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BVerfG - Entscheidung vom 13.09.2019

1 BvR 1/16

Fundstellen:
AP TVG § 2 Tariffähigkeit Nr. 11
ArbRB 2019, 364
AuR 2020, 39
DÖV 2020, 154
EzA TVG § 2 Nr. 36
EzA-SD 2019, 12
NJW 2020, 459
NZA 2019, 1649
ZIP 2020, 43

BVerfG, Beschluss vom 13.09.2019 - Aktenzeichen 1 BvR 1/16

DRsp Nr. 2019/16903

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine arbeitsgerichtliche Entscheidung zur Tariffähigkeit einer Arbeitnehmerkoalition. Die Beschwerdeführerin ist eine Vereinigung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der privaten Versicherungsbranche. Auf Antrag einer mit ihr konkurrierenden Koalition stellte das Landesarbeitsgericht fest, dass die Beschwerdeführerin keine tariffähige Gewerkschaft im Sinne des § 2 Abs. 1 TVG sei. Sie verfüge nicht über die erforderliche Durchsetzungskraft. Für die einzelfallbezogene Beurteilung der Mächtigkeit und Leistungsfähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung komme neben deren vergangener Teilnahme am Tarifgeschehen ihrer Mitgliederzahl eine entscheidende Bedeutung zu. Wenn eine junge Gewerkschaft noch nicht am Tarifgeschehen teilgenommen habe, sei ihre Durchsetzungskraft und Mächtigkeit prognostisch zu beurteilen. Aus dem Vortrag der Beschwerdeführerin zu ihren Aktivitäten ergebe sich keine tragfähige Prognose für die Fähigkeit, Tarifverhandlungen und Tarifabschlüsse für die Versicherungswirtschaft zu erzwingen. Aus ihren Darlegungen ließe sich mathematisch ein Organisationsgrad von mindestens 0,05 % und höchstens 0,5 % ableiten.

Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von Art. 9 Abs. 3 GG sowie Art. 103 Abs. 1 GG . Die angegriffene Entscheidung ließe Fehler erkennen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und Tragweite des Art. 9 Abs. 3 GG beruhten. Das Erfordernis der "sozialen Mächtigkeit" sei als Voraussetzung für die Tariffähigkeit von Vereinigungen nicht unerlässlich, um die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems zu gewährleisten. Jedenfalls dürfe das Merkmal nicht zu restriktiv gehandhabt werden. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass jungen Gewerkschaften durch die Einführung des Tarifeinheitsgesetzes der Abschluss von Tarifverträgen ohnehin erschwert worden sei. § 97 Abs. 2 ArbGG verstoße insbesondere gegen Art. 103 Abs. 1 GG , da es der Beschwerdeführerin aufgrund der zeitlichen Kürze des auf eine Tatsacheninstanz beschränkten Verfahrens abgeschnitten sei, ihre eigene Entwicklung über einen längeren Zeitraum zu dokumentieren und in das Verfahren einzubringen. Dies sei durch das allgemeine Interesse an einer Beschleunigung der Statusverfahren nicht zu rechtfertigen.

II.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Sache hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung; auch ist eine Annahme nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 BVerfGG ). Sie ist teilweise unzulässig und im Übrigen unbegründet.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist mangels einer den Anforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG genügenden Begründung unzulässig, soweit die Beschwerdeführerin der Sache nach einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG rügt und sich insoweit mittelbar gegen § 97 Abs. 2 ArbGG wendet.

Die grundgesetzliche Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes sichert den Zugang zu den Gerichten, die Prüfung des Streitbegehrens in einem förmlichen Verfahren sowie die verbindliche gerichtliche Entscheidung. Das Grundgesetz sichert rechtliches Gehör im gerichtlichen Verfahren durch das Verfahrensgrundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG . Garantiert ist den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können. Insbesondere sichert das Verfahrensgrundrecht, dass sie mit Ausführungen und Anträgen gehört werden (vgl. BVerfGE 108, 341 <347 f.>). Die Garantie einer gerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeit gegen behauptete Rechtsverletzungen eröffnet jedoch keinen unbegrenzten Rechtsweg. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, unter Abwägung und Ausgleich der verschiedenen betroffenen Interessen zu entscheiden, ob es bei einer Instanz bleiben soll oder ob mehrere Instanzen bereitgestellt werden und unter welchen Voraussetzungen sie angerufen werden können (vgl. BVerfGE 107, 395 <401 f.>). Ein Instanzenzug ist von Verfassungs wegen nicht garantiert (vgl. BVerfGE 42, 243 <248>; 54, 277 <291>; 104, 220 <231>).

