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BSG - Entscheidung vom 29.07.2020

B 3 KR 63/19 B

Normen:
SGB V § 60 Abs. 2 S. 1 Nr. 1
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1

BSG, Beschluss vom 29.07.2020 - Aktenzeichen B 3 KR 63/19 B

DRsp Nr. 2020/13943

Kosten eines Verlegungstransports mit intensivmedizinischer Betreuung Verlegung einer beatmungspflichtigen Versicherten in ein anderes Krankenhaus Grundsatzrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren

Tenor

Die Beschwerde der Beigeladenen gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 19. November 2019 wird als unzulässig verworfen.

Die Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1475 Euro festgesetzt.

Normenkette:

SGB V § 60 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1 ;

Gründe

I

Das LSG hat mit Urteil vom 19.11.2019 die Verurteilung der beigeladenen Krankenkasse durch das SG , an das klagende Rettungsdienstunternehmen 1475 Euro für die Kosten eines vom beklagten Krankenhaus veranlassten Intensiv-Verlegungstransports ihrer Versicherten zu zahlen, bestätigt.

Auf der Grundlage seiner - nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen - Tatsachenfeststellungen hat das LSG das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 1 Halbsatz 2 Alt 1 SGB V iVm Vorschriften des Landesrettungsdienstrechts für die Übernahme der Fahrkosten durch die Beigeladene bejaht: Die Verlegung der Versicherten vom Krankenhaus der Beklagten in ein anderes Krankenhaus sei aus zwingenden medizinischen Gründen erforderlich gewesen. Die zu diesem Zeitpunkt nicht beatmete Versicherte sei notfallmäßig von der Beklagten aufgenommen worden. Bei der notfallmäßigen stationären Erstversorgung habe sich die Erforderlichkeit einer Weiterbehandlung mit intensivmedizinischer Beatmung der Versicherten ergeben. Da bei der Beklagten keine freien intensivmedizinischen Beatmungskapazitäten vorhanden gewesen seien, sei die Versicherte sogleich durch den Kläger in ein anderes Krankenhaus verlegt worden auf der Grundlage einer Verordnung des behandelnden Krankenhausarztes (Verlegungshinfahrt im Intensivtransportwagen, liegend, bei Notwendigkeit einer medizinisch-fachlichen Betreuung durch einen Rettungsassistenten oder Notarzt).

Entgegen der Auffassung der Beigeladenen sei diese Verlegung nicht aus organisatorischen Gründen aufgrund fehlender Beatmungskapazitäten erfolgt, sondern allein aus zwingenden medizinischen Gründen, weil die bereits unterkühlte Versicherte nach ihrer Notaufnahme im Zuge der vorsichtigen Wiedererwärmung beatmungspflichtig geworden und die Kapazität der von der Beklagten vorgehaltenen Intensivbetten mit Beatmungsfunktion erschöpft gewesen sei. Der Intensiv-Verlegungstransport sei demnach durch die Art und Weise der bedarfsgerechten Krankenhausbehandlung bedingt gewesen. Die Beklagte sei weder verpflichtet gewesen, eine weitergehende Intensivbetreuung vorzuhalten oder ihre Beatmungsressourcen spontan zu erweitern, noch dazu, sich rechtzeitig aus der Rettungsleitstelle des Klägers wegen Erschöpfung ihrer intensivmedizinischen Beatmungskapazitäten abzumelden. Zudem könnten Krankenhäuser trotz Abmeldung in Notfällen angefahren werden, in denen ein längerer Transportweg aufgrund akuter Lebensgefahr nicht vertretbar wäre. Schließlich sei entgegen der Auffassung der Beigeladenen die zwingende medizinische Notwendigkeit des Intensiv-Verlegungstransports aus der Verordnung des behandelnden Krankenhausarztes ersichtlich, auch wenn das Verordnungsblatt nicht vollständig ausgefüllt worden sei.

Gegen die Nichtzulassung der Revision durch das LSG hat die Beigeladene Beschwerde eingelegt und beruft sich auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und einer Abweichung des LSG vom BSG 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG ).

II

Die Beschwerde der Beigeladenen gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG ist als unzulässig zu verwerfen 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 SGG ).

Nach § 160 Abs 2 SGG ist die Revision ua zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1) oder die Entscheidung des LSG von einer Entscheidung des BSG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr 2). Beide vorliegend geltend gemachten Zulassungsgründe hat die Beigeladene in der Begründung der Beschwerde nicht schlüssig dargelegt oder bezeichnet 160a Abs 2 Satz 3 SGG ). Eine allgemeine Überprüfung des Rechtsstreits in dem Sinne, ob das LSG in der Sache "richtig" entschieden hat, erfolgt im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nicht.

