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BGH - Entscheidung vom 13.07.2017

V ZB 69/17

Normen:
FamFG § 422 Abs. 2
FamFG § 68 Abs. 3 S. 1
FamFG § 420 Abs. 1 S. 1
FamFG § 422 Abs. 2
FamFG § 68 Abs. 3 S. 1
FamFG § 420 Abs. 1 S. 1
FamFG § 68 Abs. 3 S. 1
FamFG § 417 Abs. 2
FamFG § 420 Abs. 1 S. 1
FamFG § 422 Abs. 2
AufenthG § 2 Abs. 14 Nr. 5
AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5

Fundstellen:
FGPrax 2017, 279
NVwZ 2017, 1640

BGH, Beschluss vom 13.07.2017 - Aktenzeichen V ZB 69/17

DRsp Nr. 2017/14403

Anordnung der sofortigen Wirksamkeit von Beschlüssen; Übertragung der Anhörung des Betroffenen auf ein Mitglied des Beschwerdegerichts; Haftanordnung zur Sicherung der Abschiebung

Die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit gemäß § 422 Abs. 2 FamFG muss sich eindeutig und unmissverständlich aus dem Haftanordnungsbeschluss ergeben. Hierfür ist es unerheblich, ob die Anordnung im Tenor enthalten ist oder ob sie sich den Gründen des Beschlusses entnehmen lässt. Eine Übertragung der Anhörung des Betroffenen gemäß § 420 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG auf ein Mitglied des Beschwerdegerichts scheidet aus, wenn es auf die Glaubwürdigkeit des Betroffenen und nicht nur auf die Glaubhaftigkeit seiner Aussage ankommt.

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Traunstein vom 16. Februar 2017 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Normenkette:

FamFG § 68 Abs. 3 S. 1; FamFG § 417 Abs. 2 ; FamFG § 420 Abs. 1 S. 1; FamFG § 422 Abs. 2 ; AufenthG § 2 Abs. 14 Nr. 5 ; AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 ;

Gründe

I.

Der Betroffene, ein algerischer Staatsangehöriger, reiste am 2. Dezember 2015 von Österreich kommend nach Deutschland ein. Die beteiligte Behörde beabsichtigte, den Betroffenen nach dem Rückübernahmeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Algerien dorthin abzuschieben. Auf ihren Antrag hat das Amtsgericht durch Beschluss vom 3. Dezember 2015 Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum 3. Mai 2016 angeordnet. Der Betroffene wurde am 4. Januar 2016 aus der Haft entlassen. Seine Beschwerde mit dem Ziel, die Rechtswidrigkeit der Haft festzustellen, hat das Beschwerdegericht zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die beteiligte Behörde beantragt.

II.

Das Beschwerdegericht bejaht die Rechtmäßigkeit der Haftanordnung. Der Haftantrag der beteiligten Behörde sei den Vorgaben des § 417 Abs. 2 FamFG entsprechend begründet worden. Es habe u.a. der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 , § 2 Abs. 14 Nr. 5 AufenthG vorgelegen. Dass der Beschluss des Amtsgerichts im Tenor nicht den Ausspruch über die sofortige Vollziehbarkeit enthalte, sei unschädlich, weil sich die Anordnung aus den Gründen des Beschlusses ergebe. Die Haftanordnung sei schließlich auch nicht deshalb rechtswidrig, weil die Abschiebung voraussichtlich nicht innerhalb von drei Monaten hätte durchgeführt werden können (§ 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG ). Dies habe nämlich der Betroffene zu vertreten, weil er ohne Reisepass eingereist sei. Seine Einlassung betreffend den Verlust des Reisepasses erachte die Kammer als nicht glaubwürdig. Bei der polizeilichen Vernehmung habe er noch angegeben, das Gepäck mit dem Pass auf der Reise nach Griechenland verloren zu haben. Bei der richterlichen Anhörung vor dem beauftragten Richter des Beschwerdegerichts habe er geschildert, dass das Boot wegen hoher Wellen in der Nacht 100 bis 200 m vor dem Ufer gekentert sei und er alles verloren habe. Wäre der Verlust des Gepäcks einschließlich des Ausweises so dramatisch gewesen, sei nicht nachvollziehbar, warum er dies nicht bereits bei der ausführlichen polizeilichen Vernehmung angegeben habe. Es sei davon auszugehen, dass der Betroffene den Pass bewusst entsorgt habe, um seine Identität zu verschleiern und eine schnelle Abschiebung nach Algerien zu verhindern.