Davon ausgehend ist ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG nicht erkennbar. Die Beschwerdeführerin rügt, dass die in § 97 Abs. 2 ArbGG vorgesehene Beschränkung des Statusfeststellungsverfahrens auf eine Tatsacheninstanz die Entwicklungsmöglichkeiten einer Koalition noch während des laufenden Verfahrens verkürze. Ihre Darlegungsmöglichkeiten würden unter Verletzung des Grundsatzes rechtlichen Gehörs eingeschränkt. Jedoch wird die Hoffnung Beteiligter auf eine Veränderung der Tatsachenlage zu eigenen Gunsten während eines laufenden Statusfeststellungsverfahrens durch Art. 103 Abs. 1 GG offensichtlich nicht geschützt. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die materielle Rechtskraft der im Verfahren nach § 97 Abs. 5 ArbGG getroffenen Entscheidung nur bis zu einer wesentlichen Änderung der entscheidungserheblichen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse wirkt (vgl. BAG, Beschluss vom 23. Mai 2012 - 1 AZB 58/11 -, juris, Rn. 10). Die Tariffähigkeit einer Vereinigung kann auch nach einer rechtskräftigen Entscheidung bei einer wesentlichen Veränderung der relevanten Tatsachen erneut auf den Prüfstand gestellt werden.

2. Die Rechte der Beschwerdeführerin aus Art. 9 Abs. 3 GG sind weder durch die angegriffene Entscheidung noch durch das angegriffene Gesetz verletzt.

a) Weder das Grundgesetz noch das Tarifvertragsgesetz regeln ausdrücklich, wann eine Arbeitnehmerkoalition als Gewerkschaft anzusehen ist. Solange der Gesetzgeber auf die Normierung der Voraussetzungen für die Gewerkschaftseigenschaft und die Tariffähigkeit im Einzelnen verzichtet, sind daher die Gerichte der Arbeitsgerichtsbarkeit befugt, die Voraussetzungen für die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmerkoalition im Wege der Auslegung des Tarifvertragsgesetzes im Lichte des Art. 9 Abs. 3 GG näher zu umschreiben (vgl. BVerfGE 58, 233 <248>).

In der Sache ist es mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit vereinbar, nur solche Koalitionen an der Tarifautonomie teilnehmen zu lassen, die in der Lage sind, den von der staatlichen Rechtsordnung freigelassenen Raum des Arbeitslebens durch Tarifverträge sinnvoll zu gestalten, um so die Gemeinschaft sozial zu befrieden (vgl. BVerfGE 58, 233 <248>; 100, 214 <223>; siehe auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 31. Juli 2007 - 2 BvR 1831/06 u.a. -, Rn. 6). Die Anforderung der Tariffähigkeit stellt insoweit sicher, dass nicht jede Splittervereinigung Tarifverträge erkämpfen und abschließen kann, da nur diejenige Vereinigung als tariffähig anzusehen ist, die ein Mindestmaß an Verhandlungsgewicht und also eine gewisse Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler aufweist (vgl. BVerfGE 58, 233 <248 f.>; 100, 214 <223>; 146, 71 <127 f.>). Durchsetzungsschwache Gewerkschaften werden durch diese Anforderung zwar aus dem Tarifgeschehen verdrängt (vgl. BVerfGE 146, 71 <128>). Es dürfen dabei aber keine Anforderungen an die Tariffähigkeit gestellt werden, die erheblich auf die Bildung und Betätigung einer Koalition zurückwirken, diese unverhältnismäßig einschränken und so zur Aushöhlung der durch Art. 9 Abs. 3 GG gesicherten freien Koalitionsbildung und -betätigung führen (vgl. BVerfGE 58, 233 <249>).

