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BGH - Entscheidung vom 26.04.2017

5 StR 445/16

Normen:
StPO § 261
StPO § 344 Abs. 2 S. 2
StGB § 176 Abs. 4 Nr. 4

BGH, Urteil vom 26.04.2017 - Aktenzeichen 5 StR 445/16

DRsp Nr. 2017/6347

Pflicht des Gerichts zur Würdigung des Verfahrensstoffs als Ausschöpfungsgebot; Auswertung des Mobiltelefons hinsichtlich Speicherung von pornographischen Videos; Verdacht des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern

Ein Freispruch hinsichtlich des Vorwurfs des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und Schutzbefohlenen kann nicht aufrechterhalten werden, wenn das Kind mehrfach ausgesagt hat, dass der Angeklagte ihm im Rahmen der ihm vorgeworfenen Taten Videos über Oralverkehr auf dem Mobiltelefon gezeigt hat, das Gericht es aber unterlassen hat, sich mit der Auswertung des Mobiltelefons auseinanderzusetzen. Bei dem Vorhandensein pornographischer Videos auf dem Mobiltelefon des Angeklagten handelt es sich nicht um eine unbedeutende Indiztatsache.

Tenor

Auf die Revision der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 7. März 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Normenkette:

StPO § 261 ; StPO § 344 Abs. 2 S. 2; StGB § 176 Abs. 4 Nr. 4 ;

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen vom Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und in einem Fall in weiterer Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern, freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Nebenklägerin mit ihrer auf Verfahrensbeanstandungen sowie die Sachrüge gestützten Revision. Das vom Generalbundesanwalt hinsichtlich der Sachrüge vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Dem Angeklagten wird zur Last gelegt, seine damals sechsjährige Stieftochter L. in den Wochen vor dem 20. November 2013 in fünf Fällen in ihrem Zimmer bzw. im Keller des von ihnen bewohnten Hauses dazu gebracht zu haben, an ihm den Oralverkehr zu vollziehen. Im Zusammenhang mit einer dieser Taten soll der Angeklagte der Nebenklägerin auch Videos mit pornographischem Inhalt, insbesondere Oralverkehr, gezeigt haben.

2. Die Jugendkammer hat sich nicht davon zu überzeugen vermocht, dass der Angeklagte die ihm zur Last gelegten Taten begangen hat.

a) Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen äußerte die Nebenklägerin gegenüber ihrer Mutter am 19. November 2013, nachdem diese die Anwesenheit eines Mannes in der Wohnung als „großes Geheimnis“ bezeichnet hat, dass auch sie ein „großes Geheimnis“ habe. Ihr „Papa“, als solchen bezeichnete sie den Angeklagten, habe ihr aber aufgegeben, davon nichts zu sagen. Auf Nachfrage ihrer Mutter erzählte L. , dass ihr „Papa“ sie vor kurzem in ihrem Zimmer sowie im Keller gefragt habe, ob sie seinen Penis sehen wolle; dann habe er seine Hose ausgezogen. Anschließend habe L. sich die Hand vor den Mund gehalten, den Kopf vor- und zurückbewegt und erzählt, dass sie dies gemacht habe. „Papa“ habe ihr zudem Videos gezeigt, „wie das gehe“. Bei einer dieser Gelegenheiten habe ihre Mutter einen Elternabend besucht.

Nachdem die Mutter der Nebenklägerin ihre Familienhelferin davon informiert hatte, dass der Angeklagte ihre Tochter sexuell missbraucht habe, wurde L. am 21. November 2013 von einem Polizeibeamten vernommen. In dieser audiovisuell aufgezeichneten Vernehmung gab die Nebenklägerin, die zunächst nichts zu den Tatvorwürfen sagen wollte, an, sie habe beim Angeklagten mehrfach den Oralverkehr ausgeführt. Das erste Mal sei in ihrem Zimmer gewesen; im Keller habe sie zum ersten Mal den Penis des Angeklagten mit einer Art Damenstrumpf bedeckt. Zudem habe der Angeklagte ihr auf seinem Handy ein Video gezeigt, in dem eine Frau bei einem Mann das getan habe, was sie beim Angeklagten gemacht habe.