III.

Die gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG mit dem Feststellungsantrag nach § 62 FamFG statthafte und auch im Übrigen (§ 71 FamFG ) zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

1. Das Beschwerdegericht geht zu Recht davon aus, dass der Haftanordnung ein zulässiger, den besonderen Begründungsanforderungen des § 417 Abs. 2 FamFG entsprechender Haftantrag zugrunde lag und jedenfalls der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 , § 2 Abs. 14 Nr. 5 AufenthG gegeben war. Die beteiligte Behörde hat auch den Beschleunigungsgrundsatz beachtet. Der Senat sieht insoweit von einer weiteren Begründung gemäß § 74 Abs. 7 FamFG ab.

2. Ohne Erfolg rügt der Betroffene, dass die Haft rechtswidrig gewesen sei, weil das Amtsgericht im Tenor des Haftanordnungsbeschlusses vom 3. Dezember 2015 nicht die sofortige Wirksamkeit der Haftanordnung gemäß § 422 Abs. 2 FamFG angeordnet habe und diese deshalb erst mit Rechtskraft wirksam geworden wäre (§ 422 Abs. 1 FamFG ). Richtig ist zwar, dass sich die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit eindeutig und unmissverständlich aus dem Haftanordnungsbeschluss ergeben muss (vgl. MüKoFamFG/Wendtland, 2. Aufl., § 422 Rn. 3; Prütting/Helms/Jennissen, FamFG , 3. Aufl., § 422 Rn. 5; Keidel/Budde, FamFG , 19. Aufl., § 422 , Rn. 4, die jeweils eine "ausdrückliche" Anordnung verlangen). Entgegen einer in der Literatur vereinzelt vertretenen Auffassung (vgl. Grotkopp in: Bahrenfuss, FamFG , 3. Aufl., § 422 Rn. 3) ist es hierfür aber unerheblich, ob die Anordnung im Tenor enthalten ist oder ob sie sich den Gründen des Beschlusses entnehmen lässt. Diese können zur Auslegung des Tenors herangezogen werden (vgl. Senat, Beschluss vom 7. April 2011 - V ZB 141/10, InfAuslR 2011, 30 Rn. 6). Hier bestehen an der Anordnung gemäß § 422 Abs. 2 FamFG keine Zweifel, weil es in den Gründen des Beschlusses des Amtsgerichts heißt, die "Anordnung der sofortigen Wirksamkeit gem. § 422 FamFG (sei) erforderlich, da sonst der Zweck der Maßnahme nicht erreicht würde".

3. Zutreffend ist auch die Auffassung des Beschwerdegerichts, der Haftanordnung habe § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG nicht entgegengestanden.

a) Nach dieser Vorschrift ist die Sicherungshaft unzulässig, wenn feststeht, dass aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann. Zu vertreten hat der Ausländer nicht nur solche Umstände, die für die Behebung des Abschiebungshindernisses von Bedeutung sein können, sondern auch Gründe, die - von ihm zurechenbar veranlasst - dazu geführt haben, dass ein Hindernis für seine Abschiebung überhaupt erst entstanden ist, etwa indem er seinen Pass weggegeben hat (vgl. Senat, Beschluss vom 25. März 2010 - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175 Rn. 20; Beschluss vom 19. Januar 2017 - V ZB 99/16, [...] Rn. 6).

b) Das Beschwerdegericht hat die Feststellung, der Betroffene habe den Pass bewusst entsorgt und damit die über drei Monate hinausgehende Haftdauer zu vertreten, verfahrensfehlerfrei getroffen. Die von der Rechtsbeschwerde insoweit erhobene Verfahrensrüge (§ 74 Abs. 3 Satz 3 FamFG ) ist nicht begründet.

aa) Das Beschwerdegericht durfte die Anhörung auf ein Mitglied der Kammer als beauftragten Richter übertragen.