Weder das Tarifeinheitsgesetz noch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes führen dazu, dass das Bedürfnis entfällt, zum Schutze der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie Mindestanforderungen an die Durchsetzungsfähigkeit von Gewerkschaften zu stellen. Der neue § 4a TVG gestaltet nicht das Verhältnis der sozialen Gegenspieler als Tarifvertragsparteien zueinander, sondern das der tariffähigen Arbeitnehmervereinigungen untereinander (vgl. BAG, Beschluss vom 26. Juni 2018 - 1 ABR 37/16 -, juris, Rn. 67). Auch unter der neuen Rechtslage bleiben zudem Tarifpluralitäten im Betrieb möglich. Der gesetzliche Mindestlohn zielt im Unterschied zum Tarifvertrag im Übrigen nicht darauf ab, einen umfassenden Schutz der Beschäftigten sicherzustellen (vgl. BTDrucks 18/1558, S. 28).

b) Ausgehend von diesen Grundsätzen wird Art. 9 Abs. 3 GG durch die angegriffene Entscheidung nicht verletzt. Das Landesarbeitsgericht ist in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gekommen, dass die Beschwerdeführerin keine tariffähige Gewerkschaft im Sinne des § 2 Abs. 1 TVG ist.

Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass das Landesarbeitsgericht zur Beurteilung der sozialen Mächtigkeit maßgeblich auf die Anzahl und Zusammensetzung der Mitglieder der Beschwerdeführerin abgestellt hat. Ohne eine gewisse Geschlossenheit der Organisation und Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler wäre eine Arbeitnehmervereinigung vom guten Willen der Arbeitgeberseite und anderer Arbeitnehmerkoalitionen abhängig und könnte den Aufgaben der Tarifautonomie nicht gerecht werden (vgl. BVerfGE 58, 233 <249>; 100, 214 <223>); von der Mitgliederzahl einer Koalition hängt ihre Verhandlungsstärke ab (vgl. BVerfGE 93, 352 <358>). Die Zahl der organisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bestimmt die finanzielle Ausstattung einer Koalition und deren organisatorische Leistungsfähigkeit; sie ist somit entscheidend dafür, ob sie in der Lage ist, die mit dem Abschluss von Tarifverträgen verbundenen finanziellen und personellen Lasten zu tragen. Vor allem aber gibt die Mitgliederzahl im selbst gewählten fachlichen und räumlichen Zuständigkeitsbereich Aufschluss darüber, ob eine Arbeitnehmervereinigung hinreichenden Druck auf den sozialen Gegenspieler aufbauen kann, um Verhandlungen über den Abschluss eines Tarifvertrags zu erzwingen (vgl. BAG, Beschluss vom 5. Oktober 2010 - 1 ABR 88/09 -, juris, Rn. 39).

Dass die Beurteilung der Durchsetzungsfähigkeit von Koalitionen maßgeblich anhand der Anzahl und Zusammensetzung ihrer Mitglieder dazu führt, dass Koalitionen im Verfahren nach § 97 ArbGG prozessuale Nachteile entstehen können, wenn sie ihre Mitgliederstärke nicht offenlegen, begegnet keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Mit Rücksicht auf die in Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Parität zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber ist die Offenlegung der Mitgliederstärke einer Koalition im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren zwar möglichst zu vermeiden. Wenn dies jedoch nicht in allen Fällen gelingt, erscheint das mit Blick auf das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie insgesamt hier zumutbar (vgl. zum Verfahren nach § 99 ArbGG BVerfGE 146, 71 <140 f.>).

Vorliegend konnte das erkennende Gericht aufgrund des festgestellten Sachverhalts nicht gesichert davon ausgehen, dass die Beschwerdeführerin über einen Organisationsgrad von mehr als 0,05 % verfügte. Die Annahme, dass sich aus dieser Mitgliederstärke und auch unter Berücksichtigung der Zusammensetzung keine hinreichende Durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem sozialen Gegenspieler ergibt, die im Sinne der Richtigkeitsvermutung von Tarifverträgen ausgewogene Verhandlungsergebnisse zumindest ermöglicht, ist nachvollziehbar. Das Fachgericht stellt damit keine - unabhängig vom allgemeinen Organisationsgrad innerhalb der in Rede stehenden Branche - Anforderungen, die unter Berücksichtigung der grundrechtlich gewährleisteten Koalitionsfreiheit unangemessen auf die Bildung und Betätigung einer Koalition zurückwirken.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Fundstellen
AP TVG § 2 Tariffähigkeit Nr. 11
ArbRB 2019, 364
AuR 2020, 39
DÖV 2020, 154
EzA TVG § 2 Nr. 36
EzA-SD 2019, 12
NJW 2020, 459
NZA 2019, 1649
ZIP 2020, 43