Bei der ebenfalls audiovisuell aufgezeichneten ermittlungsrichterlichen Vernehmung mehr als acht Monate später schilderte die Nebenklägerin in Anwesenheit der aussagepsychologischen Sachverständigen unter anderem, dass sie zwei- bis fünfmal den Oralverkehr am Angeklagten ausgeführt habe; sie glaube, dass es ein- oder zweimal im Keller und drei Mal in ihrem Zimmer gewesen sei. Der Angeklagte habe ihr in diesem Zusammenhang Videos gezeigt, in denen eine Frau an einem Mann den Oralverkehr ausgeführt habe. In einem Fall habe der Angeklagte auch eine Art Strumpf über seinen Penis gehabt.

b) Entgegen der Ansicht der Sachverständigen, die ausgeführt hat, dass aus aussagepsychologischer Sicht hinsichtlich dreier Fälle des Oralverkehrs „wahrscheinlich“ von einem tatsächlichen Erlebnishintergrund auszugehen sei, ist das Landgericht zu der Einschätzung gelangt, dass die Angaben der Nebenklägerin, die in der Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, aber die Verwertung ihrer früheren Angaben gestattet hat, „nicht geeignet“ seien, die Tatvorwürfe zu beweisen. Zwar bestünden kein Falschbelastungsmotiv und keine Belastungstendenz; auch sei „das von der Nebenklägerin geschilderte Geschehen in eine konkrete Lebenssituation eingebettet und in sich stimmig“ und es bestünden „keine Anhaltspunkte dafür ..., dass die sexuell noch nicht aufgeklärte Nebenklägerin das geschilderte Geschehen erfunden hat“. Insbesondere angesichts der „sehr geringen“ Komplexität und Qualität der Angaben der Nebenklägerin, der schwankenden Häufigkeitsangaben sowie einer Aussageerweiterung könne in der hier vorliegenden „Aussage-gegen-Aussage-Konstellation“ aber nicht ausgeschlossen werden, „dass die Nebenklägerin Gesehenes als Erlebtes berichtet“ habe, zumal der Beweiswert der früheren Aussagen der Nebenklägerin angesichts der nicht möglichen konfrontativen Befragung gegenüber einer unmittelbaren Aussage in der Hauptverhandlung wesentlich geringer sei und „kaum jemals eine Verurteilung auf eine solche Aussage allein wird gestützt werden können“.

II.

1. Die Revision der Nebenklägerin hat bereits mit der Verfahrensrüge Erfolg, mit der sie die Verletzung von § 261 StPO beanstandet. Das Landgericht hat sich durch das Unterlassen der Erörterung in die Hauptverhandlung eingeführter Beweiserkenntnisse zu pornographischen Videodateien auf dem Mobiltelefon des Angeklagten nicht mit allen erhobenen Beweisen auseinandergesetzt und daher seine Überzeugung nicht aus dem vollständigen Inhalt der Beweisaufnahme geschöpft.

a) Die Verfahrensbeanstandung ist den Darlegungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechend erhoben. Denn die den geltend gemachten Verfahrensmangel enthaltenden Tatsachen sind bereits der Revisionsbegründungsschrift selbst zu entnehmen und ihr mithin nicht lediglich als Anlage beigefügt (vgl. BGH, Beschluss vom 21. März 2006 – 4 StR 110/05 mwN). Insbesondere teilt die Revisionsbegründung – zutreffend – mit, dass das IT-Gutachten über die Verwertung des Handys des Angeklagten in der Hauptverhandlung verlesen wurde, wonach sich auf diesem 104 Bilder und neun Videos mit pornographischem Inhalt befanden, von denen einige „Oralverkehr, jedoch zwischen erwachsenen Personen“ zeigen. Der Mitteilung weiterer Einzelheiten bedurfte es nicht.