(1) Nach § 68 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG ist die Anhörung des Betroffenen Aufgabe des "Gerichts." Wie diese Aufgabe innerhalb eines aus mehreren Richtern zusammengesetzten Spruchkörpers wahrzunehmen ist, bestimmt sich nach den Vorschriften über die Sachaufklärung (§ 26 FamFG ) und hier nach den Vorschriften über die Beweisaufnahme in den §§ 29 , 30 FamFG . Danach erhebt das Gericht die erforderlichen Beweise in geeigneter Form, wozu auch die Befassung eines Mitgliedes des Spruchkörpers als beauftragter Richter gehört. Nichts anderes ergibt sich, wenn man die Anhörung des Betroffenen als Fall einer im Sinne von § 30 Abs. 2 FamFG vorgeschriebenen förmlichen Beweisaufnahme ansieht. Eine förmliche Beweisaufnahme hätte gemäß § 30 Abs. 1 FamFG nach den Regeln der Zivilprozessordnung stattzufinden. Diese erlauben sowohl die Vernehmung von Zeugen als auch die Vernehmung von Parteien durch den beauftragten Richter (§ 375 ZPO und § 451 i.V.m. § 375 ZPO ). Voraussetzung ist allerdings (vgl. § 375 Abs. 1a ZPO ), dass dies zur Vereinfachung der Verhandlung zweckmäßig erscheint und dass von vornherein anzunehmen ist, dass das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß gewürdigt werden kann (Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 127/10, NVwZ 2010, 1318 Rn. 13 f.). Eine Übertragung der Anhörung des Betroffenen gemäß § 420 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG auf ein Mitglied des Beschwerdegerichts ist hiernach nicht zulässig, wenn es auf Glaubwürdigkeit des Betroffenen, d. h. auf seine Persönlichkeit, und nicht nur auf die Glaubhaftigkeit seiner Aussage ankommt (vgl. zu dieser Unterscheidung BGH, Urteil vom 13. März 1991 - IV ZR 74/90, NJW 1991, 3284 ). Eine sachgerechte Würdigung ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Anhörung scheidet in derartigen Fällen von vornherein aus (vgl. Zöller/Greger, ZPO , 31. Aufl., § 375 Rn. 1; PG/Trautwein, ZPO , 8. Aufl., § 375 Rn. 4; BeckOK ZPO/Scheuch, 24. Ed. Stand 1. März 2017, ZPO § 375 Rn. 2).

(2) Hier stand entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde im Zeitpunkt der Übertragung der Anhörung auf ein Mitglied der Beschwerdekammer nicht von vornherein fest, dass es auf die Glaubwürdigkeit des Betroffenen ankommen würde. Dies lässt sich insbesondere nicht aus dem vor der Anhörung erteilten Hinweis des Berichterstatters entnehmen, es erscheine fraglich, ob die Einlassung des Betroffenen, er habe sein Gepäck mit dem Pass verloren, widerlegt werden könne.

bb) Das Beschwerdegericht war auch nicht gehalten, die Anhörung in der Spruchbesetzung zu wiederholen. Zu einer solchen Wiederholung besteht zwar Veranlassung, wenn sich die im Zeitpunkt der Übertragung der Anhörung auf den Berichterstatter gestellte Prognose, dass auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Anhörung eine sachgerechte Würdigung des Beweisergebnisses möglich sein werde, beim Abfassen der Entscheidung im Nachhinein als unzutreffend herausstellt (vgl. BeckOK ZPO/Scheuch, 24. Ed. 1. März 2017, ZPO § 375 Rn. 2; Musielak/Voit/Huber, ZPO , 14. Aufl., § 375 Rn. 2). Dies ist hier aber nicht der Fall. Zwar hält das Beschwerdegericht die Einlassung des Betroffenen, er habe seinen Reisepass verloren, für "nicht glaubwürdig". Wie sich aus den weiteren Ausführungen aber ergibt, stellt es ausschließlich auf die unterschiedlichen Schilderungen des Verlustes des Reisepasses durch den Betroffenen bei der Polizei einerseits und im Rahmen der Anhörung vor dem beauftragten Richter andererseits ab. Damit zieht es der Sache nach die Glaubhaftigkeit der Aussage des Betroffenen in Zweifel. Für diese Beurteilung bedurfte es eines unmittelbaren Eindrucks von dem Verlauf der Anhörung nicht.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG , die Festsetzung des Gegenstandswerts auf § 36 Abs. 3 GNotKG .

Vorinstanz: AG Laufen, vom 03.12.2015 - Vorinstanzaktenzeichen XIV 39/15
Vorinstanz: LG Traunstein, vom 16.02.2017 - Vorinstanzaktenzeichen 4 T 4506/15
Fundstellen
FGPrax 2017, 279
NVwZ 2017, 1640