1. Die Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache 160 Abs 2 Nr 1 SGG ) erfordert die Formulierung einer bestimmten abstrakten Rechtsfrage, der in dem Rechtsstreit eine grundsätzliche, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung beigemessen wird (vgl BSG vom 22.8.1975 - 11 BA 8/75 - BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11). Die abstrakte Rechtsfrage ist klar zu formulieren, um an ihr die weiteren Voraussetzungen für die Revisionszulassung nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG prüfen zu können (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 7. Aufl 2016, IX. Kap, RdNr 181). Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ist gegeben, wenn zu erwarten ist, dass die Revisionsentscheidung die Rechtseinheit in ihrem Bestand erhalten oder die Weiterentwicklung des Rechts fördern wird. Daher ist aufzuzeigen, ob und inwieweit zu der aufgeworfenen Frage bereits Rechtsgrundsätze herausgearbeitet worden sind und in welchem Rahmen noch eine weitere Ausgestaltung, Erweiterung oder Änderung derselben durch das Revisionsgericht zur Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits erforderlich erscheint (vgl Krasney/Udsching, aaO, IX. Kap, RdNr 65 f). Es ist aufzuzeigen, dass die Klärung der Rechtsfrage im allgemeinen Interesse erforderlich (Klärungsbedürftigkeit) und die Klärung durch das Revisionsgericht zu erwarten (Klärungsfähigkeit) ist (vgl BSG vom 16.12.1993 - 7 BAr 126/93 - SozR 3-1500 § Nr 16). Hierfür ist eine substantielle Auseinandersetzung mit den einschlägigen oberstgerichtlichen Entscheidungen ebenso erforderlich wie die Darlegung, dass sich aus diesen keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Beantwortung der aufgeworfenen Rechtsfrage ergeben (vgl BSG vom 21.1.1993 - 13 BJ 207/92 - SozR 3-1500 § Nr 8).

Diesen Darlegungsanforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Als grundsätzlich klärungsbedürftig erachtet sie die Fragen:

"Erfolgt die Verlegung einer beatmungspflichtigen Versicherten in ein anderes Krankenhaus auch dann alleine aus zwingenden medizinischen Gründen, wenn sie aus organisatorischen Gründen (hier: Erschöpfung der Kapazität der vom Krankenhaus vorgehaltenen Intensivbetten mit Beatmungsfunktion) erfolgt?" (Frage 1)

"Hat das Krankenhaus innerhalb seines Versorgungsauftrags eine Behandlungspflicht und muss daher Versicherte, welche es aufnimmt, entweder weiterbehandeln oder auf seine Kosten, d.h. nicht auf Kosten der Krankenkasse, verlegen, wenn seine Behandlungskapazitäten erschöpft sind?" (Frage 2)

"Stellt die Falschmeldung vorhandener Kapazitäten bzw. Nichtmeldung des Ausschöpfens der Behandlungskapazitäten durch das Krankenhaus an die Rettungsleitstelle ein rechtmissbräuchliches Verhalten des Krankenhauses dar, welche die Kostenpflicht der Krankenkasse aus § 60 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Alt. 1 SGB V ausschließt?" (Frage 3)

"Ist die Krankenkasse verpflichtet, einen Krankentransport nach § 60 Abs 2 Nr 1 SGB V auch dann zu bezahlen, wenn die medizinische Notwendigkeit des Krankentransports auf dem Verordnungsblatt nicht vollständig und nachvollziehbar begründet worden ist?" (Frage 4)

Diese Fragen sind zum einen ganz auf den vorliegend vom LSG entschiedenen Einzelfall zugeschnitten. Sie enthalten zum anderen Sachverhaltsannahmen oder Sachverhaltswürdigungen und deren rechtliche Bewertung durch die Beigeladene, die mit den tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht übereinstimmen; die Beurteilung, ob grundsätzliche Bedeutung vorliegt, hat indes auf der Tatsachengrundlage des LSG zu erfolgen (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig ua, SGG , 13. Aufl 2020, § 160 RdNr 9f und § RdNr 14j).

Hinzu kommt für Frage 1, dass die Beschwerdebegründung dem LSG vorhält, es habe das Merkmal "aus zwingenden medizinischen Gründen" in § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 1 Halbsatz 2 Alt 1 SGB V "falsch ausgelegt". Allein mit ihrer vom LSG abweichenden Rechtsauffassung vermag die Beigeladene indes nicht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache zu begründen. Zudem enthält die Beschwerdebegründung keine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BSG , auf die das LSG sich für seine Rechtsauffassung gestützt hat ( BSG vom 21.2.2002 - B 3 KR 4/01 R - SozR 3-2500 § 60 Nr 6; BSG vom 2.11.2007 - B 1 KR 11/07 R - SozR 4-2500 § 60 Nr 3).