b) Die Rüge ist auch begründet.

aa) Aus dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO ) folgt mit dem Ausschöpfungsgebot die Verpflichtung des erkennenden Gerichts, den gesamten beigebrachten Verfahrensstoff erschöpfend zu würdigen. In den schriftlichen Urteilsgründen muss es dies – auch bei freisprechenden Urteilen – erkennen lassen. Umstände, die geeignet sind, die gerichtliche Entscheidung wesentlich zu beeinflussen, dürfen nicht stillschweigend übergangen werden, sondern müssen in eine umfassende Gesamtwürdigung einbezogen werden (BGH, Urteil vom 10. Juli 1980 – 4 StR 303/80, NJW 1980, 2423 f.; Beschluss vom 18. Juni 2008 – 2 StR 485/07, NStZ 2008, 705 , 706; LR-StPO/Sander, 26. Aufl., § 261 Rn. 14, 56 ff.).

bb) Dies zugrunde gelegt, hätte sich die Strafkammer in dem Urteil mit dem – dort nicht erwähnten – IT-Gutachten über die Auswertung des Mobiltelefons des Angeklagten auseinandersetzen müssen.

(1) Denn das Landgericht hat festgestellt, dass die Nebenklägerin konstant angegeben hatte, der Angeklagte habe ihr im unmittelbaren Zusammenhang mit den angeklagten Taten einen oder mehrere Videofilme vorgeführt, die zeigten, „wie das gehe“ bzw. wie „eine Frau sich hingekniet und am Penis gelutscht“ habe; diesen Film bzw. diese Filme habe er ihr auf seinem Handy vorgespielt.

(2) Es handelt sich bei dem Vorhandensein solcher pornographischer Videos auf dem Mobiltelefon des Angeklagten nicht um eine unbedeutende Indiztatsache, der letztlich in der Gesamtheit der Beweiswürdigung kein erhebliches Gewicht beizumessen wäre.

Zwar stützt die Strafkammer den Freispruch des Angeklagten (auch) darauf, dass nicht ausgeschlossen werden könne, „dass die Nebenklägerin Gesehenes als Erlebtes berichtet hat“ (UA S. 27), L. also „die Bewegungen erst gemacht hat, weil sie sie zuvor auf einem pornographischen Film gesehen hat“ (UA S. 24), und „sie Dinge, die sie eventuell auf einem Video gesehen hat, auf sich übertragen hat, um dem polizeilichen Erwartungsdruck gerecht zu werden“ (UA S. 25). Bei der Prüfung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin nimmt die Strafkammer aber nicht hinreichend deren objektive Bestätigung dahin in den Blick, dass auf dem Mobiltelefon des Angeklagten tatsächlich pornographische Videos gespeichert waren, die Oralverkehr zum Inhalt haben, und diese Filme für ein Vorspielen in der von der Nebenklägerin geschilderten Tatsituation tatsächlich zur Verfügung standen. Damit lässt die Jugendkammer ein Beweisergebnis außer Betracht, dessen Aussagekraft über das von ihr gleichsam unterstellte und nicht näher in den Kontext der vorgeworfenen Tathandlungen eingeordnete Ansehen pornographischer Filme durch die Nebenklägerin wesentlich hinausgeht.

(3) Vor diesem Hintergrund kann der Senat nicht ausschließen, dass das Tatgericht bei einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung unter Einbeziehung auch dieses Beweisergebnisses in die vorzunehmende Gesamtwürdigung die Überzeugung von einer Tatbegehung durch den Angeklagten gewonnen hätte. Hinzu kommt, dass das – vom Landgericht offen gelassene (UA S. 25: „eventuell“; UA S. 27: „ihr ein Video gezeigt haben soll“) – Vorspielen des Videos eine Straftat nach § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB darstellen könnte.

Von Rechts wegen

Vorinstanz: LG Saarbrücken, vom 07.03.2016