und Rechtsfragen aufwirft und deshalb die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht von den Erfolgsaussichten in der Hauptsache abhängig gemacht werden kann, hätte sich das Oberverwaltungsgericht mit den substantiiert vorgetragenen persönlichen Belangen der Beschwerdeführerin in einer der Bedeutung dieser Umstände für die Aussetzungsentscheidung angemessenen Weise auseinandersetzen müssen. Daran fehlt es hier. Zwar ist es grundsätzlich Sache der Fachgerichte, den Sachverhalt zu ermitteln und rechtlich zu würdigen; die Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht ist auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts beschränkt (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; stRspr). Eine solche Verletzung liegt hier jedoch vor. Das Oberverwaltungsgericht hat das Vorbringen der Beschwerdeführerin einer abschließenden Würdigung in der Art einer Hauptsacheentscheidung unterzogen, ohne naheliegende Einwände zu berücksichtigen und auf die Vorläufigkeit ihrer Würdigung sowie den interimistischen Charakter seiner Entscheidung Bedacht zu nehmen, und damit das Gebot effektiven Rechtsschutzes verfehlt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Februar 2011 - 2 BvR 1392/10 -, Rn. 17).

Der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten sein dürfte im vorliegenden Fall vor allem die Frage, ob die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis durch den Bescheid der Ausländerbehörde vor dem Recht auf Achtung des Privatlebens, das Art. 8 Abs. 1 EMRK neben dem Recht auf Achtung des Familienlebens schützt, Bestand haben kann. Diese Frage konnte mit der vom Oberverwaltungsgericht gegebenen Begründung nicht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entschieden werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 -, Rn. 30 und 43 sowie Beschluss vom 21. Februar 2011 - 2 BvR 1392/10 -, Rn. 17 f.). Zwar geht das Oberverwaltungsgericht im Ansatz zutreffend davon aus, dass die Verhältnismäßigkeit der angegriffenen Entscheidung im Hinblick auf den Einzelfall zu prüfen ist, und dass es mit Blick auf Art. 8 EMRK erforderlich sein kann, bei "faktischen Inländern" von einem atypischen Fall auszugehen, bei dem ein Aufenthaltstitel trotz fehlender Regelerteilungsvoraussetzungen zu erteilen wäre. Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung selbst hat das Gericht aber wesentliche Gesichtspunkte, insbesondere eine hinreichende Auseinandersetzung mit den zu erwartenden Lebensverhältnissen der Beschwerdeführerin im Libanon, unberücksichtigt gelassen.

a) Das Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind (vgl. EGMR <GK>, Slivenko v. Latvia, Urteil vom 9. Oktober 2003, Nr. 48321/99, S. 96) und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfGK 11, 153 <159 f.>; Thym, EuGRZ 2006, S. 541 <544>; Discher, GK - AufenthG , vor §§ 53 ff., Juni 2009, Rn. 841 ff., m.w.N.; Hoppe, ZAR 2006, S. 125 <130>). Ein Eingriff in die Rechte aus Art. 8 Abs. 1 EMRK muss gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme darstellen, die durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und mit Blick auf das verfolgte legitime Ziel auch im engeren Sinne verhältnismäßig ist (vgl. BVerfGK 11, 153 <160>; EGMR , Moustaquim v. Belgien, Urteil vom 18. Februar 1991, Nr. 12313/86; BVerwGE 106, 13 <21> m.w.N.; zum Ganzen vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 -, Rn. 33).

b) Hieran gemessen mangelt es der angegriffenen Entscheidung bereits an der richtigen Maßstabsbildung. Die Vorschrift des Art. 8 EMRK wird lediglich erwähnt, ohne deren Inhalt, insbesondere auch hinsichtlich der Anforderungen an den Begriff des "faktischen Inländers", unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte näher zu erläutern. Zur Herleitung eines Aufenthaltsrechts aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ist ein durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiertes Privatleben erforderlich, das nur noch im Bundesgebiet geführt werden kann. Hierfür kommt es einerseits auf die Integration des Ausländers in Deutschland, andererseits die Möglichkeit zur (Re-)Integration im Staat der Staatsangehörigkeit an. Die konkrete Würdigung der von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Umstände zur Verwurzelung in Deutschland und der Entwurzelung hinsichtlich des Libanon wird dem auf die Erfassung der individuellen Lebensverhältnisse des Ausländers angelegten Prüfprogramm (vgl. BVerfGK 12, 37 <44>; BVerwGE 133, 72 <82 ff.>) nicht gerecht.

Die angegriffene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts nimmt keine gewichtende Gesamtbewertung der Lebensumstände der Beschwerdeführerin vor (vgl. BVerwGE 133, 72 <84>). Zudem ist das Oberverwaltungsgericht im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK dem Fehlen tatsächlicher Verbindungen der Beschwerdeführerin zum Libanon nicht nachgegangen, obwohl sich in Ansehung der Lebensgeschichte der Beschwerdeführerin die Notwendigkeit aufdrängt, dass die vorgetragene Entwurzelung in hohem Maße entscheidungserheblich und deshalb aufzuklären ist. Eine Abschiebung in diesen Staat hält das Oberverwaltungsgericht vielmehr für zumutbar, ohne das mögliche Fehlen einer Integrationsfähigkeit sowie die Frage zu klären, ob sie im Libanon als alleinstehende Frau auf Unterstützung durch Familie oder Dritte zählen kann. Mit den Voraussetzungen für eine Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG hat sich das Oberverwaltungsgericht ebenfalls nicht beschäftigt.

Vor diesem Hintergrund hat das Oberverwaltungsgericht nicht nur das Bleibeinteresse der Beschwerdeführerin verfassungsrechtlich unzureichend bewertet, sondern auch das öffentliche Interesse an ihrer Abschiebung in den Libanon.

3. In Anbetracht des festgestellten Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG bedarf es keiner Entscheidung, ob die Würdigung des Oberverwaltungsgerichts zugleich gegen Art. 2 Abs. 1 GG oder gegen andere Grundrechte verstößt.

4. Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem festgestellten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Oberverwaltungsgericht bei hinreichender Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe zu einer anderen, der Beschwerdeführerin günstigeren Entscheidung gelangt wäre.

Die Kammer hebt deshalb gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG den angegriffenen Beschluss auf und verweist die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurück.

5. Mit dieser Entscheidung erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

6. Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG die notwendigen Auslagen zu erstatten.

7. Die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

Vorinstanz: OVG Berlin-Brandenburg, vom 11.03.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 3 S. 90.18