Für Frage 2 kommt hinzu, dass sich diese abstrakt bereits durch § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 1 Halbsatz 2 Alt 1 SGB V beantworten lässt, der Verlegungsfahrten zwischen Krankenhäusern zulasten der Krankenkassen regelt, ohne von dem in der Frage formulierten Entweder-Oder- Verhältnis auszugehen. Soweit die Beschwerdebegründung dem LSG vorhält, dessen Rechtsauffassung sei mit Blick auf § 109 Abs 4 Satz 2 SGB V "schlicht falsch", folgt nicht bereits daraus eine klärungsbedürftige Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung, dass die Beigeladene ihre vom LSG abweichende Rechtsauffassung darlegt.

Auch mit Bezug auf Frage 3 hält die Beschwerdebegründung dem LSG vor, "falsch" und "unzutreffend" entschieden zu haben, und legt die abweichende Rechtsauffassung der Beigeladenen dar. Es fehlen zudem nähere Darlegungen dazu, dass diese Frage in einem Revisionsverfahren klärungsfähig und entscheidungserheblich sein kann, obwohl das LSG auf der Grundlage seiner Feststellungen bereits eine Pflichtverletzung der Beklagten nach Maßgabe landesrechtlicher Vorschriften abgelehnt hat. Die Beschwerdebegründung lässt im Übrigen nicht genügend erkennen, dass und warum eine etwaige Verletzung landesrechtlicher Vorschriften zum Rettungsdienst zum Ausschluss der bundesrechtlichen Kostenübernahmepflicht nach § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 1 Halbsatz 2 Alt 1 SGB V führen sollte.

Die Beschwerdebegründung zu Frage 4 schließlich legt nicht hinreichend dar, warum diese als abstrakte Frage durch die von der Beigeladenen angeführte Entscheidung des BSG ( BSG vom 12.9.2012 - B 3 KR 17/11 R - juris) noch nicht geklärt sei. Letztlich greift auch insoweit die Beigeladene ausgehend von ihrer Sachverhaltswürdigung und Rechtsauffassung nur ihre durch das LSG bestätigte Verurteilung im konkreten Einzelfall an.

2. Für die Bezeichnung einer Abweichung (Divergenz) ist aufzuzeigen, mit welchem genau bezeichneten entscheidungserheblichen abstrakten Rechtssatz die angefochtene Entscheidung des LSG von welchem ebenfalls genau bezeichneten entscheidungserheblichen abstrakten Rechtssatz des BSG im Grundsätzlichen abweicht. Eine Abweichung liegt nicht schon vor, wenn die angefochtene Entscheidung nicht den Kriterien entsprechen sollte, die das BSG aufgestellt hat, weil die Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall nicht die Zulassung einer Revision wegen Abweichung rechtfertigt. Erforderlich ist vielmehr, dass das LSG diesen Kriterien widersprochen und über den Einzelfall hinausgehende andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Nicht die - behauptete - Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die fehlende Übereinstimmung im Grundsätzlichen vermag die Zulassung der Revision wegen Abweichung zu begründen. Die Beschwerdebegründung muss deshalb erkennen lassen, dass das LSG dem BSG im Grundsätzlichen widersprochen und von den bezeichneten rechtlichen Aussagen des BSG abweichende, dh mit diesen unvereinbare eigene rechtliche Maßstäbe entwickelt hat (vgl zB BSG vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34; Krasney/Udsching, aaO, IX. Kap, RdNr 196 mwN).

Diese Voraussetzungen erfüllt die Beschwerdebegründung nicht, weil Rechtssätze des LSG, mit denen es eigene rechtliche Maßstäbe entwickelt und dem BSG widersprochen hat, nicht bezeichnet werden. Die Begründung lässt schon nicht erkennen, dass das LSG den unbestimmten Rechtsbegriff der zwingenden medizinischen Gründe in § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 1 Halbsatz 2 Alt 1 SGB V überhaupt im Sinne der von der Beigeladenen bezeichneten Entscheidung des BSG ( BSG vom 18.11.2014 - B 1 KR 8/13 R - SozR 4-2500 § 60 Nr 7 RdNr 24) erweiternd - und nicht nur schlicht ausgelegt und konkret - angewendet hat. Hinzu kommt, dass das LSG nicht von einem abstrakten Rechtssatz des BSG im Grundsätzlichen abgewichen sein kann, wenn die Auslegungsfrage zugleich mit der ersten Grundsatzrüge der Beigeladenen als noch nicht geklärt geltend gemacht wird.

3. Die Verwerfung der unzulässigen Beschwerde erfolgt in entsprechender Anwendung des § 169 Satz 3 SGG ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG ).

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO .

6. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 47 Abs 1 und 3 , § 52 Abs 1 GKG .

Vorinstanz: LSG Niedersachsen-Bremen, vom 19.11.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 4 KR 77/17
Vorinstanz: SG Hannover, vom 23.01.2017 - Vorinstanzaktenzeichen S 10 KR 429/14